BEI WITTGENSTEIN UND ARISTOTELES

Theoria
Volume6
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ISBNPrintausgabe978-3-7965-5319-6
ISBNeBook(PDF)978-3-7965-5320-2 DOI10.24894/978-3-7965-5320-2
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3.AristotelischeKünste
3.1Ein-undzwei-wegigeVermögen
3.1.1KinetischeVermögen
3.1.2Zwei-wegigeVermögen
3.1.3Der
3.2VernünftigeFähigkeiten
3.2.1ProduktivesDenkenundapophantischer
3.2.2KunstundwissenschaftlichesVerstehen
3.2.3DerBegriffder hypolêpsis
3.2.4Formund
3.3TechnischeHerstellung
3.3.1BedingungendestechnischenHerstellens
3.3.2WissendesAllgemeinenundHerstellungimEinzelnen
4.1.1VoraussetzungendesLernens
4.1.2StufendesVermögensin
4.2.1DieDefinitionvonVeränderung(
4.2.2
4.2.4VollendetesundunvollendetesTätigsein
4.2.5Die
4.3.1LernendurchÜbung
4.3.2Wahrnehmung,ErfahrungunddemonstrativesWissen
5.1WissenundPrinzipdesWissens
5.1.1PrinzipienerkenntnisdurchIntuition?
5.1.2FormaleIdentität(I)
5.1.3FormaleIdentität(II)
5.1.4FormaleIdentität(III)
DievorliegendeArbeitentspricht–abgesehenvoneinigenwenigenredaktionellenÄnderungen–derDissertation,dieichimFebruar2023inderPhilosophischSozialwissenschaftlichenFakultätderUniversitätAugsburgeingereichthabe.Im ZugederAnfertigungdieserDissertationwurdeichvonmehrerenPersonenin verschiedenerleiHinsichtunterstützt,denenichandieserStellemeinenDank aussprechenmöchte.
AnersterStellemöchteichmichbeiHerrnProf.DDr.ThomasSchärtl-Trendelbedanken,dermirnichtnurzuBeginnmeinesPromotionsstudiumsinunterschiedlichenSituationenmitRatundTatzurSeitegestandenhat.Ichverdanke ihmauchsehrvielewertvolleImpulsefürdieThemenfindungmeinesDissertationsprojektes.HerrnProf.Dr.ChristianSchröerundHerrnProf.Dr.UweVoigt möchteichzumeinendafürdanken,dasssieineinerbürokratischkompliziertenSituationdieBetreuungmeinesProjektesübernommenundentsprechenddas Erst-undZweitgutachtenangefertigthaben.ZumanderenhabensiemirinmeinerZeitalswissenschaftlicherMitarbeiteranderUniversitätAugsburgStudienundArbeitsbedingungenermöglicht,wiemansichbesserekaumwünschenkann. DieseangenehmeAtmosphäreamAugsburgerInstitutfürPhilosophiewarsicherlichnichtnurfürdieArbeitanmeinerDissertation,sondernauchfürmeine persönlicheEntwicklungäußerstfruchtbar,wofürichbeidenbesonderenDank aussprechenmöchte.
FernermöchteichFrauProf.Dr.GeniaSchönbaumsfelddafürdanken,dass sieeinDrittgutachtenzumeinerDissertationverfassthat.Prof.Dr.Michael-ThomasLiskemöchteichdanken,dassermitmirTeilemeinerDissertationineinem frühenStadiumdiskutierthat.UndeinganzbesondererDankgiltHerrnProf.Dr. KlausCorcilius,andessenWorkshopszuAristoteles’ DeAnima ichinTübingen teilnehmendurfte.DieGesprächemitihmhabenmirentscheidenddabeigeholfen,verschiedeneAspektederAristotelischenPhilosophiebesserzuverstehen, auchwennichvielleichtinmanchenPunktenvonseinerAristoteles-Interpretationabweichensollte.SchließlichmöchteichdemSchweizerNationalfondsfürdie finanzielleFörderungbeiderPublikationmeinerArbeitdankensowiederHannsSeidel-Stiftunge.V.,diemeinePromotiondurcheinBegabtenstipendiumausden MittelndesBundesministeriumsfürBildungundForschung(BMBF)gefördert hat.
