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Kritische Theorie, Philosophische Anthropologie, Logischer Empirismus

Philosophische Innovationen im Ausgang der 1920er Jahre

Kritische Theorie, Philosophische Anthropologie,

Logischer Empirismus

Philosophische Innovationen im Ausgang der 1920er Jahre

Schwabe Verlag

Der Band entstand im Zusammenhang mit dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt «Nachmetaphysisches Philosophieren. Kritische Theorie, Philosophische Anthropologie und Logischer Empirismus in vergleichender Perspektive» (Projektnummer: 444811456). Die Veröffentlichung wurde durch den Open-Access-Fonds der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena als Teil des DFG-Programms «Open-Access-Publikationskosten» (Projektnummer: 512648189) unterstützt.

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© 2026 bei den Autor:innen; Zusammenstellung © 2026 MaxBeck, NicholasCoomann, Christian Damböck, Christoph Demmerling, veröffentlicht durch Schwabe Verlag Berlin GmbH

Gestaltungskonzept: icona basel gmbH, Basel

Cover: icona basel gmbh, Basel

Satz: 3w+p, Rimpar

Druck: Prime Rate Kft., Budapest

Printed in the EU

Herstellerinformation: Schwabe Verlag GmbH, Marienstraße 28, D-10117 Berlin, info@schwabeverlag.de

ISBN Printausgabe 978-3-7574-0118-4

ISBN eBook (PDF) 978-3-7574-0119-1

DOI 10.31267/978-3-7574-0119-1

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

rights@schwabeverlag.de www.schwabeverlag.de

Max Beck, Nicholas Coomann, Christian Damböck, Christoph Demmerling: Nachmetaphysisches Philosophieren. Überlegungen zu einer komparatistischen Philosophiegeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts am Beispiel von Kritischer Theorie, Philosophischer Anthropologie und Logischem Empirismus

I.

Gemeinsame Ursprünge und geteilte Wege

Christoph Demmerling: Contra Heidegger. Zur Selbstverortung der Philosophie bei Carnap, Adorno und Plessner

Julia Gruevska: Neues Denken. Kritische Theorie, Logischer Empirismus und Philosophische Anthropologie als Programme der wechselseitigen Integration von Philosophie und Wissenschaft

Joachim Fischer: Exzentrische Positionalität, Logisch-empirischer Aufbau, Existentialität, Evolutionäre Adaptivität, Negative Dialektik, Hermeneutischer Zirkel. Methodologische Überlegungen zum Schlüsselkategorienvergleich philosophischer Theorien des 20. Jahrhunderts

II. Kooperation und Konfrontation von Kritischer Theorie und Logischem Empirismus

Max Beck: Sehnsucht nach Sinn. Die Metaphysikkritiken von Carnap und Horkheimer um das Jahr 1930

Hans-Joachim Dahms: What happened? Wiener Kreis und Frankfurter Schule 1931 bis 1937: vom Kennenlernen bis zur Trennung

Thomas Uebel: Im Kabinett von Dr. Marcuse. Zum eindimensionalen Bild der Kritischen Theorie vom Logischen Empirismus

135

151

175

Andreas Vrahimis: Eine andere «Teilung der Wege».

Horkheimer, Schlick, Bergson

Sebastian Tränkle: Selbstreflexive statt rigoristischer Aufklärung. Zur Konstitution der Kritischen Theorie durch die Kritik am Logischen Empirismus

201

231

Gerald Hartung: Über die Vulgarität eines Satzes von Wittgenstein. Adorno über Sprachkritik und die Aufgabe der Philosophie ... ... .... . 273

Lukas Reichert: Überwindung von Gesellschaftskritik durch logische Analyse der Sprache?

III. Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie

287

Hans-Peter Krüger: Anthropologische Marxismus-Kritiken und Frankfurter Anthropologie-Kritiken? Zur Entstehung von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie aus der strittigen Integration materialer Phänomenologie, Hermeneutik und Dialektik 321

Nicholas Coomann: Interdisziplinäre Forschungsprogramme. Über das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft bei Scheler, Plessner und Horkheimer

Peggy H. Breitenstein: Die Ent-Stellung des Menschen. Motive einer dialektisch-materialistischen Anthropologie bei Walter Benjamin

IV. Annäherungen von Logischem Empirismus und Philosophischer Anthropologie

Matthias Wunsch: Wissenschafts- und Naturbezug im Logischen Empirismus und in der Philosophischen Anthropologie ...

