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Wer hat Recht auf Asyl und wie viele?
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„Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ Angesichts der Flüchtlingswelle im Jahr 2015 hat die Gesellschaft für Analytische Philosophie Philosophinnen und Philosophen aufgerufen, diese Frage zu beantworten. Ziel: Eine vernünftige Debatte anzuregen. Unter anderen hat Marie-Luisa Frick, Philosophie-Professorin an der Universität Innsbruck, dazu Stellung bezogen. Ihr Fazit: „Wenn das Recht an Verbindlichkeit verliert und die Zonen der Unordnung wachsen, rettet uns keine kosmopolitische Moral.“
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Text: Gerhard Thoma, Fotos: Uni Innsbruck, UNHC Marie-Luisa Frick, Professorin für Philosophie an der Universität Innsbruck: Europa sollte sich zu einer proaktiven Aufnahmepolitik durchringen, statt Schlepper über die Chancen von Menschen entscheiden zu lassen.
Rund 100.000 Flüchtlinge kamen 2015 nach Österreich, in Schweden waren es 150.000, in Deutschland rund eine Million. Tausende harren unter menschenunwürdigen Bedingungen an den EU-Außengrenzen aus. Die Flüchtlingsfrage bleibt eine der dringendsten politischen und humanitären Herausforderungen.
Wer ist überhaupt ein Flüchtling? Prof. Dr. Marie-Luisa Frick verweist auf das Völkerrecht, die Genfer Flüchtlingskonvention (1951) und die allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948). Demnach ist ein Flüchtling ein Mensch, der das Recht hat, im Falle von sozialer oder politischer Verfolgung in einem (Nachbar-)Land um Asyl anzusuchen. Ob der Flüchtling tatsächlich schutzbedürftig ist, muss in einem rechtsstaatlichen Verfahren geklärt werden. Der enge Flüchtlingsbegriff aus den 1950er Jahren hat sich geweitet. Man spricht heute von Wirtschaftsflüchtlingen, Kriegsflüchtlingen, Klimaflüchtlingen, politischen Flüchtlingen, Armutsflüchtlingen. Für Frick ist klar: „In der Diversifizierung der Begriffe kommen nicht nur politische Fronten zum Ausdruck, in ihr spiegelt sich auch eine profunde Hilflosigkeit im Umgang mit der Unübersichtlichkeit, ja Abgründigkeit der gegenwärtigen Weltsituation.“ Und, so die Philosophin weiter, man könne davon ausgehen, „dass eine Situation wie die gegenwärtige von den Urhebern der Flüchtlingskonvention und der Menschenrechtserklärung nicht antizipiert, ja gerade als zu vermeidendes Horrorszenario betrachtet wurde.“ Sie gibt zu bedenken, dass der historische Kontext, in dem das Asylrecht in den 1950er Jahren postuliert wurde, ein anderer war: „Ein Staat verfolgt ethnische Minderheiten und Dissidenten, die aber im Nachbarland Schutz finden. Der Zwang, sein Land zu verlassen, sollte kein Massenschicksal sein. Wir sehen heute, dass diese Utopie gescheitert ist.“
Das Asylrecht scheint der gegenwärtigen Situation hinterher zu hinken. Es war für eine überschaubare Zahl von Dissidenten angedacht, nicht für die Aufnahme von Hunderttausenden Menschen. Auf der einen Seite gibt es Menschenrechtsaktivisten, die unbeirrt auf die Einhaltung der proklamierten Asylrechte pochen, notfalls mit juristischem Nachdruck. Auf der anderen Seite stehen jene Bürgerinnen und Bürger, welche die Menschen- und Flüchtlingsrechte zwar ebenfalls hochhalten, aber kein Vertrauen mehr in das internationale Recht haben. Zum Beispiel darf kein Flüchtling aus Österreich abgeschoben werden, der in seiner alten Heimat um Leib und Leben fürchten muss. Damals durchaus sinnvoll, wenn man an Verfolgten der ehemaligen Ostblock-Staaten denkt. Heute können sich auf dieses Menschen- und Völkerrecht sogar Kriminelle, Kriegsverbrecher und Terroristen juristisch berufen, um ihre Abschiebung aus Österreich und der EU zu verhindern. Umgekehrt dürfen Flüchtlingsfamilien, die seit Jahren in Vorarlberg lebten und sich gut integriert haben, legal abgeschoben werden. So wachsen in der Bevölkerung ideologische Gräben, Unsicherheit und ein moralisches Dilemma.
Ideale und wirkliche Welten
Da scheint einiges im Argen zu liegen und es stellt sich die Frage: Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen? Bei der Beantwortung dieser Fragen orientiert sich Frick an der ursprünglichen Zielrichtung der Menschenrechte und der Flüchtlingskonvention. Zunächst äußert sie sich skeptisch zu den Anhängern einer ‚kosmopolitischen Ethik‘. Diese berufen sich auf den europäischen Humanismus und sind der Meinung, dass die internationalen Menschenrechte und die aktuelle Flüchtlingskonvention von höherem Wert seien als die staatlichen Rechte. Wer anderer Meinung ist, wird nicht selten als Unmensch, Rassist und rechtsextrem abgestempelt. Österreich sei demnach verpflichtet, zahlreiche weitere Asylwerber aus Flüchtlingslagern in Griechenland, Spanien und Italien aufzunehmen. Dagegen argumentiert Frick, „dass Menschenrechte zwar in der Tat keine Nationalität haben, aber kein Staat alleine alle Menschenrechte sichern kann“. Jedes einzelne Land stößt früher oder später an seine Möglichkeiten: Arbeitsplätze, Wohnungen, soziale Leistungen etc. „Und da ein Weltstaat

Kriegsflüchtlinge im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren fielen eindeutig unter den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention. Europa nahm die Vertriebenen bereitwillig auf und verteilte sie quotenmäßig in verschiedene Länder. Nach dem Ansturm aus Nordafrika und dem Nahen Osten im Jahr 2015 ist diese Bereitschaft stark gesunken. Das Recht auf Asyl muss neu diskutiert werden. Gerettete Bootsflüchtlinge werden von der italienischen Marine nach Lampedusa gebracht. Prof. Dr. Marie-Luisa Frick übt scharfe Kritik an jenen Ländern, welche die Kriege in Nordafrika, Afghanistan, Irak oder Syrien verursacht haben: Von den USA über Großbritannien bis hin zu Russland und den Golfstaaten: Die Kriege führen sie selbst, die Versorgung der Flüchtlinge überlassen sie anderen.

