I Heldentum
1Heldentum
Heldenfigurenund (angebliche)Heldentaten – sowie das Bedürfnis nach Helden und Heldentaten und die Bereitschaft,sich vonHelden führenzulassen– sind in der modernen Welt allgegenwärtig (auch wenn der Begriff des «Helden»selbst kaum verwendet wird,weilermit seinem altertümlichen Anstrich einenetwas unernsten bzw. kindlichen Charakter zu haben scheint).Die Darstellungder menschlichen Angelegenheiten, wiesie eineminden Medien entgegentritt, istin erstaunlichgrossem Masse vondem durchsetzt(oder daraufhingetrimmt), was man alsHeldenerzählungen bezeichnenmuss;von Erzählungen von je einzelnen Menschen also,die sich nicht nur durch uneingeschränkteEntschlossenheitauszeichnen,Aussergewöhnliches leisten, sich furchtlos allem Bedrohenden entgegenwerfen und Siege aller Arterringen, sondern auch in ausgezeichneter Weise dazu befähigt zu seinscheinen, Grosses zu erreichen, «Krisen», die einenunüberwindlichen Charakter zu habenscheinen, zu meisternund mit ihremEingreifen – das ist besonderswichtig – stets Erfolg haben. Obwohl sich der moderne Mensch bei rechter Betrachtung fast durchwegsinkomplexeLebenszusammenhänge gestelltvorfindet, diegewiss nichtauf einfache Weisezubewältigen sind,jadie ihmoft gar nicht wirklich zu durchschauenmöglichist, geschweige denn, dassersie irgendwie endgültig meistern könnte,scheint es – gemäss denimUmlaufbefindlichenHeldenerzählungen – am Ende doch grossen Einzelnen (eben Helden)möglich zu sein, die Welt auf denrichtigenWeg zu weisen. Sie allein, nicht Kollektive,strukturierteGesellschaften,politische Körperschaften oder wissenschaftlichesoder garphilosophischesVerständnis scheinen in derLage zu sein,die Welt im Grossen wie im Kleinen zu ordnen oder in (angebliche)«Ordnungen»zurückzuführen.1 Das jedenfalls glaubt oder ersehnt sich eine Öffentlichkeit, die angesichts derKomplexität derAnforderungen der Moderne nicht in der Lagezusein meint, denMut zu eigenem Eingreifenindie Welt aufzubringen.
Heldentum scheint mit demokratischen Einrichtungen nicht zusammengehen zu können, weil solche dem segensreichen Wirken von Helden nur hinderlich zu sein scheinen. Helden sollen angesichts unmittelbar drohender Gefahren die Zeit nicht damit «vertrödeln»müssen (wie man gerne sagt, wenn Helden den Plan betreten),2 sich mit anderen Menschen – mit Dutzendmenschen – abzusprechen und mit ihnen zusammenzuergründen, was jeweils bezogen auf die
bestimmte Situation, in der man sich befindet, gefordert sei. Weil sich Helden (angeblich) durch ein überlegenesWissen und aussergewöhnlicheFertigkeiten auszeichnen, darf man ihnen, wie es scheint, nicht in den Arm fallen. Sie benötigen uneingeschränkten Freiraum, wenn sich ihre uneingeschränkte Durchsetzungskraft entfalten können soll. Helden scheinen eigenmächtig handeln zu müssen, denn allein aus Eigenmächtigkeit scheint Erfolg hervorgehen zu können. Niemand darf ihnen dreinreden – dann wird alles gut, so macht es den Anschein. Und so übermächtig ist das Bedürfnis nach Erzählungen, die mit dem Sieg von Helden enden, dass auch dort, wo sich Siege auch ohne Heldentaten banalerweise auf jeden Fall einstellen müssen – in Sportwettbewerben etwa gibt es am Ende ja zwingenderweise einen Sieger oder eine Siegerin –,wer auch immer obenaus schwingt, als Held gefeiert wird. So erweistsich die Sehnsuchtnach Helden und Heldentaten als mit der Sehnsucht nach Siegen und nach Erfolgen verschwistert: Helden will man folgen, weil sie notwendigerweise siegen;und dazu zu siegen, sind, wie es aussieht, umgekehrt nur Helden in der Lage.
