medianet 27.08.2021

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10  MARKETING & MEDIA

Freitag, 27. August 2021

medianet.at

Die Szenen lösen die Milieus ab ••• Von Britta Biron

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ie tickt die Jugend? Wa s spricht sie an, was verlockt sie zum Konsum, was triggert ihr Verhalten? Und wie lässt sich eine ganze Generation, die gerade erst dabei ist, ihren Platz im Leben zu finden, was durch die Pandemie noch zusätzlich erschwert wird, in marketingtechnisch verwertbare Segmente einteilen? Eine kürzlich erschienene Studie des Instituts für Jugendkulturforschung und der Agentur T-Factory kommt zum Schluss, dass man fundiertere Antworten erhält, wenn man sich bei der Einteilung der Zielgruppen nicht mehr an Milieus, sondern Szenen orientiert, denen sich immerhin 70% der insgesamt 2.000 Teenager und Twens, die in Österreich und Deutschland befragt wurden, zugehörig fühlen. Studienautor Bernhard Heinzlmaier, Mitbegründer des Instituts für Jugendkultur­ forschung und Geschäftsführer von T-Factory, erläutert im Interview mit medianet die Gründe dafür. medianet: Haben Milieus künf­ tig generell weniger Bedeutung für das Marketing oder liegt der Erfolg von Kampagnen eher da­ rin, Milieus und Szenen im je­ weils richtigen Mix zu adressie­ ren? Bernhard Heinzlmaier: Ich stehe der Anwendung der Milieutheorie bei jungen Zielgruppen heute sehr skeptisch gegenüber. Das Wertsetting von Jugendlichen ist noch sehr plastisch und

kann sich durch eindrückliche biografische Erfahrungen radikal verschieben. Es ist deshalb nicht möglich, Jugendliche in dauerhaft konstante Milieugruppen zusammenzufassen. Generell scheinen persönliche Wertesettings immer fluider zu werden. Identitäten werden zu autonom steuerbaren Zuständen. Wenn man heute in der sexuellen Orientierung nichtbinär sein kann, so ist das auch z.B. bei politischen Überzeugungen möglich. Menschen sind sequenziell konservativ oder linksliberal, sie schwanken oder sie mischen beide politischen Aggregatzustände. Werte taugen immer weniger zur Segmentierung von Zielgruppen. medianet: Welche Vorteile hat die Einteilung nach Szenen? Heinzlmaier: Szenen sind keine künstlichen Gruppen, sondern erfahrungsadäquate posttraditionale Gemeinschaften. Die Bindungen im Szene-Kern sind von starken Gefühlen der Zusammengehörigkeit geprägt. Emotionen sind heute das stärkste Bindemittel von SzeneGruppen. Alles, was Szenezugehörige über ihre Kultur sagen, basiert auf tatsächlich erlebten Gruppenvorgängen und nicht auf modellhaften Abstraktionen, die häufig nur Konstruktionen der Forschung sind und stark von der Weltanschauung der Forscher beeinflusst sind. Reale Netzwerke, die man nachzeichnen kann, können zur viralen Einflussnahme auf Szenestrukturen genutzt werden. Szenen gibt es wirklich. Dass ist ihr analytischer und auch ihr praktischer Vorzug.

Es ist nicht ­möglich, Jugendliche in ­dauerhaft ­konstante Milieugruppen ­zusammenzufassen, da ihr Wertesetting noch sehr ­plastisch ist und sich durch ­eindrückliche ­Erfahrungen radikal ­verschieben kann. Bernhard ­Heinzlmaier Institut für Jugend­ kulturforschung

medianet: Durch den starken Bezug zum realen Leben hat sich die Pandemie aber sicher auf die Szenen ausgewirkt … Heinzlmaier: Corona hat alle Szene-Kulturen massiv geschädigt, selbst die digital getriebenen Szenen, weil auch diese vom persönlichen Kontakt ihrer Mitglieder leben. Da haben die abstrakten Milieus einen Vorteil: Die bleiben stabil, weil sie ja keine Berührung mit der gesellschaftlichen Realität haben. medianet: Welche Rolle spielen sozialer Status und Bildungs­ niveau? Heinzlmaier: Das Interessante an Szenen ist, dass sie sich sowohl, was das Alter als auch den sozialen Status betrifft, auffällig gut durchmischen. Im Stadion

© Foto Wilke

Bernhard Heinzlmaier sieht im Jugendmarketing die Zeit für einen Strategiewandel gekommen.

des FC St.Pauli sitzt der Akademiker neben dem Hafenarbeiter und dem Sexshop-Betreiber. Während in den meisten Gesellschaftsbereichen die Abstände zwischen den bildungsnahen und bildungsfernen Milieus immer größer und Gruppenbildungen immer kulturreiner werden, bilden sich in den Szenen Brücken zwischen den verschiedenen Schichten. medianet: Gibt es signifikante Unterschiede zwischen Öster­ reich und Deutschland? Heinzlmaier: Wir betreiben seit 20 Jahren Szenemonitoring in beiden Ländern und wissen dadurch, dass Szenen sehr stark von nationalstaatlichen Kontexten abhängig sind. Dennoch finde ich die Unterschiede nicht so dramatisch. Vieles läuft nahezu synchron ab. Augenfällig ist der Einbruch im Bereich Fußball in Österreich, was überwiegend an der dilettantischen Kommunikation und dem Provinzialismus des österreichischen Fußballs liegt. Viele österreichischen Fans sind emotional nach Deutschland abgewandert, weil es eben interessanter ist, mit dem BVB oder Borussia Mönchengladbach mitzufiebern als mit Wolfsberg oder Altach. Auch in der Gamer-Szene wird in Deutschland professioneller gearbeitet. In Österreich wird noch immer viel geredet und wenig getan – das habe ich nach 20 Jahren des beruflichen Pendelns zwischen den beiden Ländern gesehen. Wo das Szeneleben sehr stark mit dem kommerziellen Marketing verbunden ist, kann Österreich mit den Deutschen einfach nicht mithalten.


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