CHRISTIAN
SEILER
CHRISTIAN SEILER
DOKTERN IM WEITESTEN SINN
Impressum
Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und vom Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten.
Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
© 2025 Weber Verlag AG, 3645 Thun/Gwatt
Weber Verlag AG
Idee und Texte: Christian Seiler
Verlagsleitung: Annette Weber-Hadorn
Projektleitung: Madeleine Hadorn
Gestaltung Cover: Nina Ruosch
Gestaltung und Satz: Erina Zbinden
Lektorat: Alain Diezig
Korrektorat: Corinne Kneubühler
Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.
ISBN 978-3-03818-793-6 www.weberverlag.ch
INHALT
ARIERNACHWEIS
Wer hat das Kräuterbonbon erfunden? Natürlich die Schweizer. Die Umkehrung der Reklame schaffte es vor einigen Jahren auf die Frontseite einer Schweizer Wochenzeitung. Dort lautete die Antwort auf die Frage nach den Erfindern: natürlich nicht die Schweizer. Womit sollen wir Schweizer nichts zu tun gehabt haben? Mit dem staatlich zertifizierten Ariernachweis, d. h. mit der Empfehlung an die Nazis vor 90 Jahren, den Pass eines deutsch-jüdischen Bürgers mit einem «J» zu markieren. Um die Geschichte mit dem J-Stempel wurde in den 1990ern heftig gestritten, und schon damals entschieden: die offizielle Schweiz hatte den deutschen Behörden die Einführung des J-Stempels (und damit indirekt des Ariernachweises) nicht vorgeschlagen. Diese Information ist auf dem Netz seit Jahren zugänglich. Warum wurde die Suppe wieder aufgewärmt? Weil die Autoren eines neuen Lehrmittels für Primarschüler zum Holocaust das übersehen und die Erfindung des J-Stempels – wieder – den Schweizern zugeschrieben hatten. Und weil Dr. Ulrich Schlüer, Chefredaktor einer anderen Zeitung, diesen Fehler entdeckt hatte. Dazu folgt nun ein Fallbericht, der Grautöne vermuten lässt in diesem Schwarz-weiss-Gemälde unseres bedrängten Landes anno 1938. Friedrich Glauser, ein Schweizer väterlicherseits mit österreichischer Mutter (also zur Hälfte Deutsch-Österreicher) wollte im Frühling 1938 heiraten. Die Verlobte des Autors von «Wachtmeister Studer» war Berthe Bendel, eine in der Ostschweiz bei Pflegeeltern aufgewachsene deutsche Reichsangehörige. Glauser litt chronisch unter Geldnot, was mit seiner Morphiumsucht und seiner noch nicht etablierten Stellung als Schriftsteller zu tun hatte. Und heiraten kostete. So viel, dass er deswegen schliesslich mit seiner Braut in die Nähe von Genua, nach Nervi, umzog; unter der Vermutung, die Vermählung sei dort günstiger. Gratis war sie auch in Italien nicht, aber irgendwie wurde doch ein Termin auf dem Standesamt festgelegt: 7. Dezember 1938. Der kostentreibende Faktor für die Heirat waren die zur standesamtlichen Trauung nötigen Bescheinigungen. Von denen gab es in Basel mehr als in Nervi, damals im März 1938. Und
es waren andere Amtspapiere, schwierigere: der Ariernachweis in Form des beglaubigt fehlenden J-Stempels, der in Basel für beide der Brautleute beschafft werden musste. Die Schweizer Behörden hielten sich schon ein halbes Jahr vor Einführung des Judenstempels streng an die Grundsätze der medizinischen Rassenhygiene, wonach jüdisches Genmaterial auch nur vom mütterlich beigesteuerten Chromosomenanteil weitergegeben werden kann beim Akt der Reproduktion. Dass es kein jüdisches Gen gibt und dass es daher nicht auf einem Chromosom sitzt und die Mendel’sche Vererbungslehre nicht anwendbar ist, war damals wie heute bekannt, alles fake in heutigem Jargon. Und aus der Geschichte unzugänglicher Schweizer Regionen wäre ableitbar gewesen, dass konsequent eingehaltene Rassenhygiene mit der Häufung echter Erbkrankheiten verbunden ist.
Zur Hochzeit der beiden kam es schliesslich doch nicht. Am Vorabend brach Glauser beim Essen zusammen und starb am übernächsten Tag nach 30-stündigem Koma.
ARMEE HABEN ODER SEIN
In der Verfassung Artikel 58, Absatz 1 (581) steht zwar: «Die Schweiz hat eine Armee.» Der nächste Satz lautet aber: «Diese ist grundsätzlich nach dem Milizsystem organisiert.» Übersetzt heisst das: die Schweizer Armee ist ein Volksheer, die Schweiz ist also eine Armee, denn das Volk ist das Heer. Selbst das fast alle Tricks zulassende «grundsätzlich» vermag den zweiten Satz von 581 aber nicht vor einer Revision zu bewahren, denn an ihm ist viel falsch, sodass er besser lauten würde: «Vor bald 40 Jahren und früher, aber sicher nicht heute war die Armee grundsätzlich nach dem Milizsystem organisiert». Die Verfassung ist aber kein Geschichtsbuch, und so gehört der zweite Teil von 581 ersatzlos gestrichen.