Nicht (geduldignach und nach erworbene) Erkenntnis und gar Erkenntnis, die nie ganz zu einem Ende kommen mag,3 sondern allein aus sich heraus wirkendes Heldentum scheint heldenhaft handelnd die grossen Herausforderungen, welche sich dem Menschen stellen, bewältigen zu können, ja die Welt gar nicht weniger als in der einen oder anderen Form zu «retten»fähig zu sein, wenn das nottut. Ein Held der Vorzeit mag in Bezug auf sich zeigende Aufgaben wirklich einfach stärker, gescheiter oder schlauer gewesen sein als andere Menschen seiner Zeit.4 Moderne Helden dagegen erwecken den Eindruck, – einfach, weil sie Helden sind – über Fähigkeiten zu verfügen, die auf schwer bestimmbare Weise weit über menschliche Bemühungen, etwas zu bewältigen zu versuchen, hinausgehen (ohne dass man, wie man meinen mag, bestimmen könnte, worin diese Fähigkeiten bestehen).5 Und am Ende scheint man ihnen dafür, dass sie eingreifen, dankbar sein zu müssen – ohne sie würde man, wie es scheint, ja allenfalls hilflos untergehen.
Man könntedas auch anders sagen:Esscheint so, als ob die Welt auf dem Weg in die Moderne, ohne, was damit verbunden ist, ganz wahrgenommen zu haben, geschweige denn reflexiv verarbeitet zu haben, dass sie in Undurchsichtigkeiten und Komplexitäten hineingewachsen ist, das Bild des traditionellen Helden unverändert bewahrt habe, mit dem Ergebnis, dass eine moderne Welt immer weiter von archaischen Bildern geleitet ist.6 Eine Welt, auf die archaische Helden mit den ihnen eigenen Fähigkeiten mit Erfolg zugreifen könnten, gibt es natürlich in Wirklichkeit kaum mehr:folglich ist die moderne Welt, recht besehen, mittels archaischer Heldendaten gar nicht mehr zu gewinnen.(Es ist unter diesen Umständen nicht erstaunlich, dass in der modernen Welt medial aufbereiteter Sport eine so grosse Rolle spielt. Das hat offensichtlich eine kompensatorische Funktion:InWettkämpfen aller Art scheint es tatsächlich immer weiter auf Helden und Heldinnen anzukommen;auf Menschen, die zu sich hart sind, die
auf.19 Das Gleiche gilt für die Helden des Showbusiness – auch sie scheinenihre Position kraft einer ihnen innewohnenden Befähigung errungen zu haben, die nicht ihresgleichen hat und sich «durchgesetzt»hat, weil sie aussergewöhnlich ist. Als solche Genies haben sie ihre Stellung immer zu Recht erworben, wie es scheint;und man zollt ihnen nicht nur Hochachtung, weil sie Aussergewöhnliches leisten mögen, sondern weil sie eine Form von Unfehlbarkeit in sich tragen, die alles überstrahlt.20
Als die grossen Helden der Neuzeit gelten (und inszenieren sich)aber vor allem jene Personen, die sich gerne als «Wirtschaftsführer» bezeichnen. Sie führen, so scheint es, ihre Unternehmen mit grossem Erfolg durch die Fährnisse des Wirtschaftslebens, wissen, was diesen nottut, opfern sich gleichzeitig für diese auf (traditionellerweise kommen sie laut einem immer wieder aufgewärmten Klischee mit vier Stunden Schlaf pro Tag aus21), bewegen sich, wie es sich für solche Helden ziemt, in einer abgehobenen Sphäre und erzielen so zu Recht, wie es scheint, ein astronomisches Gehalt. Sie – allein – wissen, wie man ein Unternehmen zu steuern hat, verstehenesdort, wo schwache Alltagsmenschen schwanken würden, «harte, aber notwendige»Entscheidungen zu fällen und etwa Massenentlassungendurchzusetzen, und den ganz besonders Fähigen unter ihnen gelingt es, ihr Unternehmen auf die Position der Nr. 1inder Welt zu führen. Ohne ihre unbeirrte Führungskraft würdendie Wirtschaft und damit all die Menschen, die von ihr abhängig sind, leiden.22 (Bloss noch einen Abklatsch des Heldentums solcher Wirtschaftsführerbilden Politiker und Politikerinnen, und in der Tat vollziehen sie ja oft nur noch nach, was ihnen von jenen eingesagt wird.23 )
Erst in Filmen und vergleichbaren Produkten nimmt dann die Heldenphantasie jenen kruden Charakter an, der wohl unausgesprochen im Hintergrund der Sehnsucht nach Helden steht:Inihnen begegnen wir Helden, die nicht nur furchtlos das Böse der Welt, finstere Männer, welche die «Weltherrschaft»anstreben, wildgewordene Maschinen und Ausserirdische, welche die Macht auf der Erde ergreifen wollen, bekämpfen oder sich Katastrophen entgegenstemmen und am Ende immer siegen werden, sondern solche Proben von Heldentum auch stets, ohne auch nur einen Momentzuzögern, ablegen.24 Auf diese Weise garantieren sie in einer Welt voll von Gefahren die endgültige Sicherheit, dass jemand diese Gefahren bewältigenwird.
