JB43:Gabriele Brandstetter .Tanz sehen – Fragen zur choreographischen Praxis

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Was geschieht in Platons Höhle, wenn man einen Gefangenen befreit? Das ist etwas, was man nie sagt: die Gefangenen rühren sich nicht, und die philosophische Angelegenheit kommt ins Drehen, fährt los, hebt ab …. Offensichtlich ist alles davon beherrscht, mit dem Sehen zu enden, aber dennoch, der Anfang liegt im Drehen und in der Bewegung.

Und Nancy fügt hinzu: «Platon lebte übrigens noch in einer Welt, in der man tanzte, Gymnastik machte.»1

Im Folgenden soll es darum gehen, elementare Aspekte des Tanzes als Kunstform der Bewegung zu beleuchten. Das bedeutet – analog zum Diskurs und zu den Interpretationsweisen in anderen Kunstwissenschaften –, das Wissen und die Praxis im Feld des Tanzes zu umreißen durch die Kunst der Ekphrasis. Das heißt, die Herstellung, das Material und die Techniken, die Geschichte und die Ästhetik der Tanzbewegung durch Rede, durch «Reden über», darzustellen und zu interpretieren. Ekphrasis und die tanzspezifischen Methoden wie etwa die Bewegungsanalyse werden eingesetzt, um das Sehen und das sinnliche Wahrnehmen zu benennen und um das Verstehen und die unendliche Palette der Auslegungsmöglichkeiten zu konturieren.2

1 Jean-Luc Nancy im Interview mit Véronique Fabbri, in: Allesdurchdringung. Texte, Essays, Gespräche über den Tanz, übers. von Laura Sperber, Andreas Hiepko und Ronald Voullié, Berlin 2008, 60–88, hier 88.

2 Vgl. Yvonne Hardt: Tanz und kulturelle Bildung erforschen: Eine Einführung, Bielefeld 2023.

ten aus Tanz-Stücken.3 Vielmehr geht es um einen Einblick in die «Prä-Position» von Posen, von Phrasen – das heißt in das Werden von Bewegung und das Zeigen der damit verbundenen Gestaltungsaufgaben.

Warum ist das hilfreich für das Sehen von Tanz? Weil es Einblick gibt in die Praxis der Bewegungsforschung. Denn das ist es, was TänzerInnen tun: mit Bewegung Bewegung erforschen; und das ist es, was zugleich und auf methodisch andere Weise Thema und Gegenstand einer aktuellen Tanzwissenschaft ist.

Diese Praxis beinhaltet ein Wissen, das alle Menschen teilen; ein Wissen, das uns zumeist unbewusst ist, das aber gleichwohl beim Sehen von Tanz unterschwellig angesprochen wird. Es ist ein körperliches Erfahrungswissen, das aktiviert wird und unsere ästhetische Wahrnehmung färbt – je nachdem, wie dieses Wissen emotional in unserem Körpergedächtnis gespeichert ist.

Tanz hebt diese geteilte und allgemeine Erfahrung auf eine andere Stufe und in eine andere Dimension: räumlich, zeitlich, rhythmisch-kinästhetisch. In dieser Adressierung unseres KörperBewegungs-Sinns liegt der Grund unseres Vergnügens am Tanz.

3 Anna Huber hat während des Vortrags Einblicke gegeben in die thematisierten Elemente tänzerischer Praxis: Posen, Arbeit mit Balance und gravity, Improvisation; und sie hat einige Phrasen aus jenen Choreographien, die hier im Text durch Sprache vor Augen gestellt werden, ausschnitthaft markiert (u. a. „Hexentanz“, „Véronique Doisneau“, „Stück mit Flügel“).

den 1920er Jahren in verschiedene Tanztypen differenziert hat: in «Hochtänze» (wie das Ballett), «Tieftänze» (wie den Ausdruckstanz) und in Volkstänze.

