
8 minute read
Diese drängenden Fragen
44 |
Sie ist im Vorarlberger Oberland eine bekannte Persönlichkeit. In die ärztliche Praxis, die MR Dr. Jutta GnaigerRathmanner (70) über 30 Jahre lang in Feldkirch betrieben hat, kamen Menschen aus dem ganzen Land. Schnell hatte sich herumgesprochen, dass die 2015 mit dem Verdienstzeichen des Landes Vorarlberg ausgezeichnete Medizinerin bei Allergien, Schlafstörungen, chronischen Schmerzen und vielem mehr Hilfe leisten konnte. Als eine der ersten Homöopath*innen im Land wurde sie zur Pionierin. Darüber hat sie erstmals mit der marie gesprochen.
Advertisement
Text: Brigitta Soraperra, Foto: Cornelia Hefel
Jutta Gnaiger-Rathmanners beruflicher Werdegang ist eng mit ihrem Aufwachsen in einer außergewöhnlichen Situation verbunden. Sie sei ein typisches Nachkriegskind gewesen, sagt sie selbst. „Ich bin 1950 in dieses gesellschaftliche Vakuum hinein geboren, in dieses Zerschossen-Sein, das auch in die Werte der Seele Eingang gefunden hat.“ Dies habe in ihr schon früh die Frage nach dem Sinn des Lebens hervorgerufen. „Ich habe so drängende Fragen gehabt“, sagt die heute 70-Jährige, die zwischen Düns und Feldkirch aufgewachsen ist. Bereits als Zehnjährige habe sie darüber nachgedacht, was sie im Leben einmal machen wolle. „Ich habe mich gefragt, was ist das Wichtigste im Leben? Und bin zu dem Schluss gekommen: Der Mensch. Und dann habe ich mich gefragt, was braucht der Mensch am allerdringendsten, wo geht es ihm an die Substanz?“ Sie habe zunächst an die Feuerwehr und an die Polizei gedacht, bis ihr klar geworden sei: „Nein, das ist der Arzt, den braucht es am dringendsten.“ In diesem Moment sei ihr Weg vorgezeichnet gewesen, von ihm ist sie nie abgekommen.
Behütet und gefordert
In den späten 1960er Jahren ein Medizinstudium in Wien anzutreten war jedoch für eine junge Frau aus Vorarlberg alles andere als selbstverständlich. Ausschlaggebend war eine weitere prägende Kindheitserfahrung. Jutta Gnaiger war Tochter eines überzeugten und glückvollen Unternehmers und einer beruflich ebenfalls erfolgreichen Mutter: Adelheid Gnaiger, die in den 1930er Jahren eine der ersten Frauen war, die in Wien Architektur studierten und nach ihrer Rückkehr ins Land als erste Architektin und mit einem eigenen Büro in ihrer Heimatstadt Feldkirch die Nachkriegsarchitektur Vorarlbergs entscheidend prägte. Bekannt sind beispielsweise der Neubau der Sparkasse in Feldkirch oder das Gebäude der Arbeiterkammer sowie das Rathaus in Lustenau, alles Beispiele ihrer charakteristischen Architektursprache, die sich zwischen Moderne und Tradition bewegt. „Mein um zwei Jahre jüngerer Bruder und ich haben im Atelier der Mutter Hausaufgaben gemacht“, erinnert sich Gnaiger-Rathmanner, „oder wir wurden weggeschickt, weil Kunden kamen.“ Trotz einer nach außen intakten Familie mit gesicherten finanziellen Verhältnissen habe sie sich oft einsam gefühlt. „Ich bin als Kind sozusagen ein wenig rumgekugelt. Meine Mutter hat unterschätzt, dass ein Kind ein Eigenleben hat. Sie war voll berufstätig und hatte parallel zu ihrer Schwangerschaft und Mutterschaft den Großauftrag der Arbeiterkammer zu bewältigen.“ Dass die einzige Tochter einmal ein Studium absolvieren dürfe, stand nie in Frage. Für die wissbegierige, leicht lernende und den existentiellen Fragen weiterhin verbundene Jutta eröffneten sich in Wien neue Welten – aber auch einige Enttäuschungen.