Aus der phänomenologischen Beschreibung dessen, worin die Heldentaten der genannten Helden bestehen, kann man ableiten, worin die Sehnsuchteiner Gesellschaft besteht, die sich solche Helden wünscht. Diese Sehnsuchthat zwei Komponenten. Zum einen – um mit dem Offensichtlichen zu beginnen – bleiben Helden nach Überwindung grosser Schwierigkeiten immer siegreich. In dieser Eigenschaft bieten sie eine Kompensation für jenes weitgehend erfolglose Leben, das ihre Bewunderer und Bewunderinnen führen:Invielfacher Weise mögen sich diese selbst als Geschobene sehen und kaum in der Lage sein, ihr Leben in irgendeiner Weise selbst bestimmen zu können. Ihr Leben fliesst ohne
aufzudrängen.Selbst mag man dem Leben nicht gewachsen sein – der Held jedoch scheint es zu sein, und wenn man ihm folgt, scheint man in die richtige Richtung zu schreiten. Oder dann mag man sich auch als kleiner Mensch jedenfalls dazu verpflichtetfühlen, sein Schicksal wie ein Held zu ertragen, indem man duldet, was einem aufgetragenwird, oder dann im Kleinen von jenen Menschen, die einem untergeben sind, seinerseits Tapferkeit zu verlangen.
Ein weiterer Aspekt des Heldenbildes – ein Aspekt der im Allgemeinen übersehen wird –,besteht darin, dass mit ihm die Unterstellungeinhergeht, dass Helden in ihrem Handeln und Trachten immer «rein»seien. Eine Moderne, die nun wirklich nahezu alles menschliche Handeln verdächtigt, in Wirklichkeit,wie man gerne mit grossem reduzierendem Gestus sagt, von Macht- und Geldgier gesteuert zu sein, lässt alle solchen Zweifel fallen, wenn es um das Eingreifen von Helden geht. Wie der Begriff der «Ordnung»gewissermassen an sich gut zu sein scheint, scheinen auch Helden nicht anders als uneingeschränkt gut und uneingeschränkt selbstlos zu agieren;und so darf auch an ihnen keine Kritik geübt werden, so wenig Kritik daran geübt werden darf, wenn jemand im Namen von Ordnung in die Welt eingreift. Man könnte zwar wissen, dass es auch verbrecherische «Ordnungen» gibt, dass also nicht alles, was sich als «Ordnung» ausgibt, eben weil es sich dabei um eine Ordnung handelt, gut ist (wie etwa gesellschaftliche «Ordnungen»,die kategorisch Frauen ausgrenzen) – und so könnte man auch zum Schluss kommen, dass ein Held, erst recht dann, wenn er sich jene Machtbefugnis herausnimmt, die einem Helden (angeblich) zusteht, Gefahr läuft, seine Stellung zu missbrauchen. Helden handeln aber, wie einem suggeriert wird, immer nur selbstlos:Esscheint ihnen nur darum zu gehen, Not abzuwenden;und angeblich ist zusätzlich auch nur allein das gut,was der Held mit seinem Agieren umsetzt.27 Indem man sich den Platz des Helden sichert – könnte man sagen –, erreicht man in einer Welt, die sonst alles kritisiert, die Stellung eines unfehlbaren Menschen und eines Menschen gleichzeitig, der als Held uneingeschränkt handeln darf. Im Kleinen mag eine Heldin oder ein Held sagen:«Ich habe ja immer nur das Bestegewollt»und so alle Kritik zum Schweigen bringen (wie könnte man jemanden kritisieren, der «nur»das Beste will?) – und im Grossen erreicht der Held eine Stellung,die sonst mit ihrem gottgleichen Charakter für «normale»Menschen unerreichbar zu sein scheint. Der Held mag mit seinem, wie es scheint, uneingeschränkt selbstlosen Handeln einen Status zu gewinnen, der dem Menschen sonst verwehrt ist:Während Alltagsmenschen nie gewiss sein können, ob ihr Handeln gerechtfertigt sei, ja – mit Sartre – erkennen müssen, dass sie ihr Leben immer allein auf eine unsichere Wahl ausrichten können, mündet Heldentum für den Helden in eine Form von Gewissheit, die ihn aus der Masse der anderenMenschen heraushebt. (Ermag dann wirklich meinen, dass nichts anderes, als was ihm richtig erscheint, getan werden müsse.)Und es ist diese (angebliche)Gewissheit, die ihn ebenso zu einem Gegenstand der Verehrung macht wie seine Taten.
entscheidende Funktion zukommt, formt das Weltverständnis des Menschen selbst in versteckter Weise um;sonämlich, dass das so beschworene Heldentum einer Deutung des Geschehens in der Welt Geltung zu verschaffen versucht, die zu ihm passt,statt dass es umgekehrt die Welt, so wie sie vom Menschen vorgefunden ist, ihren Gang gehen liesse und sich erst dann ihrer annähme,wenn es seiner bedürfte.Indiesem Fall kämeHelden allein der Status von Helfernzu, die man herbeiriefe, wenn Not es erforderte;wie etwa die Helden der Feuerwehr –die Feuerwehr beschränkt sich bekanntlich darauf, bei Bränden zur Stelle zu sein; sie behauptet nicht, erst im Kampfgegen Feuer komme der Mensch zu sich … Das Narrativ des Heldentums will aber mehr: Es will sich als jenes Prinzip etablieren, das (angeblich)imGrunde die Welt im Innersten gestaltet.32
Am Beginn aller Auseinandersetzung mit Heldentum muss die folgende Beobachtung stehen:Helden inszenieren sich immer damit, oft äusserst wortgewaltig, dass sie es seien, die zu handeln wagten – im Gegensatz zu Menschen, die zögerten, die sich in einem Hin und Her von Gedankenbewegten33 oder die eine Gefahr verleugneten oder nicht erkennen könnten.Darin nimmt die Unterstellung Gestalt an, dass allein Handeln von Gutem sei.34 Wie das mit anderenBegriffen der Fall zu sein scheint (etwa dem der «Ordnung»), scheint im Begriff des Handelns schon enthalten zu sein, dass zu handeln an sich (also ohne weitere Bestimmung) gut sei.35 Wieso aber solltedas der Fall sein?Eine sorgfältigere Betrachtung der immer so schnell als unbezweifelbar angezeigt erscheinenden Forderung nach Handeln,wie sie mit der Verherrlichung von Heldentum einhergeht, zeigt zunächst, dass diese in die Irre weist:Eskann kein Handeln an sich, kein Handeln also ohne Bezug auf Ziele, geben.36 Handeln ohne Ausrichtung auf Ziele bestünde nur aus einem reinenTun, wie es etwa die ersten Strampel-Bewegungen eines Säuglings, mit denen sich ein solcher erst nach und nach die Befähigung zu einem zielgerichteten Einsetzenseiner Kräfteerwirkt, oder aus Übersprungshandlungen, etwa ziellosem Hin- und Herlaufen, wie es zum Beispiel mit Nervositätvor einem Auftritt verbunden ist, darstellen. Blosse Tätigkeit wird zu Handeln erst damit, dass sie sich in einem sinnvollen und bestimmten Kontext von Absichten bewegt.
Dabei sind es bei rechter Betrachtung zwei Gesichtspunkte,welche zu beachten sind (umgenau zu sein). Mutlosigkeit scheint darin zu bestehen, dass man Bedrohliches geschehen lässt, Bedrohliches einfach hinnimmt oder gar zu bestreiten versucht, dass Bedrohliches besteht. Ohne weitere Überlegung scheint sich dann Handeln damit hervorzutun, dass es, wie man gerne sagt, «das Steuer herumwirft»,essich einem Bedrohlichen entgegenstemmt und so eine Wirkung oder Resultate erreicht. Dazu sind Helden fähig, weil sie – im Hinblick auf eine zum Voraus definierte Aufgabe – jene Mittel finden, welche dazu geeignet sind, diese zu bewältigen;damit etwa, dass sie stärkeroder schlauer sind als NichtHelden oder von ihrer Kompetenz durch und durch überzeugt sind oder dadurch, dass sie sich (etwa als Sportleroder Sportlerinnen)auf der Basis geeigne-
ter Vorbereitung, Training oder Taktik (oder dann mittels Betrugs)der gestellten Herausforderung besser gewachsen erweisen als ihre Konkurrenten und Konkurrentinnen.
Davon unterschieden werden muss aber die Bestimmung der Aufgabe selbst. Bedrohungen von aussen, Anforderungen, wie sie Wettbewerbe oder Wettrennen und dergleichenstellen, sind im Augenblick, da der Held oder die Heldin den Plan betritt, schon gegeben und fest umschrieben;und deren Leistung besteht dann darin, eine bereits bestimmte Aufgabe besser zu lösen als ein Normalsterblicher. Weil sie die Aufgabe, die sich ihnen stellt, kennen, ja weil diese allenfalls seit Jahrzehnten gleich oder jedenfalls ähnlich gebliebenist, können sie sich auf ihre Taten gut einstellen: Ihre Vorbereitung kann nutzbar machen, dass diese bekannt ist. Herausforderungen, wie sie sich dem Menschen stellen, zeichnen sich aber auch dadurch aus, dass zwar eine Bedrohungvorliegt, aber allenfalls nicht wirklich verstanden wird, worin die Elemente dieser Bedrohung bestehen. Die Leistung, die unter solchen Umständen gefordertist, besteht darin,überhaupt zu verstehen, was der Fall ist – effektives Handeln kann ja erst dann einsetzen, wenn geklärt ist, worin eine Bedrohunggenau besteht. Heldentum im bekannten Sinn kann erst dann zur Entfaltung kommen, wenn zunächst diese Aufgabegelöstist.37 Weil viele Herausforderungen des Alltagslebens darin bestehen, Standardprobleme (also Aufgaben,die bekannt sind)zubewältigen, wird diesem Gesichtspunkt zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Blick auf Herausforderungen, wie sie die Moderne mit der ihr eigenen Komplexität zeigt, lässt einen aber erahnen, wie gross die Bedeutung dieses Befundes ist.38 Das wirtschaftliche Geschehen im Rahmen eines Wirtschaftsraumes etwa, das Weltklima, die Wirkungsweise eines Virus (umdiese Beispiele zu nennen)ist, als Ergebnis der Interaktion einer Unzahl von abstrakten Faktoren, schwer verständlich oder über den Umstand hinaus, dass sich in ihrem Zusammenhang eine Bedrohungeinzustellen scheint, nicht (oder noch nicht oder gar überhaupt nicht)durchschaubar. Die erste Handlung muss unter diesen Umständen darin bestehen, das zu verstehen, dem man gegenübersteht (oder jedenfalls sinnvolle Hypothesen in Bezug darauf zu entwickeln und diese dann methodisch zu überprüfen). Erst wenn das der Fall ist, ist es möglich, Ziele zu definieren, und erst dann kann, als Folge davon,eine sinnvolle Form von Handeln einsetzen.39 Blosses Handeln dagegen läuft immer Gefahr, hinsichtlich der Auffassung dessen, was auf dem Spiel steht, in die Irre zu gehen (nicht zuletzt deswegen, weil man schnell handeln will); mit dem Ergebnis, dass man zwar handelt, abernicht ursächlich in das Geschehen eingreift, sodass eines Handeln,trotz seiner Entschlossenheit, allenfalls ergebnislos ist (oder sogar Schaden setzt40 ). (Umder Vollständigkeit willen muss man darauf hinweisen, dass ein solcher Zusammenhang auch zu Manipulationszwecken verwendet werden kann:Indem man nicht wirklich bestehende Gefahren beschwört, kann man – als scheinbaralternativlos geforderte Reaktion darauf – dann fragwürdige Handlungen vornehmen.41)Den weiteren Darlegungen vorausgreifend, muss
man anfügen,dass dann, wenn die Ziele unklar sind, nicht herkömmliches Heldentum, sondern eine ganz andere Form von Entschlossenheit gefordert ist, die sich unheldisch ausnimmt:die Bereitschaft, sich zuerst Wissen zu erarbeiten, bevor man handelt.
Für viele Herausforderungen des Alltags mag es ein gut bewährtes Wissen einerseits in Bezug auf Ziele und andererseits in Bezug auf sinnvolle Handlungsweisen geben, sodass man nicht wahrnimmt, was für Herausforderungen Handeln vorausgehen. Wenn es zu regnen beginnt, wird man zum Beispiel (jedenfalls als Nicht-Engländer)unbedingt vermeiden, nass zu werden, indemman einen Schirm aufspannt. In solchen Situationen mag man ohne jede bewusste Reflexion sofort handeln können;aber nicht, weil eben doch reines Handeln angezeigt sein könnte, sondern weil in ihrem Fall die Ziele des Handelnsund das Handeln selbst konventionell bestimmt sind und man eingeübten Mustern folgen kann.42 In Bezug auf schwierige, ungewohnte oder gar neuartige Herausforderungen muss das Augenmerk hingegen, bevor man handelt,auf das Verständnis dessen, was der Fall zu sein scheint, gelegt werden. Ungewohnte oder neuartige Herausforderungen bringen es mit sich, dass es in Bezug auf sie keine schon bestehenden Muster gibt: Wie man in Bezug auf sie handeln muss, muss man zuerst ergründen. Weil Handeln ja in Tat und Wahrheit nicht mehr als ein Ausführen von etwas darstellt, aber keinen Eigenwert haben kann, bietet es selbst keinen Ausrichtungspunkt.43 Das aber wiederum bedeutet, dass, was neuartige Herausforderungen betrifft, zum einen die Bestimmung der Ziele, auf die Handeln ausgerichtet ist, und zum anderen dann die Bestimmungdessen, was in Bezug auf diese Ziele erfolgversprechend erscheint, von einem urteilenden Subjekt verantwortet werden muss. Verantwortet werden müssen diese Bestimmungen, weil niemand, auch kein Held, mit Gewissheit wissen kann, was angezeigt ist. Es kann kein Handeln geben, das in sich Gewissheit trüge:Als Ergebnis einer Entscheidung trägt jedes Handeln vielmehr jene Ungewissheit,die mit jeder Entscheidung hinsichtlich seines Ziels wie hinsichtlich des gewählten Vorgehens im Rahmen der vorgefundenen empirischen Welt verbunden ist, in sich.44 (Alles andere ist reiner Aktivismus – man «muss sofort etwas tun», sagen die Politiker und Politikerinnen dann gerne, weil sie nach Sichtbarem drängen und sich als Herr von Situationen darstellen wollen.45 )
Zu handelneinerseits und zu verstehenzuversuchen andererseits stehen selbstverständlich nicht in einem Gegensatz zueinander, wie Helden bzw. eine vom Bilddes Heldentums geprägte allgemeineWahrnehmung – oder einfach beschränkteDummheit – behaupten, sondern sie müssen sich die Hand reichen.46 Dabei kann man (präzisierend)erkennen, dass zu handeln allein die notwendige Bedingung dafür bildet, dass etwas entstehen kann,47 nicht aberdie hinreichende Bedingungdafür, dass etwas wirklich entsteht oder gar etwas Gutes entsteht. Zu unterstellen, dass «nun handeln»nötig sei, nicht Überlegen, setzt also entweder ein (letztlich kindliches)Vertrauen darauf voraus, dass alles zu