in weiter Ferne ist, bleiben Menschen- deln diesbezüglich auch jene Staaten und rechte angewiesen auf nationalstaatliche Gruppen, die in Kriege verwickelt sind Strukturen.“ Da prallten eine idealisti- und fast nichts für die Zivilbevölkerung sche Moral und die Wirklichkeit anein- tun. Besonderen Schutz verdienen zuander. Wer trotzdem Bewegungs- und dem jene Personen, die die eigentlichen Niederlassungsfreiheit für alle fordere, Schutzsubjekte der Flüchtlingskonvensolle so ehrlich sein, zu sagen, dass alle tion sind: Verfolgte. „Der Begriff der Menschen dieser Welt einen Anspruch ‚Verfolgung‘ darf jedoch nicht bis zur auf soziale Wohlfahrt in den reichen Unkenntlichkeit gedehnt werden“, beLändern Europas hätten. Niemand dür- tont Frick: „Nicht jede Diskriminierung fe aber glauben, dass die europäischen macht Menschen zu Verfolgten. Ob jeLänder ein solches „Recht“ in der Praxis mand verfolgt ist, ist zudem keine bloße lange überleben würden, ergänzt Frick. Frage der Staatsangehörigkeit – Stichwort Das Argument, dass ja „gar nicht alle“ ‚sicheres Herkunftsland‘, wie schon der zu uns wollten, greift laut Frick zu kurz: Fall Edward Snowdens deutlich macht.“ Die Tatsache ist unangenehm, aber in Einzelfälle müssen geprüft werden. Belangfristiger Perspektive dürfte sich der sonderen Schutz verdienen ferner jene Migrationsdruck in den Krisenländern Menschen, die aus religiösen Gründen verstärken: durch Staatszerfall, Kriege verfolgt werden, zum Beispiel Christen oder Überbevölkerung gemessen an im Nahen Osten sowie andere religiöse den zur Verfügung stehenden Ressour- Minderheiten. cen. Sehr viele werden in den wohlge- Ob außer Verfolgten und Kriegsordneten, wirtschaftlich starken Staaten flüchtlingen auch andere Leute Asyl Europas die einzig vielversprechende in Europa erhalten sollen, etwa junge 13 Antwort auf ihre Sehnsüchte erblicken, und niemand könne ihnen das ernstlich verübeln. Für Europa sei dies aber eine existenzielle Herausforderung. Die Menschenrechte zu achten, bleibt freilich eine Pflicht. Besonderen Schutz verdienen Kriegsflüchtlinge. Ihnen müsse eine gute Versorgung außerhalb der Kriegszonen garantiert werden. Dass Flüchtlingscamps schlecht versorgt werden, bezeichnet Frick als „massive Pflichtverletzung der Staatengemeinschaft“, als „Skandal“. Verwerflich hanBurschen, die einen Job suchen? Frick: „Schutz vor Krieg und politischer Verfolgung muss in Absehung von der konkreten Person gewährt, Einwanderung hingegen darf in strenger Ansehung der Person und ihrer Qualifikation gesteuert werden.“ Die große Zahl der Flüchtlinge und die Vermengung von Asyl- und Einwanderungsfragen verhindere jede Priorisierung von unterschiedlich schutzbedürftigen Personengruppen. Dabei wäre diese Trennung enorm wichtig, gerade zum Schutz der tatsächlich Verfolgten und Vertriebenen.
Wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen? „Jedes Land möge für sich Kontingente festlegen“, sagt Frick. „Anders als oft verlautbart wäre eine solche Obergrenze kein Bruch von Menschenrechten: Es mag ein Recht bzw. einen moralischen Anspruch darauf geben, Asyl zu beantragen, aber eben nicht darauf, dies in einem bestimmten Land zu tun. Das Menschenrecht auf Asyl verpflichtet keinen bestimmten Staat allein.“ Der ‚Wunsch-Staat‘ des Flüchtlings kann immer noch frei entscheiden, ob er das Asyl einlösen will und langfristig sichern kann.
Zur Frage „Wie sollen wir Flüchtlinge aufnehmen?“ meint die Philosophieprofessorin: „Es kann keine Option sein zu warten, bis Flüchtende an unsere Grenzen gelangt sind. Europa sollte sich zu einer proaktiven Aufnahmepolitik durchringen.“ Will heißen: Eine bestimmte Zahl von Kriegsflüchtlingen direkt aus Kriegsgebieten evakuieren. Verfolgte sollten in EU-Botschaften Hilfe erhalten. So, wie es jetzt ist, entscheiden hauptsächlich Schlepper darüber, wer in Europa landet. Das ist unfair.
Literatur
„Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“, Philosophische Essays, Hrsg. Thomas Grundmann und Achim Stephan, Reclam, 2016