Zahlenmässig beträgt der Unterschied zwischen Haben und Sein der Schweiz als Armee heute 140 000 Armeeangehörige gegenüber 810 000 anno 1988. Das Ein- und Ausrücken ins und aus dem Militär war damals allgegenwärtig und der relative Erfolg der Initiative zur Armeeabschaffung 1989 wohl auch ihrer Bekanntheit geschuldet. Von einem Volksheer konnte angesichts der abwesenden Frauen aber auch damals nicht gesprochen werden, ausser man rechnete den durch weibliche Arbeit erbrachten Unterhalt der Uniformen stillschweigend zur Wehrpflicht. Laut Verfassung war und ist für Schweizerinnen der Militärdienst aber freiwillig, für Männer obligatorisch. Wie das mit der heute viel bemühten Gleichstellung der Geschlechter zusammengeht, ist unvollständig und eher nicht biologisch begründet.
Zur Militärdienstpflicht für Schweizer gibt es in der Verfassung (Artikel 591) einen zweiten Satz, dessen gestelzte Chiffriertheit ich nicht verstehe: «Das Gesetz sieht einen zivilen Ersatzdienst vor.» Dieses in seiner Personifizierung mysteriöse, fast göttliche Ding, das Gesetz, überlegt sich, erwägt – einen Ersatzdienst. Dabei gibt es ihn seit 25 Jahren, den Zivildienst (Zividi). Das soll den Personen, die finden, die Schweiz habe nicht, sondern sei eine Armee wohl schonend mitgeteilt werden. Dass letzthin die Bedingungen für den Zividi verschärft werden, halte ich wegen der Wichtigkeit eines friedlichen
Diensts an der Allgemeinheit und nicht aufgrund meiner steilen militärischen Laufbahn für richtig. Letztere war kurz, stotzig abwärts gerichtet und endete vor 45 Jahren unehrenhaft, das heisst mit dem Ausschluss aus der Armee und 4 Monaten Güggi wegen Militärdienstverweigerung. Die Entlassung aus dem Gefängnis Schloss Burgdorf erfolgte vorzeitig, wegen passabler Führung. Das fiel leicht, denn die Arbeit des Häftlings bestand in einer Art Proto-Zivildienst als Hilfspfleger im örtlichen Spital (mit Übernachten im Güggi). Die Anstellung als Assistenzarzt am Kantonsspital Graubünden einige Jahre später erfolgte steiniger, das heisst gar nicht. Der damalige kantonale Gesundheitsminister Largiadèr annullierte meine Stellenzusage durch den Chefchirurgen kurzerhand, da die Reue meinerseits über die «Jugendsünde», so das magistrale Angebot, ausblieb. Also: mit knastfreiem Zividi, über 20 % medizinisch Untauglichen und trotz weltbester (Schrumpf-)Armee ist die Schweiz heute keine Armee mehr.
Allerdings, ich räume ein: Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dünken mich Gedanken zu «haben oder sein» einer Armee nicht mehr so wichtig wie einst. In der heutigen, post-pazifistischen Ära zählt (wieder), sich gegen einen grössenwahnsinnigen Aggressor wehren zu können.
«DER ASKET MACHT AUS DER TUGEND EINE NOT»
Aus der Not eine Tugend machen, das ist bekannt. Dazu fähig sein ist selbst zur Tugend geworden. Die Umkehrung von «Not» und «Tugend» kommt überraschend und regt zum Grübeln an: «Der Asket macht aus der Tugend eine Not», so der vom gut 30-jährigen Nietzsche geprägte Sinnspruch. Die heute gängigste Deutung des 1878 publizierten Aphorismus lautet: Zuviel des Guten ist ungesund. Da ist die Verbindung zum Asketen nah: der Enthaltsame, der keine Mühe scheut, ein höheres Ziel, etwas Gutes zu erreichen; und damit vorbildlich, also tugendhaft zu sein. Übertriebenes oder falsch verstandenes Gutsein kann zum Gräuel verkommen. Oder: Der Fanatiker macht aus seinem Wahn eine Not.
Das lässt sich anhand der weiteren publikatorischen, am Ende unsägliches Leid stiftenden Geschichte dieses Philosophen des 19. Jahrhunderts illustrieren. Das für ihn zu erreichende Gute war der Übermensch, der «Idealmensch», welcher das ordinäre Leben eines Durchschnittsmenschen weit überragt. Zu erreichen war dieses vermeintlich «Gute» durch Züchtung im falsch verstandenen Sinn der Evolutionstheorie, das heisst durch Auswahl der «Fittesten». Etwa fünf Jahre nach Publikation des obigen Spruchs lautete Nietzsches in Notizen zum Werk «Zarathustra» veröffentlichter Plan zur Selektion der «Fittesten»: «Jene ungeheure Energie und Grösse zu gewinnen, um, durch Züchtung und andrerseits durch Vernichtung von Millionen Missrathener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zu Grunde zu gehen an dem Leid, das man schafft und dessen Gleichen noch nie da war!»