DergrößteDankgiltletztlichabervorallemmeinerFamilie,meinerFrau JudithundmeinenKindernAnnaundSimon,diemichüberdengesamtenArbeitsprozessanderDissertationbegleitetundvorallemauchausgehaltenhaben. OhneihreliebevolleUnterstützunghätteichdieseArbeitniemalszuEndebringenkönnen.IchhätteabernichteinmalmitderArbeitanfangenkönnen,hätten mirnichtseitjehermeineEltern,ChristinaundManfredRieger,injedererdenklichenLebenssituationzurSeitegestanden.Daichihnenmehrverdanke,alsich eshierinWortenausdrückenkönnte,seiihnendieseArbeitgewidmet.
Basel,März2025
KritikernhatzuRechtaufdieexegetischenMängelinKripkesExpositionhingewiesen.BeigenauerLektürewirdnämlichklar,dassWittgensteindasParadox aus§201nichtnurnichtakzeptiert,sondernentschiedenzurückweist.DerSchein desParadoxenstelltsichnurein–soseineDiagnose–aufgrundeinesMissverständnisses,dassichaberzerstreuenlässt,wennwirdenweiterenKontextberücksichtigen,indemdasRegelfolgeneingebettetist:EineRegelzuverstehenundsie immerwiederrichtiganzuwenden,heißt,eineTechnikzubeherrschen(PU§199). UndsolcheTechnikensindTeileiner(intersubjektivgeteilten)Praxis(PU§202); sielebeninundvonGebräuchen,Institutionen,GepflogenheitendesRegelfolgens(PU§§198u.199).WennwirdieseweitereDimensionimBlickhaben,wird dieRegelskepsisbedeutungslos,oderzumindeststelltdanndasBefolgenvonRegelnfürunskeinProblemdar.UngeachtetdieserplausiblenAntwortaufKripkes Skepsis,dieetwaJ.McDowelloderG.BakerundP.Hackerschonfrühvorgebracht haben, 2 hatsichdieDebatteumdasvermeintliche«Problem»desRegelfolgens dennochfortgesetzt.UndsieistauchnachwievorimGang, 3 mituntersogarin einerWeise,dassindeneinzelnenBeiträgendem,wasWittgensteinüberdasBefolgenvonRegelnsagt,kaummehrBeachtunggeschenktwird. 4 Erscheintnur nochdenNamenfüreinProblemzuliefern,dasfürihnkeineswar.Alleindasist eigentlichGrundgenug,sichnocheinmalgenauermitWittgensteinsÜberlegungenzubeschäftigen.UndsolcheVersuchesindsogarschonunternommenworden.AllerdingswirdWittgensteindabeimeistvorgeworfen,indirektselbstfürdie VerstetigungdieserDebatteüberRegelskepsisundRegelfolgenverantwortlichzu sein.Dennersagt–sodieKlage–schlichtundergreifendzuwenigdarüber, wie derVerweisaufdasBeherrscheneinerTechnik,aufeinePraxisdesRegelfolgens oderaufunsereLebensformdasskeptischeRegelproblemzerstreut.Esbräuchte dazueinesubstantiellereErklärung,eineTheorie(etwaeineBedeutungstheorie, eineTheoriederIntentionalitätoderdersozialenPraxis),diedaserklärt.Dass WittgensteinundeinigederfrühenKritikerKripkes–z.B.J.McDowell–sich dieserphilosophischenArbeitverweigern,liegtmutmaßlich,wiedannbehauptet wird,aneinergrundsätzlichphilosophiefeindlichenHaltung,aneinem«Quietismus»,derjedespositivePhilosophierenverabscheut. 5
Esistnichtschwerzusehen,wiesicheineDebatteselbstamLebenhält, wenneinsolchesBedürfnisnachimmerweiteren,tieferenErklärungenzumbe-