Der Tanzanthropologe A. K. Volinsky schreibt in seinem Aufsatz «The Vertical»6 der Bewegung in die Vertikale und der damit verbundenen Blickrichtung nach oben eine metaphorische, eine emotionale Dimension zu: Menschliche Bauwerke, die in den Himmel streben (Kathedralen, Obelisken, Wolkenkratzer) seien auch verbunden mit dem Gefühl, der Körperempfindung der Erhebung: «With the vertical begins the human culture and the gradual conquest of heaven and earth.» Die Bewegung des «up» und des «down», des «auf» und des «nieder» signalisiert auch in der Sprache und in ihrer Verbindung mit der Gestik das «Aufgerichtetsein» als eine körperlich-emotional-mentale Ausdrucksweise. Forschungen in der Linguistik7 und in der Neurophysiologie brachten diese Verknüpfungen von Bewegung und Sprache auf die Formel: «Metaphors We Live By»! 8: eine Metaphorik, die Sprache, Körpergefühl und Umgebung verbindet.

Das Ballett sei, so Volinsky, jene Tanzform, in der die Ausrichtung in die Vertikale in der Ästhetik des Stils und der Trainingspraxis bis ins Detail ausgebildet sei: «Only in ballet do we possess all aspects of the vertical in its exact mathematical formed, universally perceptible expression.»9 Auch wenn wir hinter den Gedanken, das Prinzip des Balletts sei «universell», ein Fragezeichen setzen, da es in seiner Vielfalt ebenso durch diverse

6 A. K. Volinsky: The Vertical. The fundamental principle of classical dance, in: Roger Copeland / Marshall Cohen (Hrsg.): What is Dance? Readings in Theory and Criticism, Oxford 1983, 255–267, hier 257.

7 Vgl. Ludwig Jäger: Der gestische Ursprung der Sprache: Die Entstehung der menschlichen Sprachfähigkeit und die Bedeutung gestisch-visueller Kommunikation (Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen), Basel 2022.

8 Vgl. George Lakoff/Marc Johnson: Metaphors We Live By, Chicago 1980.

9 Volinsky: The Vertical, 257.

Kulturen geprägt ist wie andere Kunstformen auch, so stellt die Vertikalität doch eine spezifische Qualität des Tanzes dar. Das Ballett des 19. Jahrhunderts hat diese Vertikalität buchstäblich auf die Spitze gebracht: durch das Balancieren, die Ausrichtung in die Höhe in Tanzfiguren, mit Sprüngen und im Schweben der Ballerina auf der Fußspitze, nur mit einer winzigen Fläche den Boden berührend.

Es ist jene Bestrebung nach oben, die Leichtigkeit und Grazie – bereit zum Flug – die Hans Christian Andersen an der Tänzerin Fanny Cerrito wahrnahm, als er über ihre Erscheinung schrieb, sie sei wie ein Schwalbenflug im Tanz, ein Spiel der Psyche, ein Fliegen. Das Ballett spricht das Publikum an durch diese Verkörperung von Vertikalität, durch die antigrave Leichtigkeit einer Bewegung, die Freiheit verspricht und die von den ZuschauerInnen nachempfunden werden kann, selbst wenn sie diese Bewegungen nicht selbst ausführen können. In der Tanztheorie bezeichnet man diese Wirkungen körperlicher Empathie als «kinesthetic empathy».10 In den Neurowissenschaften spricht man heute in diesem Zusammenhang von Spiegelneuronen.

Die Idee einer Ästhetik der Leichtigkeit, der Flexibilität und des Antigraven ist bereits im 18. Jahrhundert in den philosophischen und kunstästhetischen Debatten formuliert und als eine besondere Qualität der Schönheit definiert worden: Anmut als Schönheit in der Bewegung (Friedrich Schiller). Es ist eine Qualität der Schönheit, die innerlich und äußerlich gleichermaßen bewegt – im Sinne von «movere».

