7 minute read

Thema Flucht, Migration, Asyl, Kindeswohl Wir verkaufen unsere Seele

12 |

WIR VERKAUFEN UNSERE SEELE

Advertisement

Gerald Knaus (50), Migrationsforscher, Autor und Mitbegründer der Europäischen Stabilitätsinitiative ESI, war einer der Architekten des EU-Abkommens mit der Türkei im März 2016. In seinem Buch „Welche Grenzen brauchen wir?“ liefert er eine genaue Analyse der Migrationsdebatte und macht konkrete Vorschläge für einen Neustart in der Flüchtlingskrise. Das Konzept für das Türkei-Abkommen 2016 entstand zum Großteil im Bregenzerwald, wo er regelmäßig Zeit im Geburtshaus seines Großvaters verbringt.

Text: Daniela Egger, Foto: esiweb.org

„Wir brauchen den Protest und

die Forderung nach Lösungen an die Politik.“

Der Bürgerkrieg in Syrien brachte 2015 Millionen Menschen in Bewegung, und es dauerte nicht lange, bis die australische Regierung eine der zwei möglichen Antworten parat hatte: Boote zurück aufs Meer schleppen lassen und Flüchtende auf eine Insel sperren, wo es kein Weiterkommen gab. Viktor Orbán sah darin ebenfalls einen gangbaren Weg, und er plädierte in der EU dafür, die EU-Außengrenzen radikal abzuschotten. Zäune zu bauen, beispielweise. Eine hohe und unkontrollierte Einwanderung stellten er und seine Mitstreiter als alternativloses Schreckensszenario dar, und nicht wenige folgten dieser Devise – so auch der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz. Während Deutschland und andere Staaten auf das Asylrecht bestanden, begann eine kleine Gruppe von Regierungsmitgliedern auf eigene Faust, die Grenzen dichtzumachen. „Wir haben schon im Herbst 2015 davor gewarnt, dass genau das passieren würde, wenn es uns nicht gelingt, mit der Türkei eine Einigung zu erzielen,“ berichtet Gerald Knaus, der damals auch die Verhandlungen mit dem türkischen Außenministerium führte. „Wir sind kein Beratungsunternehmen, sondern ein gemeinnütziger Verein, machen also keinen Profit und übernehmen keine Aufträge. Unser Vorteil ist, dass wir unabhängig sind und selbst bestimmen, woran und wie wir arbeiten. Wir haben das Konzept geschrieben und versendet, und es wurde schnell auf politischer Ebene wie auch in den Medien diskutiert.“

Kein Grund zur Weiterreise

In der Türkei sind in kürzester Zeit mehr als drei Millionen Menschen auf der Flucht angekommen, in den Lagern über der Grenze in Syrien warten noch einmal so viel, die Unterstützung brauchen. Das ist eine große Herausforderung für jedes Land und die Unterstützung durch die EU war unabdingbar. „Unser Vorschlag war, die Türkei finanziell so weit zu unterstützen, dass vor Ort Bedingungen geschaffen werden konnten, dass die Menschen bleiben wollen. Das ist sehr schnell gelungen: 99,5 Prozent aller Syrer wollten gar nicht weiterreisen“, berichtet Knaus und legt Zahlen vor. „Ihre Kinder können die Schulen besuchen, die medizinische Versorgung ist sichergestellt, ein Leben mit Perspektive ist möglich – auch mit einem zeitlich unbegrenzten Status. Der Erfolg lässt sich auch daran messen, wie stark die Zahl sich verringert hat, von 60.000 Menschen, die pro Monat illegal in Griechenland ankamen auf 2500 im Monat. Es hat 3,5 Jahre lang funktioniert, wenn man als Erfolgskriterium annimmt, wie stark auch die Zahl der zu Tode gekommenen sinkt. Das waren von 1100 in den 12 Monaten davor auf 80 in den 12 Monaten nach dem Abkommen.“

Die EU war bereit, auch große Zahlen von Flüchtenden aufzunehmen, die Willkommenskultur hat bestens funktioniert, solange die Einreisen geordnet vor sich gingen, schnelle Verfahren sichergestellt waren und ebenso schnelle Abschiebungen bei einem Negativbescheid. Sechs Milliarden Euro wurden für vier Jahre in die Türkei investiert. Was Gerald Knaus zu erzählen hat, liest sich wie ein Wettlauf gegen die Zeit, denn die Anhänger der Orbánschen Strategie waren ebenso aktiv und schlossen etwa zur selben Zeit die mazedonisch-griechische Grenze. Die griechische Regierung wurde nervös, denn am Ende wären ja auch sie selbst eingeschlossen. Also im Grunde das, was jetzt passiert ist, nachdem die vier vereinbarten Jahre der Zahlungen abgelaufen waren, die EU keine neue Vereinbarung zu schließen imstande war und Präsident Erdoğan irgendwann handelte, indem er Ende Februar 2020 Flüchtlinge vor der griechischen Grenze absetzen ließ. „Ein unmoralischer Schritt, und auch ein strategischer Fehler, zu glauben, man könnte die EU auf diese Weise unter Druck setzen,“ sagt Gerald Knaus. Die griechische Regierung reagierte damit, dass sie das Asylrecht ausgesetzt hat. Damit gewann die Strategie von Viktor Orbán und seinen Anhängern: Durch Grausamkeit Bilder erzeugen, die abschrecken sollen. Gerald Knaus bringt es auf den Punkt: „Wir verkaufen unsere Seele und geben die Flüchtlingskonvention auf. Das ist ein großer Rückschritt für die EU.“

Wie kann es jetzt weitergehen?