2 SieheMcDowell[1998e]undBaker/Hacker[1984b],fernerMcGinn[1984].
3 Vgl.exemplarischdazuLin[2020]undSpiegel[2022],fernerinAnschlussanGinsborg [2011]dieArbeitenvonSorgiovanni[2018];Miller[2019]undRump[2020].
4 Vgl.exemplarischfürdieseTendenzHattiangadi[2007].
5 Vgl.zudiesemGedankengangSpiegel[2022].DerhierskizzierteQuietismus-Vorwurf wirdetwassubtilervorgetragenvonWright[2007]undsoähnlichauchvonBrandom[1994]: 3–66.
licheAffinitätenzu anti-realistischen Positionen, 8 wennnichtgar–wieihnmanchezulesenneigen–zueinemrelativistischenKonventionalismus 9 oder,schlimmernoch,zueinemradikalenBegriffsnihilismus. 10 WiepasstdaszuAristoteles’ Realismus?
Mankönntesagen,dasseseinzusätzlichesZielderArbeitist,derartigenVorurteilen,insbesonderebezüglichderWittgensteinschenPhilosophieentgegenzuwirken.UnddabeiwirdsichderVergleichmitdemfraglosrealistischgesinnten DenkenAristoteles’erneutalshilfreicherFix-undOrientierungspunkterweisen. Obesgelingenwird,dieanti-realistischenVoruteilegegenüberWittgensteinabzubauen,bleibtnatürlichabzuwarten.ImIdealfallwirdsichzeigen,dassbeidein der(oftrechtabstraktgeführtenundihnenfremden)Realismus/Anti-RealismusDebattenichtallzuweitauseinanderliegenwürden.Esbestehtsodurchausdie Hoffnung,dassunsdieVerbindungbeiderDenkerhelfenkann,nichtnurWittgenstein,sondernauchdieBesonderheitenvonAristoteles’Realismusbesserzu verstehen.
Wieklargewordenseindürfte,handeltdievorliegendeArbeitnichtnurvonWittgenstein;esistebensoeineArbeitüberAristoteles’Philosophie.Eswirdsichaber nichtvermeidenlassen,dieDiskussionderjeweiligenGedankenzunächstinseparateAbschnitteaufzuteilen.AmEndewerdenwirdasDenkenbeideraberzusammenführenkönnen.WiegenauwirimEinzelnenvorgehen,sollhiernochin einemkurzenÜberblickdargestelltwerden.
ZuBeginnwerdenwirvorerstdieobenerwähnte,skeptischeProblematik desRegelfolgensnachzeichnen,wiesiesichzumeineninWittgensteinsÜberlegungen(1.1,S.21),zumandereninKripkesDeutungdieserÜberlegungen(1.2, S.33)präsentiert.IngewisserWeiseistdieseineSichtungderzentralenProbleme, diedienachfolgendenAusführungeninGanghaltenwerden;unddieseSichtung wirderstimzweitenKapitelihrenAbschlusserreichen.EinTeildieserProblemSichtungwirddabeiaberaucheingeradeebenschonangeklungenesNebenthemaderArbeitbetreffen(1.3,S.44):InseinenÜberlegungenzumRegelfolgenattackiertWittgensteinunteranderemeinbestimmtesBild,dassichhinsichtlichmancherseinerElementeals«platonistisches BilddesRegelfolgens»bezeichnenlässt. WittgensteinsKritikandiesenplatonistischenMotivenwollenmanchealsdezi-
8 DieseGegenüberstellungfindetsichinetwabeiCharles[2001].WasAristotelesbetrifft, folgenwirihmweitestgehend,seinerWittgenstein-DeutungwerdenwirimFolgendenwidersprechen,wennauchnichtindirekterAuseinandersetzungmitCharles’Argumenten;wirkommenaufdieseFragenamEndezurück,sieheSchluss.