Darin ist alles enthalten, was den titelgebenden Spruch ausmacht: Der durch unbeugsame Zielstrebigkeit «Grösse gewinnende» Asket, der «Gutes» bewirkt. Nota bene krank verstandenes «Gutes», nämlich die «Züchtung» des «Übermenschen» und «andrerseits … Vernichtung Missrathener». Die dem Asketen eigene Enthaltsamkeit konzentriert sich darauf, jeglichem Mit -
leid den «Missrathenen» gegenüber bei ihrer Vernichtung zu entsagen. Das zeigt sich im zweiten Teil des Satzes: «… und nicht zu Grunde zu gehen an dem Leid, das man schafft …»
Die Umsetzung von Nietzsches Grundgesetz zur «Vernichtung von Millionen Missrathener» erfolgte spätestens am 4. Oktober 1943, als sich Heinrich Himmler im Rahmen seiner Posener Reden wie folgt an SS-Offiziere wandte: «‹Das jüdische Volk wird ausgerottet›, sagt ein jeder Parteigenosse, ‹ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.› … Dies [die Ausrottung] durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.» - «Die Ausrottung der Juden … durchgehalten zu haben, und dabei … anständig geblieben zu sein, … ein … Ruhmesblatt unserer Geschichte.»
Das konnte Nietzsche mit seinem Aphorismus zu Tugend und Not nicht gemeint haben. Aber hatte er vergessen, ihn je verfasst zu haben, als er vorschlug, wie der Übermensch zu züchten sei? Vergessen im weit fortgeschrittenen Stadium einer früher erworbenen Geschlechtskrankheit, der Syphilis, in dem ihm nur noch kranke Ideen kamen wie «Vernichtung von Millionen Missrathener»? Zu seinen Gunsten müsste Grössenwahnsinn im letzten Stadium der Krankheit, also verminderte Zurechnungsfähigkeit angenommen werden. Sonst müsste man Nietzsche für seinen Plan zur Züchtung des Übermenschen hassen.
ASTHMA MACHT GEWINNER
Lässt sich eine Krankheit für Erfolg im Spitzensport ausnutzen? Der Verdacht besteht. Beim Asthma eignen sich nicht alle Sportarten dafür; Ringen, Gewichtheben, Tischtennis, Schiessen fallen ausser Betracht, weil dabei Ausdauer nicht so wichtig ist. Asthma, eine chronisch entzündliche Erkrankung führt zur Verengung der Atemwege mit Luftnot. Die Behinderung des Luftstroms an solchen Engpässen ergibt sich aus der Entzündung mit vermehrter Sekretproduktion, angeschwollenen Schleimhäuten und verkrampfter Atemwegsmuskulatur. Die Atemnot kann beängstigend sein, dies umso mehr als ein Asthmaanfall – unbehandelt – tödlich ausgehen kann. Husten ist ein weiteres, bei Kindern oft das einzige Krankheitssymptom. Asthmaanfälle werden provoziert durch Blütenpollenstaub, verunreinigte Luft, feucht-warm-chlorhaltige, aber auch durch kalte Luft, durch körperliche Verausgabung. Solche Situationen sind bei Ausdauersportarten im Training oder bei einem Wettkampf leicht vorstellbar. Asthma spielt also besonders bei Sportarten wie Schwimmen, Radfahren, Marathonlauf, Triathlon, Langlauf, Rudern eine Rolle. Und das nicht, weil Athleten mit der ärztlichen Diagnose «Asthma» für solche Sportarten nicht in Frage kommen (dann könnten sie nicht gewinnen), sondern weil dessen Behandlung sich auf einem schmalen Grat zwischen Symptomlinderung und Doping bewegt. Fürs Letztere spricht, dass bei der Olympiade 2010 in Vancouver die 7,1 % der Athleten mit «Asthma» fast 12 % aller Medaillen gewannen.
Die Behandlung von Asthma zielt darauf, mit Medikamenten die Entzündung der Atemwege zu hemmen und die Atemwegsmuskeln zu entkrampfen. Das geschieht mit Medikamenten, welche die Fluchtreaktion des Körpers unterstützen, d. h. die Luftwege öffnen und die Sprungkraft steigern. Diese sogenannten Steroide und Betamimetika stehen beide – je nach Verabreichungsform – wegen ihrer leistungssteigernden Wirkung auf der Liste verbotener Substanzen der World Anti-Doping Agency (WADA). Wie der Medaillenspiegel von Vancouver belegt, sind Athleten mit Asthma aber nicht ausgeschlossen von der Wettkampfteilnahme bei den genannten Aus-
dauersportarten. Ausnahmeregeln der WADA mit diagnostischen Bedingungen, maximal zulässigen Medikamentendosierungen, Verabreichungsvorschriften, Grenzwerten der verbotenen Substanzen im Urin des Athleten ermöglichen diesen die Wettkampfteilnahme. Ohne – und gelegentlich auch mit – Leibarzt bleibt ein Athlet bei diesem Regel-Dickicht in einer Dopingkontrolle hängen. Die Komplexität des WADA-Regelwerks bietet neben guter Behandlung und Schutz vor Diskriminierung der realen Asthmatiker-Athleten viel Potenzial für unterschwelliges Doping von Athleten mit dem eher «surrealen» Asthma einer nur medizinisch auslösbaren sogenannten «Atemwegsüberempfindlichkeit».
Dass die ärztliche Diagnose «Asthma» bei Elite-Ausdauerathleten 2 bis 4 mal häufiger ist als in der Normalbevölkerung und dass sie die Nicht-Asthmatiker-Athleten überholen, lässt vermuten, dass die Etikette einer Krankheit gelegentlich und mit medizinischer Unterstützung für den Erfolg im Sport benutzt wird.