Die australische Politik der radikalen Ausgrenzung war offensichtlich enorm teuer, für die Kosten der Pushbacks und die Gefängnisse auf der Insel hätte man alle Flüchten-01 den für die gesamte Dauer ihres Aufenthalts im besten Hotel in Sydney unterbringen können. Sinnlose Geldverschwendung und eine unmenschliche Politik also. Auch die Geldsendungen nach Griechenland bringen offensichtlich nicht die gewünschte Verbesserung für die Menschen auf den Inseln. Aber der Verein ESI arbeitet schon mit Hochdruck an einer Antwort auf die verfahrene Situation: „Wir werden nächste Woche ein neues Papier veröffentlichen, derzeit sind wir die ganze Zeit am Telefon, um mit Ministern zu sprechen, mit dem türkischen, dem griechischen, mit dem EU Kommissar, und so weiter. Es gilt, wieder einen menschenwürdigen Umgang zu ermöglichen und das Recht auf Asyl zu bewahren.“ Die Zivilgesellschaft verlangt immer lauter nach einer Lösung und auch die Mehrheit der Politikerinnen und Politiker in der EU sind laut Einschätzung von Knaus für die geregelte Aufnahme von Flüchtlingen und vor allem für die Einhaltung der Menschenrechte und des Asylrechts auf europäischem Boden. >>

Mit Rückkehrern in Gambia

Aktuelle Publikationen:

Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl ISBN 978-3-492-05988-6

Link zum neuen Strategiepapier unter www.esiweb.org

| 13

14 |

© Francesco Scarpa

Factbox

Kräfte bündeln – vernetzen

Derzeit sind zahlreiche einzelne Initiativen mit viel Engagement an der Arbeit, um für einen menschlichen Umgang in der Flüchtlingspolitik einzustehen. Die ersten Sonntagsdemos von „uns reicht‘s“ gehen bereits ins Jahr 2018 zurück und sind seither nicht mehr abgerissen – nicht zuletzt, weil sich die politisch Verantwortlichen kontinuierlich inhumaner zeigen. Wir möchten alle Interessierten Vorarlbergs vernetzen und möglichst viele Kräfte bündeln, um gemeinsam auch deutlicher gehört zu werden. Wir laden deshalb Anfang März zu einem großen Online-Treffpunkt ein. Geplant sind ein erstes Vorstellen und Kurzberichte über geplante Aktivitäten oder Ideen. In einem zweiten Treffen sollen konkrete Maßnahmen akkordiert werden. Bei Interesse bitte eine Email an info@unsreichts. at senden, Anfang März werden Termin und Link für den Einstieg versendet. Gerald Knaus ist Gründungsdirektor der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI). Er ist ein international bekannter Experte und berät Regierungen und Institutionen in Europa bei den Themen Flucht, Migration und Menschenrechte. Er studierte Philosophie, Politik und Internationale Beziehungen in Oxford, Brüssel und Bologna, ist Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations und war für fünf Jahre Associate Fellow am Carr Center for Human Rights Policy der Harvard Kennedy School – John F. Kennedy School of Governance in den USA. Gerald Knaus lebt in Berlin.

Und Österreich?

Natürlich kann auch das unmenschliche Abschieben der Kinder und Jugendlichen mitten aus dem Schulalltag nicht unkommentiert bleiben und Gerald Knaus führt diese Aktion auf denselben Missstand zurück, der auch die Situation in den Lagern unerträglich macht: „Das dürfte gar nicht sein, dass ein Asylverfahren über Jahre schwebend bleibt und Leute, die sich bemühen und in der Ausbildung stecken, nach so langer Zeit wieder abgeschoben werden. Ausgenommen natürlich Straftäter. Aber das halte ich für Aktionismus, der nichts bringt. Es zeigt eher auf, dass man nichts im Griff hat. Eine kompetente Regierung sendet andere Signale, etwa dass man einen Stichtag in absehbarer Zeit festlegt, ab dann ist ein Asylbescheid gültig oder es wird eine Abschiebung notwendig. So hat man auch eine Mehrheit hinter sich. Das Abschieben von Kindern und Jugendlichen, die zum Teil sogar in Österreich geboren wurden, ist natürlich ein Unsinn.“

Die Rolle der Zivilgesellschaft

Seit 2018 demonstrieren Menschen in Vorarlberg und ganz Österreich für eine menschliche Asylpolitik, aber es scheint sich nicht viel zu bewegen – und wenn, dann wird es eher schlimmer. Deshalb eine letzte Frage an Gerald Knaus über die Wirkmächtigkeit der Zivilgesellschaft, die er ganz entschieden betont: „In dieser Situation ist das Aufstehen der Menschen enorm wichtig, die Zivilgesellschaft muss überall dort Lücken füllen, wo Politik nicht funktioniert. Beispielsweise die Seenotrettung – das ist phänomenal was da passiert. Angesichts der vielen Menschen, die im Meer ertrinken, finden sich private Initiativen, die Leben retten, teilweise unter Gefährdung des eigenen Lebens. Und wir brauchen auch den Prostest und die Forderung nach Lösungen an die Politik. Die spüren den Druck sehr deutlich.“ Ein Grund mehr, um vehement und geschlossen für eine menschliche Asylpolitik zu demonstrieren.

This article is from: