Lukas Niederberger. Wer sorgt morgen fürs Gemeinwohl?

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Lukas Niederberger

WER SORGT MORGEN FÜRS GEMEINWOHL?

Zivilgesellschaft und Freiwilligenarbeit in der Schweiz

in der breiten Bevölkerung zu verankern, hat eine offene Gesellschaft, die auf Freiheit, der Herrschaft des Rechts und der Volkssouveränität gründet, keine Überlebenschance.

In der Kirche war früher oft von Reue und Umkehr die Rede. Diese Botschaft ruft Lukas Niederberger nun in der Gesellschaft in Erinnerung. Es ist zu wünschen, dass viele Leser:innen –besonders Verantwortliche und Multiplikator:innen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft – sich mit ihr auseinandersetzen und sie in ihr Handeln integrieren.

politische Gemeinden würden ohne Freiwillige nicht funktionieren. Damit gesellschaftlich notwendige Dienste auch in Zukunft garantiert und finanziert werden können, wird die Gesellschaft noch stärker auf freiwilliges Engagement angewiesen sein und dieses entsprechend stärker fördern müssen.

Dieses Buch erscheint ein Vierteljahrhundert nach dem UNO ­Jahr der Freiwilligenarbeit. Seit 1985 wird jedes Jahr weltweit am 5. Dezember die Freiwilligenarbeit gewürdigt. In der Universal Declaration on Volunteering heisst es:

«An der Schwelle eines neuen Jahrtausends ist die Freiwilligenarbeit ein wesentliches Element aller Gesellschaften. Freiwilliges Engagement ist ein Baustein der Zivilgesellschaft. Diese Erklärung unterstützt das Recht aller, sich frei zu versammeln und freiwillig zu engagieren, unabhängig vom kulturellen und ethnischen Ursprung, von Religion, Alter, Geschlecht sowie physischen, sozialen oder wirtschaftlichen Verhältnissen. Alle Menschen sollen das Recht haben, ihre Zeit, ihr Talent und ihre Energie anderen im Rahmen von Einzel­ oder Kollektivmaßnahmen frei anzubieten, ohne eine finanzielle Entschädigung dafür zu erwarten.»

Die Erforschung und die Förderung von Freiwilligenarbeit wurden in der Schweiz im Jahr 2001 durch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG ) angestossen. In regelmässigen Abständen von drei bis fünf Jahren hat sie seitdem fünf Freiwilligen­Monitore mit landesweiten Befragungen durchgeführt, die – ähnlich dem deutschen Freiwilligensurvey – differenzierte Einblicke in das unbezahlte Engagement für das Gemeinwohl bieten. Von 2013 bis 2022 war ich als Geschäftsleiter der SGG verantwortlich für drei Freiwilligen­Monitore und leitete zudem zahlreiche Fachtagungen zu den Themen Freiwilligenarbeit, Gemeinwohl und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Wie hat sich Freiwilligenarbeit in den letzten 25 Jahren entwickelt? Und für welche Herausforderungen muss die Gesellschaft

in den kommenden 25 Jahren Lösungen finden? Dieses Buch bietet Anstösse zum Reflektieren und für die politische Debatte.

Im ersten Kapitel werden die unterschiedlichen Formen des tätigen Menschen thematisiert – von der Hausarbeit über Angehörigenbetreuung bis zur Freiwilligenarbeit und der Erwerbsarbeit. Das zweite Kapitel beleuchtet Aspekte der Freiwilligenarbeit sowie deren historische Entwicklung und künftige Perspektiven. Im dritten Kapitel wird untersucht, wie Staat, Wirtschaft, Vereine, Kirchen, Medien, Schulen und Stiftungen die Freiwilligenarbeit fördern können und wie sektorübergreifende Kooperationen dieses Engagement noch effektiver unterstützen könnten. Schliesslich widmet sich das vierte Kapitel den zukünftigen Herausforderungen und den Möglichkeiten zur gezielten Förderung der Freiwilligenarbeit.

Dieses Buch will zur Stärkung von Freiwilligenarbeit beitragen. Darüber hinaus will es in der Schweiz das Bewusstsein für den Dritten Sektor – die Zivilgesellschaft – wecken: für den Raum kollektiven Handelns zwischen und jenseits von Staat, Wirtschaft und Privatbereich. Zwar sind drei von vier Erwachsenen Mitglied in mindestens einem der rund 100’000 Schweizer Vereinen. Fast jede zehnte Person bekleidet ein Ehrenamt in einem Verein, für das sie für eine bestimmte Zeit gewählt wird. Und es gibt 13’000 gemeinnützige Stiftungen. Gleichzeitig wirken mehrere tausend berufstätige Bürger:innen in den lokalen und regionalen Parlamenten und Regierungen des politischen Milizsystems. Staat und Zivilgesellschaft sind eng miteinander verzahnt. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb wird in der Schweiz die Bedeutung der Zivilgesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements selten thematisiert. 25 Jahre nach dem UNO ­Freiwilligenjahr soll aufgezeigt werden, dass und wie zivilgesellschaftliches Engagement stärker gefördert werden kann und muss.

Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen

Lukas Niederberger Rigi Klösterli, im Januar 2025

Tabelle 1: Die Entwicklung unserer Tätigkeiten (1997–2020)

Tätigkeitsbereiche

Quelle: Schweizerisches Bundesamt für Statistik: SAKE-Befragungen 1997/2020. Lesebeispiel: Im Jahr 1997 leisteten Frauen im Alter von 16–70 Jahren in der Schweiz im Durchschnitt 861 Stunden unbezahlte Arbeit. Im Jahr 2020 waren es 738 Stunden.

Männern zu, was stark mit der demografischen Entwicklung zusammenhängt. Auch in diesem Bereich leisten Frauen noch immer deutlich mehr als Männer. Die formelle Freiwilligenarbeit in Zivilgesellschaftlichen Organisationen sank bei beiden Geschlechtern. Männer leisten in diesem Bereich mehr als Frauen, weil fast die Hälfte der Freiwilligenarbeit in Sportvereinen stattfindet. In der informellen Freiwilligenarbeit, das heisst bei Tätigkeiten ausserhalb von Organisationen, insbesondere Care­Arbeit in der Nachbarschaft, sind Männer heute fast doppelt so viel tätig wie vor 30 Jahren. Aber auch in diesem Bereich leisten sie noch immer weniger als Frauen. Dass Männer in der Care­Arbeit weniger engagiert sind als Frauen, hängt mit der traditionellen Sozialisation zusammen. Insgesamt leisteten Männer im Jahr 2020 etwa 25 % mehr unbezahlte Arbeit als im Jahr 1997, während sie bei den Frauen leicht abnahm. Im gleichen Zeitraum nahm bei den Männern die Erwerbsarbeitszeit leicht ab, während sie bei den Frauen zunahm. Zählt man die formelle Freiwilligenarbeit und die informelle Freiwilligenarbeit von Frauen und Männern zusammen, kommt man im Jahr 2020 auf rund 620 Millionen

Darum betrachtet sie die Angehörigenbetreuung bis heute als Teil der Haushaltsproduktion. In Befragungen und auch in diesem Buch wird von informeller Freiwilligenarbeit im engen Sinne gesprochen, wenn betreute Personen nicht miteinander verwandt und befreundet sind, und von informeller Freiwilligenarbeit im weiten Sinne, wenn es sich bei den Begünstigten um Verwandte und Freund:innen handelt. In der folgenden Tabelle werden verschiedene Tätigkeiten der informellen Freiwilligenarbeit im engen Sinne (Spalte 2) sowie im weiten Sinne (Spalte 3) dargestellt.

Tabelle 2: Informelle Freiwilligenarbeit im engen und weiten Sinn

Art der informellen Freiwilligenarbeit Eng Weit

von Beeinträchtigten

bei gemeinnützigen Aktivitäten

informell freiwillige Aktivitäten

Quelle: Freiwilligen-Monitor Schweiz 2020. Lesebeispiel: 8 % der befragten Personen über 15 Jahren betreuen freiwillig Kinder ausserhalb von Organisationen und ausserhalb des privaten Umfelds, 11 % betreuen Kinder im privaten Umfeld (Mehrfachnennungen waren möglich).

Bezahlte Arbeit umfasst Tätigkeiten im staatlichen, privatwirtschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen Sektor. Bezahlte Tätigkeit kann auch staatlich erzwungen werden, etwa in der Armee, im Zivildienst und Zivilschutz, in einem politischen Amt oder anstelle einer Geldbusse oder Gefängnisstrafe. In der Schweiz bildet die politische

Milizarbeit einen Spezialfall der bezahlten Tätigkeiten, weil sie wie die Freiwilligenarbeit dem Gemeinwohl dient. Milizarbeit wird nicht oder nur teilweise mit einem Marktlohn vergütet. In der Schweiz wirken beim Bund, in den 26 Kantonen und rund 2000 Gemeinden etwa 150’000 Bürger:innen in öffentlichen Ämtern. Milizarbeit erfolgt in der Regel freiwillig, es sei denn, eine Gemeinde findet nicht genügend Gemeinderät:innen, Kommissionsmitglieder oder Stimmenzähler:innen. Männer, die keinen Feuerwehrdienst leisten, bezahlen eine Ersatzsteuer.

Fazit

Der Mensch ist ein tätiges Lebewesen, und er wird es bleiben. Es wird immer Tätigkeiten geben, für die Erwerbstätige sehr gut bezahlt werden, während es andererseits immer Arbeiten geben wird, für die Arbeiter:innen schlecht und Freiwillige gar nicht bezahlt werden. Dies ist eine Frage der Lohnpolitik, die noch nie gerecht war. Es gibt aber auch zahlreiche Tätigkeiten, die wir aus intrinsischen und altruistischen Motiven ausüben und für die wir bewusst kein Geld annehmen wollen. Dass Menschen immer älter werden, bedeutet für die Zukunft, dass sich mehr Menschen im jungen Rentenalter gesellschaftlich engagieren können, und zugleich, dass es mehr Hochbetagte geben wird, die es zu betreuen gilt. In Zukunft werden auch weniger junge Menschen mit Erwerbsarbeit und Steuern für mehr ältere Menschen aufkommen müssen. Ob die mittlere Generation neben der Erwerbs­ und Familienarbeit künftig noch Zeit und Energie für unbezahlte Freiwilligenarbeit haben wird, ist alles andere als sicher. Darum braucht es dringend neue und innovative Lösungen, um die in der Gesellschaft notwendigen Dienste langfristig garantieren und finanzieren zu können.

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