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Berührbar bleiben
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„uns reicht‘s“: Reden der Vorarlberger Sonntagsdemonstrationen 2018-2019 für Menschlichkeit und Demokratie von Klaus Begle, Bernadette Vogt 92 Reden auf 312 Seiten EUR 10,– www.bucherverlag.com
Text: Simone Fürnschuß-Hofer, Kerstin Vogg, Foto: iStock
Meist können es die Beteiligten kaum glauben, wenn nach Jahren des Bangens doch noch ein positiver Asylbescheid ins Haus flattert. Viel öfter bleibt Asylwerber*innen ein Aufenthaltstitel verwehrt und selbst bei vorbildlichem Verhalten, Spracherwerbs-Nachweisen und sozialem Engagement droht die Abschiebung. In konkreten Zahlen: 5331 Abschiebungen in Herkunftsländer, 1346 Dublin-Überstellungen und 5568 freiwillige Ausreisen gab es laut Innenministerium 2019 in Österreich. Umso tragischer ist es, wenn die Menschen hier bereits Wurzeln geschlagen haben. Die Vorarlberger Psychotherapeutin Kerstin Vogg hat sich 2010 im Rahmen einer Bürgerinitiative für eine befreundete Familie eingesetzt, die vor der Zwangsausweisung stand. Was in jener Nacht in Röthis passierte, als die Fremdenpolizei die Familie mitnehmen wollte, kommt einem kleinen Wunder gleich. Selbst wenn es über zehn Jahre her ist und die Bundesländer heute weniger Einfluss nehmen können, so darf es als ein Akt der Menschlichkeit gelesen werden, der zu jeder Zeit Mut machen soll, „sich berühren zu lassen“. Kerstin Vogg lässt uns in Auszügen an ihrer Rede anlässlich einer Sonntagsdemo im Dezember 2018 teilhaben:
Als ich die Mutter über die Caritas Nachbarschaftshilfe kennenlernte, war die Familie bereits viereinhalb
Jahre hier, ein zweites Kind war geboren, das mittlerweile drei Jahre alt war. Sie waren bestens integriert, sprachen Deutsch, hatten Freunde, Jobzusagen, die sie aber nicht ausführen konnten, weil sie nicht arbeiten durften. Im Februar 2010 erhielten sie dann nach langem Hin und Her den negativen Bescheid. Das kam sehr unerwartet und lag zu aller Ironie auch an dem plötzlichen Tod des Richters, der ihnen leider nur mündlich einen positiven Bescheid prophezeit hatte. ...
Obwohl die Einflussnahme des Landes damals noch viel größer war, was das Humanitäre Bleiberecht betraf, erhielten wir die Botschaft, hier könne nichts mehr getan werden. Der Landesrat, der zuvor noch einem humanen Umgang mit der Familie versprach, sprach sein Bedauern für diesen tragischen Fall aus, der Termin für die Abschiebung wurde fixiert. Und so kam es zu der besagten Nacht, in die ich Sie einen kurzen Moment mitnehmen möchte: Wir trafen um zirka 3 Uhr nachts ein, die Atmosphäre war angespannt, im Gang standen die Koffer, die zwei kleinen Mädchen schliefen, die 3-Jährige hatte einen Infekt mit Fieber und wurde von der Kinderärztin als reiseuntauglich eingestuft, was der Amtsarzt nach einer weiteren Untersuchung für nichtig erklärte. Wir hatten Freunde und Nachbarn informiert, mit der Bitte, es weiterzusagen. Es gab keinen Plan. Was wir wollten, war aufzuzeigen, was hier in der Nacht passiert, wie mit Menschen umgegangen wird und Zeit gewinnen, sodass die Familie vielleicht den Flug verpasst. Rund 50 Menschen versammelten sich um 4 Uhr früh auf dem Balkon der Familie: Der Bürgermeister von Röthis, Leute von der Presse, Bekannte. Scheinwerfer wurden aufgestellt, Kameras positioniert und dann kamen die zwei Polizisten mit ihrem Bus angefahren. Es entstand eine Diskussion, Worte wie „unmenschlich, faire Chance, Auftragserfüllung, Handeln nach Vorschriften“ usw. fielen. Die Situation war immer noch sehr angespannt, aber trotzdem bedacht und ruhig. Entscheidungsträger wurden angerufen, auch der Bürgermeister ergriff das Wort und meinte: „Das lasse ich nicht zu, dass in meiner
Gemeinde mitten in der Nacht eine Familie abgeschoben wird.“ Diese Methoden würden ihn an andere
Zeiten erinnern. Der Einsatz wurde mit dem Argument der Unverhältnismäßigkeit abgebrochen, die Familie in dieser
Nacht nicht abgeschoben. Und auch in den folgenden Nächten nicht. Die Familie lebt seither in Vorarlberg, beide Elternteile haben eine Arbeit, mittlerweile ist ein drittes Kind geboren. Die Menschen, die sich damals mitten in der Nacht aufgemacht haben, taten dies nicht in erster
Linie, weil sie einer bestimmten Partei zugehörig waren, sie taten es, weil sie sich von der Not dieser Menschen berühren ließen. In dem Moment, in dem diese Berührung stattfindet, sind es keine namenlosen
Flüchtlinge mehr, sondern Mütter, Väter, Ehemänner, Freunde, Nachbarn. In dem Moment werden wir von Beobachter*innen zu Mitbetroffenen, weil wir mitfühlend uns vorstellen, wie das für uns wäre ... ...
Damals in dieser kalten Nacht, als sich 50 Personen auf den Weg machten, ohne zu wissen, ob das etwas bringt, so behaupte ich, haben wir das nicht nur für diese Familie gemacht, wir haben das auch für uns gemacht. Leben ist per se brüchig. Nicht nur in Syrien und Afghanistan, auch bei uns. Und in unserem
Inneren speichern wir diese Erfahrung als Gefühl von Zusammenhalt, als soziale Verbundenheit, die uns unbewusst davon ausgehen lässt, dass sich auch für uns, sollten wir in große Not kommen, jemand einsetzen würde. Ich entnehme das auch aus den vielen Gesprächen in der Praxis, dass wir Menschen genau diesen Zusammenhalt brauchen, um uns wohlzufühlen – eingebettet zu sein in eine Gemeinschaft. ...
Sich selbstwirksam zu erleben heißt, die Überzeugung zu haben, etwas tun zu können, das eine Wirkung 08 hat, dass wir Einfluss nehmen können auf die Welt um uns. Die Forschung zeigt uns, dass selbstwirksame Menschen weniger Stress erleben, gesünder sind, weniger Angst haben und zufriedener sind. Mein Gefühl der Selbstwirksamkeit wurde durch die Initiative von Klaus Begle wieder aktiviert, auch bei mir hat sich zuweilen der Eindruck breit gemacht, eh nichts machen zu können, die Frage, „Was bringt das schon?“, Ohnmacht, machte sich breit. Der Funke ist aber übergesprungen, seit mehreren Wochen stehen Menschen auf. Sie sind allein durch ihr Hiersein selbstwirksam. Das tun wir für eine andere, menschlichere Asylpolitik, letztlich auch für mehr Menschlichkeit im Generellen und wir tun es auch für uns. Zusammen können wir was bewirken! Ich bin überzeugt, dass die Zahl derer, die ein menschliches Miteinander wollen, viel größer ist als die Zahl der heute hier Anwesenden und ich denke, wir müssen diese Menschen erreichen, bevor sie beginnen, sich in dieser Atmosphäre einzurichten.

Kerstin Vogg ©Fotostudio Beatrix