Diese Bewegung und Beweglichkeit hat Christian Gottfried Körner als Leichtigkeit beschrieben, die mit einer Freiheit der Form verbunden sei:

10 Vgl. Susan Foster: Choreographing Empathy. Kinesthesia in Performance, London 2010.

körperlichen Ausrichtung. Dabei werden die Prinzipien des Balletts häufig in einer besonderen Form (genannt «Floor-BarreWork») geübt, und zwar auch im Bereich vom modernen und zeitgenössischen Tanz. So erklärte zum Beispiel Steve Paxton, Tänzer der New Yorker Szene des Judson Dance, auf die Frage, warum er einen «Barre-Workshop» abhalte, obwohl die TänzerInnen überhaupt keine BalletttänzerInnen waren: «because exercises have something … kind of extension, or reaching, going to the limit of your leverage and then operating there».15

In ähnlicher Weise hat die Tanztheater-Choreographin Susanne Linke, die bei Mary Wigman studierte und zusammen mit Pina Bausch an der Folkwang-Schule ausgebildet wurde, die Idee der Vertikalität des Körpers und seiner Ausrichtung aus dem Ballett in ihr Trainingssystem übernommen. Sie nennt es «inner suspension» und integriert in die Übungen eine Praxis, die sie als ein «Sich-langziehen» bezeichnet. Linke hat, wie auch Pina Bausch und Reinhild Hoffmann, während der Ausbildung neben modernen Tanztechniken, die aus dem Ausdruckstanz kommen, täglich auch Ballettunterricht erhalten. Kurt Jooss, Leiter der Folkwang Schule und selbst Ausdruckstänzer, begründete dies damit, er wolle den Studierenden die Körper-Raum-Orientierung (das «placement») des Ballettsystems vermitteln. Dies sind nur zwei Beispiele zum Einfluss des Balletts auf Tanz heute. Andererseits gibt es seit dem Ausdruckstanz Ausbildungskonzepte, die das Ballett und seine Vertikalität, sein System der körperlichen Ausrichtung und die Ästhetik schwereloser virtuoser Bewegung gänzlich ablehnen.

Doch worin bestehen nun die spezifischen Parameter der Bewegung und der körperlichen Ausrichtung, die diese spezifi-

15 Steve Paxton: Talk at CI36, 13. Juni 2008 im Rosenberg Auditorium, Juniata College, Huntington (PA), in: contact quarterly, winter / spring 2009, 15.

Anatomie der Bewegung

Blasis entwickelte ein Konzept, eine Grammatik der Mechanik, Kinetik und Anatomie als Bewegungslehre, die eine spezifische ästhetische Performance generiert: eine Bewegung der Grazie und der Leichtigkeit. Dafür entwarf er eine Theorie des Equilibrium: des prekären Zusammenhangs von Balance und Dis-equilibrium, von Stabilität der Pose und ihrer Labilität. Im Zentrum der Darstellungs-Reflexion steht ein Konzept der Bewegung, das die Körpertechnik und die Virtuosität der Beherrschung eines labilen Gleichgewichts (den Schein des Antigraven) zum Movens der Grazie erklärt. Heinrich von Kleists Abhandlung «Über das Marionettentheater» kreist aus anderer Perspektive auch um diese Fragen: um die Frage des Scheins solcher Naturbeherrschung im Zeichen der Kunst; und um die Frage, woher die «vis motrix» als bewegendes Prinzip von Körper und Seele stamme. Blasis und Kleist sind sich als Bewegungstheoretiker in diesen Fragen sehr nahe. Wobei es Kleist ist, der in seinem Text die ästhetischen und materiellen Fragen des Antigraven auf die Probe stellt, indem er eine Art Experimentier-Anordnung für eine «andere Ästhetik» aufstellt: Gleichsam als Modell für eine Überprüfung dieser Fragen bringt er als Reflexionsfigur die Marionette, ihre Mechanik, ins Spiel. Blasis, der universal gebildet war in Philosophie, Künsten, und Naturwissenschaften (Mathematik und Physik), öffnet den Ballettsaal als Experimentierraum einer neuen Ästhetik, in der Poesie und Science, künstlerische Arbeit und präzise mechanisch-kinetische Studien Hand in Hand gehen. Er war befreundet war mit Künstlern wie Lorenzo Bertolini, Bertel Torvaldsen, Antonio Canova. Und er bezog auch Mathematik und Geometrie

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