Kritischer Geist
Für sie sei immer klar gewesen, dass sie einmal als praktische Ärztin arbeiten werde, motiviert von dieser „ganz naiven Vision, dass sich der Arzt um den ganzen Menschen kümmert und ihn begleitet“, aber „im Studium gab es hochkarätige Wissenschaft, doch über den Menschen hörst du gar nichts.“ Was zu ihrer Zeit aber sehr entscheidend gewesen sei, war der kritische Geist der 68er, der die Studierenden bewegte. „Wir sind nach den Vorlesungen zusammengesessen und haben uns gefragt: Glaubt ihr das, was der Herr Professor gesagt hat? Muss man das nicht ganz anders angehen?“ Diese Gespräche in der Cafeteria hätten sie genauso gebildet wie die Vorlesungen selbst. Und weil der naturwissenschaftliche Zugang alleine ihre Fragen nach dem Wesen des Menschseins nicht beantworten konnte, habe sie die Zeit in Wien auch dazu genutzt, „alles durchzuackern, was es gibt, wirklich alles.“ Moraltheologie, Heilpädagogik, Balint Gruppen, „die waren damals ganz neu. Ich habe die Lehrveranstaltungen von Erwin Ringel über Suizid besucht und auch Viktor Frankl noch live erlebt.“ Es kam aber der Moment, an dem sie ihr Studium aufgeben wollte, „weil dort meine Fragen nicht beantwortet worden sind. Es war zwar interessant, die Professoren, die Übungen, das Mikroskopieren, das Sezieren, es war toll, aber herauszufinden, dass sie Patienten mit chronischen Beschwerden oft nicht heilen konnten, war meine große Enttäuschung.“
Es geht ums Ganze
Letztlich kam ihr zugute, dass sie zur Zeit der Ära Bruno Kreisky studierte. Der langjährige sozialdemokratische Bundeskanzler war ein Förderer der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und ermöglichte zusammen mit Hertha Firnberg, der ersten Wissenschaftsministerin
„Ich habe mich gefragt, was ist das Wichtigste im Leben? Und ich bin zu dem Schluss gekommen: Der Mensch. Im Studium gab es hochkarätige Wissenschaft, doch über den Menschen hörst du gar nichts.“
Österreichs, die außeruniversitäre Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft. „Dort bekamen viele neue Fächer, besonders aus der Medizin, ihren Platz“, erklärt die seit sechs Jahren pensionierte Ärztin. „Altersforschung, Akupunktur, alle alternativmedizinischen Richtungen haben darin ein eigenes Institut bekommen“. Und dort begegnete sie auch ihrem wichtigsten Lehrmeister, Dr. Mathias Dorcsi, der 1973 die „Wiener Schule der Homöopathie“ begründete. „Dorcsi war Facharzt für physikalische Medizin an einer Klinik und führte zudem eine erfolgreiche, auf Homöopathie ausgerichtete Praxis in der Mariahilfer Straße. Ziel für ihn war, beides zu verbinden.“ Bei ihm fand die zweifelnde Studentin endlich Antworten. „Dorcsi hat uns gelehrt, weit über Faktisches hinauszuschauen, er hat die Patienten als seelisch-körperliche Gesamtheit betrachtet und uns beigebracht, ihre jeweilige Konstitution zu ‚lesen‘.“ Gemeint ist damit der unsichtbare „Energiekörper oder ätherische Leib“, der im Zentrum des homöopathischen Behandlungsansatzes steht, „in ihm sitzen die Lebenskräfte, er ist immateriell, völlig unbewusst, dem ES aus Freuds Tiefenpsychologiekonzept vergleichbar“, erklärt Gnaiger-Rathmanner. Aber ihn klammere die Naturwissenschaft völlig aus. „Die Schulmedizin mit ihrer Diagnostik und ihren Medikamenten bewegt sich rein im materiellen Bereich.“ Nicht ohne Nebenwirkungen
Die junge Studentin wird zu Dorcsis eifrigster Schülerin, später auch zu einer seiner wichtigsten Referentinnen, die er zu internationalen Kongressen entsandte – allerdings nicht ohne Nebenwirkungen. „Mit der Homöopathie habe ich meine Methode gefunden, aha, so muss man an den Menschen rangehen, das ist meine Medizin, und dann ist aber mein Weltbild kollabiert.“ Die 70-Jährige erzählt, dass sie seit früher Kindheit gläubig war, die Frage nach dem Sinn des Lebens habe sie Gott nahegebracht, geprägt auch vom römisch-katholischen Umfeld, in dem sie aufgewachsen ist. Aber nun „hat das Katholische nicht mehr gehalten“, gesteht sie, „weil es sich um die Natur nicht gekümmert hat.“ Die Homöopathie wiederum schöpfe aber genau „aus der Kongruenz von der Natur mit dem Menschen. Sie beruht darauf, dass die Schöpfung etwas mit uns zu tun hat, auf uns bezogen ist, und uns nicht nur Nahrung gibt und ein Haus, sondern auch die Heilmittel.“ Der berühmte Satz von Paracelsus „Für jede Krankheit ist ein Kraut gewachsen“ drücke genau das aus. Ihre damals entstandene Leerstelle im Glauben füllte dann die Begegnung mit der Anthroposophie und „deren klaren Begriffsbildungen aus. Dort habe ich Antworten auf meine Fragen bekommen.“ Später, zurück in Vorarlberg, gründete>>
| 45
46 |
sie sogar einen regelmäßigen Lesekreis, bei dem alle anthroposophischen Standardwerke „durchgeackert“ wurden, wie sie lachend erzählt.