Nikolay Milkov: Die Berliner Gruppe und die anthropologische Wende in der deutschen Philosophie

357

383

411

Pascale Roure: Ernst von Aster und die versöhnende Aufgabe der Philosophiegeschichte. Logischer Empirismus und philosophische Anthropologie am Philosophischen Seminar der Universität Istanbul .. . 463

Nachmetaphysisches Philosophieren

Überlegungen zu einer komparatistischen Philosophiegeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts am Beispiel von Kritischer Theorie, Philosophischer Anthropologie und Logischem Empirismus

Max Beck, Nicholas Coomann, Christian Damböck, Christoph Demmerling

Kritische Theorie, Philosophische Anthropologie und Logischer Empirismus haben die Philosophie des 20. Jahrhunderts in maßgeblicher Weise geprägt. Während zum Verhältnis von Logischem Empirismus und Philosophischer Anthropologie bislang noch keine umfassenden Arbeiten vorliegen, werden mit Blick auf das Verhältnis von Kritischer Theorie und Logischem Empirismus bzw. Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie vor allem die Kontroversen zwischen deren Protagonisten hervorgehoben, Gemeinsamkeiten werden hingegen nur vereinzelt thematisiert. Der vorliegende Band möchte eine ergänzende Perspektive vorschlagen: Er geht von der These aus, dass sich während ihrer Entstehungszeit um das Jahr 1930 in allen drei Ansätzen nicht nur kontroverse Positionen, sondern auch geteilte philosophische Grundauffassungen finden, die eine gemeinsame Diskussion nahelegen. Gemeint ist die programmatische Kooperation mit den Einzelwissenschaften, die Kritik an geschlossenen metaphysischen Systemen und die philosophische Reflexion auf das historische Zeitgeschehen, auch wenn diese Aspekte in jeweils unterschiedlicher Weise expliziert werden und auf unterschiedlichen Prämissen basieren. Nicht zuletzt lassen sich alle drei Strömungen als emphatische ‹Therapieprogramme› der Moderne verstehen: Sie reagieren mit zeitkritischen Ansprüchen auf die Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen und Deformationserfahrungen, die mit der Entwicklung moderner Gesellschaften und nicht zuletzt der modernen Wissenschaft einhergehen.1 Dabei bleibt unbestritten, dass zwischen den drei Strömungen viele kaum überbrückbare Gegensätze bestehen. So liegt ein zentraler Unterschied darin, dass eine genuin philosophische Methode im Logischen Empirismus radikal abgelehnt wird – Methoden des Philosophierens können nur von den Einzelwissenschaften kommen, etwa aus der Mathematik

1 Eine weitere wichtige Parallele liegt darin, dass alle drei Strömungen durch den Nationalsozialismus bzw. den Austrofaschismus ganz oder teilweise zur Emigration gezwungen waren. Das hatte nicht zuletzt Auswirkungen auf die Philosophie in den USA, vgl. dazu Beck/ Coomann 2018 sowie Verhaegh 2025.

oder aus den Sozialwissenschaften –, während die Philosophische Anthropologie mit der Phänomenologie und die Kritische Theorie mit der Dialektik als philosophischer Methode liebäugelt.2

1. Ausgebliebene Gespräche

Hatten sich Vertreter von Kritischer Theorie, Philosophischer Anthropologie und Logischem Empirismus etwas zu sagen? Folgt man oberflächlich den Selbstbekundungen von Vertretern der genannten Strömungen, dann scheint dies – abgesehen von einigen persönlichen Kontakten und Gesprächsversuchen beispielsweise zwischen Max Scheler, der für kurze Zeit in Frankfurt war, ohne freilich der Frankfurter Schule zuzugehören,3 oder auch zwischen einzelnen Repräsentanten des Wiener Kreises und der Kritischen Theorie4 – nicht der Fall gewesen zu sein. Zudem war die Wahrnehmung der Gegenseite keineswegs immer durch Sympathie und Wohlwollen geprägt. So spricht Adorno in einem Brief an Horkheimer von 1936 von «den Trotteln à la Carnap und Schlick»5 , und bemerkt maliziös, Carnap sehe aus wie ein «subalterner Klavierlehrer»6 . Dass dies aus dem Munde Adornos nicht als ein Lob anzusehen ist, versteht sich von selbst. In einem Brief Carnaps an Neurath aus dem gleichen Jahr heißt es ratlos: «Wer ist Horkheimer? Ich vermute, jemand in der New School for Social Research. Stimmt das?»7 Der Katholik Scheler wiederum wird von Adorno in die Halbwelt des Boudoirs verlegt. In den Minima Moralia hält er in Anspielung auf den Titel des Werks des Marquis de Sade spöttisch fest: «Scheler: Le boudoir dans la philosophie.»8 Zum Teil wurden auch überaus unterschiedliche philosophische Stile gepflegt. Zwischen der nüchternen Diktion Carnaps, dem gelegentlich ein wenig umständlich formulierenden Plessner und der mitunter erratischen Schreibweise Adornos liegen Welten.

In der breiten Wahrnehmung wurden die genannten Strömungen und ihre Vertreter häufig als Kontrahenten angesehen, man denke an den sogenannten «Positivismusstreit» zwischen Kritischer Theorie und Logischem Empirismus bzw. Kritischem Rationalismus, im Rahmen dessen man sich über die Logik der

2 Der Gegensatz von Kritischer Theorie und Logischem Empirismus schreibt damit den bereits von Lenin proklamierten Antagonismus zwischen einem dialektischen Marxismus und einem rein an den Wissenschaften orientierten Empiriokritizismus fort, siehe Lenin 1927.