WIE KOMMT MAN AUF EINE BANKNOTE?
Seit der jüngsten Serie nur noch als Motiv und nicht mehr als Person. Und überhaupt, im Zeitalter des virtuellen Zahlungsverkehrs und nach dem Hinschied des analogen Briefeschreibens wäre nur diese Frage noch altmodischer: Wie kommt man auf eine Briefmarke? Oder anders formuliert: Wie – um alles in der Welt – ist diese oder jene Person auf eine Banknote geraten? Darauf abgebildet zu sein befördert(e) den Ruf einer erfundenen oder realen Person enorm, auch wenn sich die meisten Leute vor 75 Jahren beim Bezahlen mit einer 10er-Note nicht überlegten, dass es sich beim darauf abgebildeten Bartli um Gottfried Keller handelte. Dagegen wurde jener auf der 5er-Note wegen der geschulterten Armbrust sofort als Tell und seine Person als realer denn Keller erkannt; ben trovato ist besser als vero. Tell profitierte fürs Wiedererkennen neben der Tatwaffe davon, dass er auch noch auf der 100er-Note vorkam und dass die Abbildung auf Noten mit steigendem Nennwert an Bedeutung verliert: im Vergleich zu wenigen Geldsäcken zahlten viele arme Schlucker eher mit 5er- statt 1000er-Noten.
Um die 1000er-Note mit Ausgabejahr 1978, die bis Mai 2020 zum Nennwert noch einlösbar war, geht es heute medizinhistorisch. Dazu lautet die oben gestellte Frage konkret: Wie konnte August Forel auf eine Banknote (eben die 1000er) geraten? Trotz seiner Verdienste als Neurologe und Begründer der Psychiatrie in der Schweiz und eingedenk seines Todesjahrs 1931 hätte das wegen seines Einflusses auf eine der verheerendsten medizinischen Irrlehren nicht geschehen sollen. Diese sogenannte Rassenhygiene mit dem Ziel der europäischen Veredelung einer phantasierten germanischen Rasse wäre noch zu Forels Lebzeiten, immer deutlicher aber während der Nazizeit und sicher 33 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs schon für Laien als ausgemachter Blödsinn erkennbar gewesen. Die mitteleuropäische Medizin der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und August Forel als einer ihrer Exponenten trug im Bewusstsein von Rassenhygiene als fake und damit nicht irrtümlich-naiv sondern ideologisch zu den Greueln dieser Epoche bei. Forel «lehrte»,
dass man «(f)rüher, in der guten alten Zeit, (…) mit unfähigen, ungenügenden Menschen kürzeren Prozess (gemacht hatte) als heute.»
«Neger» wurden als Vertreter einer niederen Rasse und nicht zur Fortpflanzung legitimiert eingestuft, und ein rassigeres, d. h. «weisses Weib» trete selten mit einem solchen in die Ehe. Ein besonders eifriger Schüler Forels, der gebürtige St. Galler Mediziner Ernst Rüdin (1874–1952) verfasste in seiner Zeit als Professor für Psychiatrie und Rassenhygiene zahlreiche «wissenschaftliche» Artikel zur medizinischen Beförderung und «Reinhaltung» der höchsten Rasse, der Germanen. Er unternahm im Auftrag der deutschen Luftwaffe auch auf Menschenversuchen beruhende Analysen zum Verhalten des Hirngewebes bei Sauerstoffmangel.
Also, wie viel Geschichtsblindheit half 1978 dem Lehrer eines 1945 wegen seiner Nazidienste ausgebürgerten Schweizer Mediziners auf eine 1000er-Note?
ALLES EINE FRAGE DER BASE, VOR
ALLEM BEIM JUMPING
Der Autor ist kein Basejumper, auch wenn er sich mit seinen wiederholten Absprüngen von der Bettkante im Flügelhemd so vorkommt. Und er ist ein Klugscheisser, der das Urteil der Objektspringer über die Gefährlichkeit ihres Hobbys für adrenalingetrübt hält: Hochgefühl durch Sprung in die Tiefe. Basejumping ist Fallschirmspringen von festen Objekten, also von einer Base oder von einem «Stand» im Jargon der Bergsteiger. Das Ganze gibts mit Flügelhemd (Wingsuit) oder plutt. Der Ort des Stands ist entscheidend für das Risiko bei dieser Sportart. Falls direkt unterhalb der Base nichts als Luft und der Base-Träger weit entfernt ist (wie beim Ausleger eines Krans), dann ist die Distanz zum Boden vielleicht zu kurz für die Öffnung des Fallschirms. Falls die Base direkt auf etwas Festem steht (auf einer Felswand), ist sie meist genug hoch über dem Ziel, aber die Flugbahn vielleicht zu nah am Unterbau der Base. In beiden Situationen riskiert der Springer aufzuschlagen: am Boden bzw. an der Wand. Demnach gilt beim Objektsprung wohl erst recht, dass alles eine Frage des Standpunkts ist. Und «alles» ist wörtlich zu nehmen im Sinn von «Leben» oder «Tod».
Über «Tod» führt die Gemeinschaft der Basejumper seit 1981 Buch und die Liste der beim Basejumping tödlich verunfallten Personen umfasst bis anfangs 2019 359 Namen. Zu jedem gibt es eine Beschreibung des Unfallhergangs und bei «COD» (cause of death) steht praktisch immer «impact». Durchschnittlich sind bis jetzt also jährlich 10 junge Menschen bei der Ausübung dieses Sports gestorben (29 im Jahr 2018). In der Sprache der oft involvierten Gerichtsmediziner sind das aussergewöhnliche Todesfälle. Als Mediziner, der es mehr mit Lebenden als Toten zu tun hat, würde ich angesichts der Umstände, die beim Objektsprung zum Tod führen, einen solchen nicht für «aussergewöhnlich» halten. Der Tod durch innere Verletzungen eines ungeschützten Springers, der mit hoher Geschwindigkeit in einen stehenden Gegenstand prallt, erscheint mir naheliegend, insofern nicht aussergewöhnlich. Die Base-
jumper anderseits meinen ebenfalls, dass Todesfälle bei ihrer Sportart aussergewöhnlich seien, gemessen an der Zahl von 15 000–20 000 Sprüngen in der Schweiz pro Saison. In der Zählung von Todesfällen nach Sportart durch das Bundesamt für Statistik rangiert BaseJumping auf Platz 9 von 50; die viel zahlreicheren Bergsteiger belegen Rang 1. Statistische Daten zu interpretieren ist ebenfalls eine Frage des Standpunkts (der Base) und die Zahl der Todesfälle beim Objektsprung müsste wohl eher an der Zahl aktiver Basejumper als an der Zahl der Sprünge gemessen werden.
Und schliesslich noch dies: BASE beim Objektsprung ist auch eine Abkürzung für die Dinge von denen man springen kann: Building, Antenna, Span, Earth. Besonders angesprochen hat mich die Vorstellung, dass man von der Erde springen kann. Von einer Erderhebung würde ja noch gehen. Aber gleich von der Erde, das mutet prä-kopernikanisch an, springen von der Erde als Scheibe; wenn das nicht aufregend ist. Auch Sprachverständnis ist eine Frage des Standpunkts.
BEWÄHRUNGSPROBE
Die Bewährungsprobe, «to stand the test of time», scheint mir als Qualitätstest wissenschaftlicher Erkenntnisse untauglich zu sein. Das soll hier am sogenannten Frank-Mechanismus beziehungsweise Frank-Zeichen illustriert werden. Beide Franks waren Mediziner, die sich mit der Beschreibung je eines Aspekts der Herzmedizin hervortaten. Beide Franks wurden durch die Namensgebung ihrer Entdeckungen «geheiligt»; Otto Frank zu Recht, Sanders Frank zu Unrecht.
Otto Frank war Arzt und Herz-Physiologe (1865–1944). Er entdeckte 1894 eine für den gesunden Menschen wie auch für Patienten mit Herzmuskelschwäche grundlegende Eigenschaft dieses sich im Lauf eines 80-jährigen Lebens gut 2,5 Milliarden Mal mit Blut füllenden und entleerenden Hohlmuskels. Der Herzmuskel entwickelt Kraft in Abhängigkeit seiner Füllung. Otto Frank wies diese Gesetzmässigkeit nach, indem er eine einzelne Herzmuskelfaser wie eine Saite zwischen den zwei Enden eines Kraftmessers einspannte. Bei grösserer Vorspannung durch den Kraftmesser wurde – innerhalb bestimmter Grenzen – eine grössere Kraftentwicklung durch die Herzmuskelfaser gemessen. Eine alltägliche praktische Anwendung dieses «Axioms» ist, dass das Herz-Kreislauf-System ausreichend mit Blutvolumen gefüllt sein muss, damit die Pumpe kräftig arbeiten kann. Den Test der Zeit hat diese wissenschaftliche Erkenntnis mehr als 130 Jahre nach ihrer Erstbeschreibung längst bestanden. Wenn es eine Definition der Anzahl Jahre – sagen wir 50 – fürs Bestehen einer Bewährungsprobe in der Wissenschaft gäbe, wäre das vor gut 50 Jahren erstmalig beschriebene Frank-Zeichen ebenfalls eine gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis. Die von Sanders Frank entdeckte diagonale Furche am Ohrläppchen als Erkennungsmerkmal von Patienten mit zukünftigem Herzinfarkt bzw. dessen Vorstufe Angina Pectoris ist trotz bestandenen Zeittests ein wissenschaftlicher Blödsinn und als Erkenntnis nur abschreckend zu gebrauchen. Wie konnte das Frank-Zeichen so lange bestehen? Wegen seines attraktiven Äusseren, d. h., wegen seiner penetranten
Sichtbarkeit, die im Zeitalter enthemmter Selbstbetrachtung (Selfies) die medizinische Diagnostik befeuert. Der Ohrläppchen-Furche als «Kaffeesatz» für eine «Herzbaracke» fehlt – mit einer Ausnahme –jede biologische Grundlage, welche den Zusammenhang zwischen dem Zeichen und der Krankheit erklären würde. Die Ausnahme ist die Runzelbildung am Ohr oder sonstwo im Alter, einem Risikofaktor für das Auftreten eines Herzinfarkts oder einer Krankheit überhaupt oder für den Tod. Das löcherige Konzept der Ohrläppchendiagnostik wird oft mit «Belegen» von Persönlichkeiten aus der Geschichte zu stopfen versucht. George W. Bush sei ein Frank-Furchen-Träger entnimmt man dem Instantwissensportal. So viel ich weiss, hatte der v. a. ein Alkoholproblem und der Mann mit dem gebrochenen Herz war sein Frank-Zeichen-loser Vize Dick Cheney. Oder der angeblich an einer Herzkrankheit verstorbene römische Kaiser Hadrian (76–138 n. Chr.) muss herhalten, obwohl die Angina Pectoris erst 1772 zum ersten Mal von William Heberden beschrieben wurde.
BLECHBÜCHSEN-PROBE
Die Voraussetzungen zur Blechbüchsen-Probe waren fauliges Wasser und ein tropischer Standort für das offene, mit der Brühe gefüllte Gefäss. Der Schauplatz dieser Geschichte um Gelbfieber und Malaria und um Versuch und Irrtum in der Wissenschaft ist der Isthmus von Panama. Von einer Erhebung dieser 75 km schmalen Landbrücke aus sah Núñez de Balboa im Jahr 1513 als erster der spanischen Neuwelt-Eroberer gleichzeitig den Atlantik und den Pazifik. Dass die Blechbüchsen-Probe vor 175 Jahren hier begann, ist nicht zufällig.
Denn: Eine bequemere Verbindung zwischen den beiden Weltmeeren zu haben als die Schiffsreise um Kap Horn oder den gleich gefährlichen Ritt quer durch die USA schien wünschenswert und lukrativ. Heute schon wieder schwärmt ein machtbesoffener Greis mit orangen Haaren, der MAGAloman, 2. Auflage davon, Panama wegen seiner strategischen Bedeutung mit Geld oder Gewalt einzunehmen, im Duopack zusammen mit Grönland. Alle um 1850 vom kalifornischen Gold berauschten Europäer hätten nach ihrer Reise über den Atlantik die Bahn zurück ins heimische Meer über den Isthmus bevorzugt. Die beim Bahnbau aufgetretenen, meist durch Tropenkrankheiten bedingten Todesfälle wurden auf die Zahl eingesetzter Bahnschwellen geschätzt: 45 000. Die Blechbüchsen-Probe begünstigte den Tod an Gelbfieber und Malaria zuerst massiv, und erst ihr zweiter Teil rettete ab 1900 Leben. Diese Verkehrung einer Seuche in Heilung kam mit der sehr zähflüssig akzeptierten medizinischen Erkenntnis, dass modriges Wasser in offen herumstehenden Gefässen der Gesundheit nicht zu- sondern abträglich ist.
Das geschah so: Die 1850 mit dem Baubeginn der Bahn «anfallenden» Infektions-Patienten waren nach damaliger medizinischer Meinung durch die den tropischen Sümpfen entsteigenden Dämpfe und aufgrund ihres Lotterlebens erkrankt. Hygienische Massnahmen standen – wie heute – in der Krankenpflege weit oben, und die Ameisen von den Fiebrigen fernzuhalten hatte Priori-
tät. Das erreichte man, indem die Bettfüsse der Patientenliege je in ein wassergefülltes offenes Gefäss gestellt zur Ameisenfalle umgebaut wurden. Das Massensterben nahm damit nicht ab, sondern zu, denn die z. B. wegen Durchfall im Spital liegenden Patienten erlagen nun oft dem erst hier eingefangenen Gelbfieber. Aus Angst vor Ansteckung durch die gelben Leichen wurden diese meist nicht begraben, sondern – ! – gepökelt, und findige Ärzte verkauften die konservierten Körper an Medizinschulen in Europa und Amerika, um mit dem Erlös die medizinische Versorgung in Panama zu «verbessern». Richtig verbessert wurde sie allerdings erst um 1900, als die 1848 durch Dr. J.C. Nott aus Alabama erstmals veröffentlichte Erkenntnis in der Medizin endlich ankam: Gelbfieber und Malaria werden durch Stechmücken übertragen und offene Gefässe mit fauligem Wasser, genannt Gülle, ertränken zwar Ameisen, sind aber Moskito-Brutstätten. Der zweite, heilende Teil der BlechbüchsenProbe bestand darin, alle offenen Gefässe mit stehendem Wasser loszuwerden. Dieses seuchenmedizinische Grossprojekt wurde konzipiert und organisiert durch den medizinischen Leiter beim Panama-Kanalbau, Dr. W.C. Gorgas, bei dessen Geburt 1854 – historischer Zufall – Dr. Nott Geburtshelfer gewesen war.
BLUTER BEHANDELN
Eine Blutung des Körpers kaum stillen zu können, heisst Bluter sein. Der Laienbegriff für die erbliche Form mangelhafter Blutgerinnung bringt das Problem viel besser auf den Punkt als der medizinische Name der Krankheit: «Hämophilie» heisst auf altgriechisch «Liebe zum Blut», in bester Annäherung an das Problem (Risiko zu verbluten) «Neigung zum Blut[en]». Als es 1828 um die Taufe des Erbleidens ging, lag der Vorschlag von Medizin-Koryphäen noch näher an der Wirklichkeit «verbluten»: «Hämorrhagie-Philie», übersetzt «Liebe zum Blutfluss». Für den Zungenbrecher wurde eine harmlosere Version offeriert: «Hämorrhaphilie». Per Dekret entschieden sich die Mediziner dann für die rachenschonende, aber widersinnige Fehlbezeichnung «Hämophilie». Und schafften zum Preis inhaltlicher Verfälschung eine Silbenreduktion von sechs auf drei. «Bluter» hat zwei Silben. Der Einwand, die weibliche Form enthalte drei bis vier Silben, gilt hier nicht, denn die von der Erbkrankheit Betroffenen sind in aller Regel Männer. Also auch zur Vererbung der Krankheit sagt der Laienbegriff mehr aus als der Fachbegriff.
Der Gendefekt sitzt auf dem weiblichen Geschlechts-Chromosom X und wird so – via die «Konduktorin» – an die nächste Generation übertragen. Die Krankheit tritt nur auf, falls ein gesundes X-Chromosom fehlt, also bei XY-Chromosomen-Trägern (=Männer). Mit einer Fifty-fifty-Wahrscheinlichkeit ist der Sohn einer Überträgerin des Erbfehlers also Bluter.
Die frühkindliche Sterblichkeit der Bluter wurde schon im 2. Jahrhundert vor Christus im Talmud adressiert: Ein jüdisches Kleinkind wird von der Beschneidung ausgenommen, falls zwei ältere Brüder daran verbluteten.
Die Paarung einer Konduktorin mit einem Bluter würde theoretisch auch Bluterinnen hervorbringen, praktisch gesehen kommt dies aber kaum vor. Das lag bis ins letzte Jahrhundert auch an der tiefen Lebenserwartung von 20 Jahren bei Blutern. Bis ins reproduktionsfähige Alter überlebende Bluter waren von den häufig spontan auftretenden Blutungen in Gelenken, Muskeln,
Knochen, Harnwegen so gekennzeichnet, dass sie von der Fortpflanzung ausgeschlossen waren.
Hämophilie wurde auch «die Krankheit der Könige» genannt, was auf die Rolle ihrer Verbreitung durch Verwandtenheirat, Inzucht, hinweist. So wie im Hochadel kamen in geografisch entlegenen Gebieten abgeschlossene Gesellschaften mit hohem Inzuchtrisiko vor. In einem solchen «Isolat», dem im bündnerischen Safiental gelegenen Tenna, grassierte die gleiche Bluterkrankheit des Typs B wie jene bei Alexei Romanow, dem letzten Zarewitsch und Urgrossenkel der Konduktorin Königin Victoria von Grossbritannien. Er verstarb 1918 im Alter von 13 Jahren – nicht an seiner Krankheit, sondern durch Erschiessen im Zuge der russischen Revolution.
Im Zusammenhang mit der Hämophilie B von Tenna gab es 1910 einen fiktiven Therapieplan gegen die Krankheit unter dem Titel «Die Frauen von Tannò», Autor Ernst Zahn. Er lautete: Ausrottung der Plage durch selbstgewählte Kinderlosigkeit aller Frauen des Dorfes und damit der Konduktorinnen. Weniger realitätsfremde Behandlungen zum Ersatz der bei Blutern fehlenden Blutgerinnungs-Faktoren bestanden bis in die frühen 1970er in Blutspenden von Gesunden. So wurde bereits 1840 erstmals von einer lebensrettenden Bluttransfusion an einen 11-jährigen Bluter berichtet, der nach einer Operation zu verbluten drohte. Seit den 1970ern erfolgte die Gewinnung der Faktoren aus menschlichem Blutplasma, und ab 1989 wurden sie gentechnisch hergestellt, womit das Risiko der Ansteckung von Blutern mit Infektionskrankheiten von Plasmaspendern (HIV, Hepatitis) ausgeschlossen ist. Zur Therapie der Hämophilie A ist seit 2018 ein sog. Antikörper zugelassen, der die Funktion des fehlenden Gerinnungsfaktors VIII übernimmt. Und seit 2022 gibt es für beide Typen von Bluter-Krankheit eine Gentherapie, mit der – einmalig angewendet – die Hämophilie geheilt werden kann. «Kann», denn das kostet (Stand 2023) 3,5 Millionen Dollar.
DAS BUDDENBROOKS-SYNDROM
Die aus dem Konsum dieser Zeilen entstehenden Folgen können für Patienten krankenkassenpflichtig und für Zahnärzte ruffördernd sein. Es geht um ein – potenziell lebensbedrohliches –Syndrom, das eine Kombination verschiedener Körpersymptome ist. Die Rede ist vom Buddenbrooks-Syndrom der Mediziner, nicht vom gleichnamigen und bekannteren der Ökonomen, welches das zunehmende Risiko des wirtschaftlichen Ruins einer reichen Familie mit jeder weiteren ab drei Generation beschreibt. Obwohl: das kann auch ans Läbige go.
Das Buddenbrooks-Syndrom als Begriff hängt natürlich mit Thomas Manns erstem grossen Prosa-Werk, erschienen 1901, zusammen. Im Speziellen mit einer Mikro-Episode daraus, die zeigt, wie akribisch der Schriftsteller das Material für sein Werk recherchierte und wie er diese Recherche dramatisch umsetzte. Der Inhalt des Buddenbrooks-Syndroms wurde also nicht von Thomas Mann erfunden, sondern erzählerisch wiedergegeben, und das so eindrücklich, dass die verbreitete Unkenntnis des Romans unter Humanmedizinern erstaunt. Die eine, für die Erhebung der individuellen ärztlichen Krankengeschichte relevante Stelle in diesem Wälzer, wenn schon nicht gleich der ganze, hätte genossen werden können.