Back to the Roots
Obwohl es der frisch gebackenen Ärztin nicht leichtgefallen ist, ihr kollegiales und pionierhaftes Umfeld in Wien zu verlassen, entschied sie sich nach Sponsion und vier Spitalsjahren sowie einem einjährigen Auslandsstipendium in Mexico-City für die Rückkehr nach Vorarlberg. 1982 eröffnete sie eine eigene Praxis mit Schwerpunkt Homöopathie in Feldkirch, später übersiedelte sie damit ins Büro ihrer mittlerweile pensionierten Mutter, wo sie bis 2014 praktizierte. Heute ist sie dankbar, dass sie ihr Berufsleben in einer Zeit starten konnte, als die Homöopathie einen Aufschwung erlebte. „Ich war eine der ersten im Land, und es folgten weitere. Auch hier suchten Menschen eine neue Kultur: eine alternative Pädagogik und Landwirtschaft, biologische Nahrungsmittel und ganzheitliche Ansätze in der Medizin. Ich hatte Patienten aus dem ganzen Land.“ Dr. Jutta Gnaiger-Rathmanner, die des Berufs wegen auf eigene Kinder verzichtet und erst spät geheiratet hat, war neben ihrer Praxis jahrzehntelang weltweit als Referentin und Fortbildnerin tätig. Sie hat über 90 Publikationen in Fachzeitschriften veröffentlicht und die Erfahrungen aus ihrer beruflichen Praxis in einem Buch mit dem Titel „Homöopathie bei Psychotraumata“ zusammengefasst. Bei all dem blieb sie stets die Person mit den drängenden Fragen, jede Behandlung startete sie mit einer ausführlichen Anamnese und der Frage: „Was hat diese Krankheit mit dem Menschen zu tun, was kann er oder sie daraus lernen?“ Dass sie diese Fragestellung, den Zusammenhang von Seele und Kranksein mit einem gezielt regulativen Ansatz wie der Homöopathie zusammenbringen habe können, sei ihr bis heute eine große Befriedigung, sagt die 2014 vom österreichischen Gesundheitsministerium zur Medizinalrätin ernannte Ärztin. Und auch, „dass ich mir die Fragen, die ich gehabt habe, schon als Kind, im Laufe meines Berufslebens zu 100 Prozent beantworten konnte, durch die Methode, durch mein Tun und durch das, was gelungen ist, was ich an den Patienten wahrnehmen konnte“. Das sei jetzt schön zurückzublicken.
DIE SCHULSTUBE SUCHT ...
... EINE SCHULLEITUNG
reformpädagogisch engagiert, gut strukturiert, fundierte pädagogische Ausbildung mit praktischer Erfahrung, Führungserfahrung ideal, mit Freude und Motivation, unsere Schule aktiv weiter zu entwickeln.
... EINE*N PÄDAGOG*IN
motiviert, kreativ, achtsam, mit (reform)pädagogischer Ausbildung und/oder Erfahrung und großer Freude in der Lernbegleitung von Kindern im Volksschulalter.
ÜBER UNS
Wir sind neugierig auf Menschen mit einer ganzheitlichen Vision von zeitgemäßer Schule, in der Kinder freudvolle und inspirierende Lernerfahrungen machen dürfen. Wir freuen uns über Ihr Interesse an der Schulstube und erwarten Ihre Bewerbung bis spätestens 14. März 2021 an Obmann Sebastian Schmid sebastian.schmid@schulstube.at
Schulstube Höchst Lebendiges Lernen Mehr Infos unter www.schulstube.at
Bezahlte Anzeige
Vom Menschwerden am Menschen – die Impulse Stiftung
Gemäß ihrer Lebensphilosophie, dass gute Lösungen für das Allgemeinwohl nie von einzelnen, sondern immer aus einem sozialen Zusammenhang kommen müssen, entschied sich Dr. Jutta Gnaiger-Rathmanner, solche zivilgesellschaftlichen „Impulse“ zu ermöglichen. Sie gründete mit ihrem Erbanteil aus dem Vermögen ihres Vaters 1998 eine gemeinnützige Stiftung gleichen Namens. Über 20 Jahre förderte diese Privatstiftung kreative und innovative Projekte, die „ganzheitlich und nachhaltig in das kulturelle, wirtschaftliche und soziale Umfeld im Raum Vorarlberg wirken“. Damit wurden zahlreiche, heute erfolgreiche Initiativen auf den Weg gebracht. Seit einer Gesetzesänderung im Bereich Gemeinnützigkeit fließen die Stiftungsgelder in die Unterstützung des Landeskonservatoriums auf dem Weg zu einer Privatuniversität ein.
Die letzten Europäer
Jüdische Perspektiven Die Familie Brunner. auf die Krisen einer Idee Ein Nachlass Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems 4. Oktober 2020 – 3. Oktober 2021
Schweizer Str. 5, 6845 Hohenems www.jm-hohenems.at Di bis So und feiertags 10–17 Uhr