9 Vgl.zudieserLesartexemplarischHösle[1997]:179–204.
10 DieseSichtvertrittMeixner[2014].
diertenAnti-Platonismus(oderauchAnti-Realismus)verstandenwissen. 11 Und esistgeradedieseTendenzinWittgensteinsDenken,dieAnlasszudenobenerwähntenVorurteilengibt.Aberwiegesagt,manmussdasnichtsoverstehen:J. McDowellhebtdagegenz.B.hervor,dassWittgensteinsKritikvorallemeinem «ungezügeltenPlatonismus»(rampantplatonism)gilt,wasdieMöglichkeiteines moderaten Platonismusnichtausschließt. 12 WirwerdendieseMöglichkeitamEndedeserstenKapitelsinUmrissenskizzieren(1.3.2,S.49),abererstamEnde derArbeit(Schluss)wirdklarwerden,inwieferneinesolchemoderateVariante desPlatonismus(oderRealismus)mitBlickaufWittgensteinsÜberlegungenin Reichweiteist.
ImzweitenKapitelwirdingewisserWeisedasanti-realistischeKontrastprogrammdazuinunseremFokussein.WirwerdeneinebestimmteAuslegungder WittgensteinschenBemerkungenzumRegelfolgendiskutieren,dievorallemdem BegriffderkommunalenÜbereinstimmungeinezentraleRollezuschreibt.Diese kommunitaristischePosition –wiewirsienennenwerden–istdabeiauchdeshalb fürunsereAusführungenrelevant,weilsieexemplarischzeigt,wiemandenPraxisbegriffbeiWittgenstein nicht verstehensollte.NachdemwirdenUrsprungdieserAuslegung,unteranderemineinerAbgrenzungsbemühungzuKripkes«skeptischerLösung»,nachgezeichnethaben(2.1,S.57),werdenwirdieentsprechendenMängelundSchwierigkeitenaufzeigen(2.2,S.70).Wirwerdensehen,dass demBegriffderkommunalenÜbereinstimmungindiesemKontextetwaszugemutetwird,wasernichtleistenkann,nämlich(auchineinemexplanatorischen Sinn)derartgrundlegendzusein,umdasPhänomendesRegelfolgenszufriedenstellendundabschließendzuerklären.
MitBeginndesdrittenKapitelswerdenwirunsdannAristoteleszuwenden: ZunächstwerdenwireineumfassendeSkizzedessengeben,wasAristotelesuntereinerTechnikoderKunst(τέχνη)versteht(3.1,S.93,3.2,S.107u.3.3,S.132). DieseUntersuchungwirdgeprägtseinvoneinerintensivenAuseinandersetzung mitverschiedenenTextenausAristoteles’Werk,wobeisichvielePunkteerstin dendarauffolgendenAusführungenzumErwerbeinerTechnikvollständigklären lassen.DasistdieAufgabedesviertenKapitels,indemwirzugleicheinigeweitere,fürdasAristotelischeDenkencharakteristischeUnterscheidungendiskutieren werden,etwadieUnterscheidungzwischenVermögenersterundzweiterStufe (4.1,S.161).BesondershervorzuhebenistandieserStelleaberdieAnalysedes Aristotelischen ἐνέργεια-Begriffs(4.2,S.176),inderwirbereitszentraleGedankenentfaltenwerden,ohnediederPraxisbegriffbeiWittgensteinundebensobei Aristotelesnichtrichtigverstandenwerdenkann.
11 Vgl.dazuWright[1980]:3–20u.223–238.
12 Vgl.hierzuerneutMcDowell[1996]:Kap.4u.5.