Zusammengefasst geht das so: Senator Thomas Buddenbrook hat Zahnweh, links unten. Der ihn untersuchende Zahnarzt stellt kurz nach Beginn der Inspektion der unteren Mahlzähne einen Eiterzahn fest. Und schlägt dem Senator vor, ihn zu ziehen. Dieser nickt, tritt nach der Entfernung des Zahns auf die Strasse – und fällt tot um. Die vorliegende Version der Geschichte ist die ohne abgebrochene Zahnkrone mit dramatischer Aufladung bis zur fatalen Fehldiagnose. Fehldiagnose? In dubio pro Zahnarzt gehen wir davon aus, dass «Eiterzahn» eine tadellose Diagnose war. Demzufolge litt Buddenbrook an mehr als einem Problem, und das zutreffende eines Eiterzahns links unten war nicht das fatal endende. Also hatte er vor seinem unerwarteten Tod nicht unter Zahn-, sondern Unterkiefer-
schmerzen gelitten. Und genau diesen Zwischenton zu hören, wäre für den Dentisten ruffördernd gewesen, ihn zu überhören dagegen nicht rufschädigend. Denn nicht zu wissen oder vergessen zu haben, dass der blutarme Herzmuskel oder beginnende, oft tödliche Herzinfarkt sich nicht nur als Schmerz in der Brust (Angina Pectoris), sondern auch im Oberbauch, in den Armen, im Rücken, Hals und eben auch im Kiefer bemerkbar machen kann, kann einem Zahnarzt nicht vorgeworfen werden. Dies auch nicht, wenn Thomas Mann scheinbar alles unternahm, aus dem Zahnarzt in seinem Roman, einem Dr. Brecht, einen Kurpfuscher zu machen. Scheinbar, denn als der Gesellschaftsroman im Entstehen war, konnte Thomas Mann den damals ein- oder zweijährigen Berthold Brecht kaum schon so verabscheut haben wie später einmal in seinem Leben.
DOKTOR-SPIELE
Die ganze Familie freut sich seit Wochen darauf und am meisten die Kinder, damals 9- und 11-jährig. Vor lauter gespannter Vorfreude geraten immer wieder das Datum und die Dauer des nahenden Ereignisses durcheinander. Wiederholt wird es auf den 24. März anstatt einen Monat später und auf 2 anstelle von 5 Stunden angesetzt. Gemeint ist die Premiere der beiden Schüler als Standard-, d. h. Schauspiel-Patienten an der Seite einer Fake-Grossmutter vor echten Medizinstudenten und halb echten Examinatoren im Rahmen einer realen, scharf gestellten praktischen Zwischenprüfung. Warum der alte Narr sich besonders freut? Weil er aus beruflichen Gründen dem Rösten beiwohnen darf und er so direkt Zeuge des dämmernden Talents der zwei jüngeren von vier Kindern beim Mimen einer akuten Blinddarmentzündung wird.
Je nach Gemütsverfassung rechnet der Examensbeobachter aber mit Fallschlingen beim geplanten Patient-Doktor-Schauspiel. Dass die Kinder wegen irreführender Fragen der vielleicht nervösen Studenten aus ihrem Blinddarm-Text fallen ist das kleinste der möglichen Risiken und dem vorzubeugen obliegt der Schauspiel-Grossmutter. Ein schwerwiegenderes hängt damit zusammen, dass die Grundidee der objektiven und strukturierten klinischen Examen (OSCE), so der schwindelerregende Fachausdruck für den Fake-Patient-Test, gut gemeint, aber löcherig sein könnte.
Da wir fast alle aktuelle oder zukünftige Patienten (Standardpatienten?) und damit Betroffene sind, soll dieser Verdacht eines gut gemeinten, aber löcherigen Konzepts von OSCE erläutert werden. Das geschieht anhand der zwei Fragen, wann der angehende Arzt auf den echten Patienten losgelassen werden kann, und umgekehrt, wann der Patient auf den Studenten. Möglichst spät, halten gewisse Medizinethiker bzw. professionelle Medizindidaktiker für den ersten bzw. zweiten Teil der Frage fest. Die Studenten seien in ihrer Unbeholfenheit eine Zumutung, wenn nicht gar ein Risiko für die echten Patienten und deshalb müsse an Schein-, Schauspiel-, d. h. Standardpatienten gelernt werden. Das ist gut gemeint und für
den klinisch tätigen Mediziner im Zusammenhang mit Studienanfängern knapp nachvollziehbar. Umgekehrt, und jetzt gehts um die Prüfung des Gelernten und die Meinung der Didaktiker dazu: Die echten Patienten seien in ihrer vielfältigen Präsentation einer einzelnen Krankheit für den Studenten unzumutbar, wenn nicht gar ein juristisches Risiko (Ungleichbehandlung der Prüflinge). Das ist ebenfalls gut gemeint. Für den klinisch tätigen Mediziner ist es aber ein fadenscheiniges Konzept, dessen Löcher bis und mit eidgenössischem Abschlussexamen immer grösser werden. Der praktische Umgang mit dem, was den echten Patienten ausmacht, die Fülle des Ausdrucks der Krankheitssymptome und -zeichen, die biologische Variabilität, Streubreite, und damit das Kerngeschäft des klinischen Mediziners wird an einem Standardpatienten getestet, an einem Phantom gewissermassen, das den echten Patienten nicht annähernd abzubilden vermag.