3 Vgl. Coomann 2021.

4 Vgl. Dahms 1994, 81 f.

5 Adorno an Horkheimer, 28. November 1936, in: Adorno/Horkheimer 2003, 244.

6 Adorno/Benjamin 2003, 563.

7 Carnap an Neurath, 28. Dezember 1936, in: University of Pittsburgh, Archives & Special Collections, Archives of Scientific Philosophy, Rudolf Carnap Papers, 102–52–01.

8 Adorno 2003a, 218.

Sozialwissenschaften und einen angemessenen Begriff von Rationalität auseinandersetzte.9 Zu erinnern ist auch an den Ausdruck «Konservativismusstreit», mit dem sich Rolf Wiggershaus auf die Auseinandersetzung zwischen Adorno und Arnold Gehlen bezogen hat, die u. a. die Frage betraf, ob Menschen von institutionellen Zwängen zu befreien sind oder ob sie durch diese geschützt und entlastet werden.10 Es gibt zwar vereinzelt Autoren, die das Bild einer starren Entgegensetzung der verschiedenen Strömungen schon seit längerem zu korrigieren versuchen,11 aber die gängige Philosophiegeschichtsschreibung zeichnet bis heute weitgehend das Bild von miteinander konkurrierenden Unternehmungen, die unterschiedliche theoretische, mitunter auch politische Ziele verfolgten und institutionell miteinander verfeindet waren, im Kampf um intellektuellen Einfluss und Prestige.

Ein zweiter Blick allerdings macht schnell deutlich, dass sich hinter den offenkundigen Unterschieden auch Gemeinsamkeiten verbergen, zumal dann, wenn man die Strömungen nicht nur einem direkten Vergleich unterzieht, sondern sie vor dem Hintergrund der philosophiehistorischen Gesamtlage betrachtet, die den deutschsprachigen Raum in den Jahren von etwa 1880 bis 1930 kennzeichnet. In der deutschen akademischen Philosophie jener Jahre war der Neukantianismus in seinen unterschiedlichen Spielarten eine dominierende Strömung. Die Protagonisten von Kritischer Theorie, Philosophischer Anthropologie und Logischem Empirismus sind zum Teil in diesem Milieu aufgewachsen und haben sich dann von diesem philosophisch zu distanzieren versucht. Man denke zum Beispiel an die Relevanz, welche die auf eigenwillige Weise mit empirischen und psychologischen Mitteln angereicherte Transzendentalphilosophie von Hans Cornelius für Adorno und Horkheimer hatte. Im Fall Carnaps ist auf die Raumkonzeption in den frühen Schriften zu verweisen, die er selbst auf Überlegungen von Paul Natorp und Ernst Cassirer bezieht.12 Spuren von Cassirers Relationstheorie und dessen Unterscheidung zwischen Substanzbegriff und Funktionsbegriff zeigen sich zudem deutlich in Carnaps Schrift Der logische Aufbau der Welt.13 Auch die Philosophie Plessners weist in ihrer Frühphase starke Beziehungen zum Marburger Neukantianismus auf, etwa in den Qualifikationsarbeiten, und seine Philosophische Anthropologie lässt sich insgesamt als ein Versuch ansehen, die Transzendentalphilosophie vom Kopf auf die Füße zu stellen und ihr eine biologische Grundierung zu verleihen.

9 Vgl. Dahms 1994, 320 ff. sowie Ritsert 2010.

10 Vgl. Wiggershaus 1986, 647 ff.

11 Vgl. Dahms 1994, Thies 1997 und 2018, Gabriel 2000, Friedman 2004, Ebke et al. 2017 und Edinger 2022.

12 Carnap 1921.

13 Carnap 1928.

Bevor nun die Gemeinsamkeiten zwischen Kritischer Theorie, Philosophischer Anthropologie und Logischem Empirismus eingehender skizziert werden, muss eine Asymmetrie benannt werden, die schnell offenkundig wird, wenn man sich den zur Diskussion stehenden Strömungen in vergleichender Perspektive zuwendet. Zwischen Logischem Empirismus und Kritischer Theorie gab es durchaus vielfältige Bezüge und Kontakte, gleiches gilt für das Verhältnis zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie. Zumindest manche Vertreter haben sich wechselseitig wahrgenommen, was vergleichsweise gut dokumentiert ist und verschiedentlich eingeordnet wurde. Anders stellt sich die Lage dar, wenn man sich der Frage nach Beziehungen zwischen Logischem Empirismus und Philosophischer Anthropologie zuwendet. Vordergründig scheint es keine Bezüge zu geben, sieht man von einigen kurzen Bemerkungen Schelers über Moritz Schlick und den «deutschen Positivismus»14 einmal ab. Allerdings finden sich inhaltliche Berührungspunkte und auch Kontakte zwischen Plessner und Hans Reichenbach, etwa bezüglich einer Diskussion von Reichenbachs Philosophie der Raum-Zeit-Lehre (1928) im Philosophischen Anzeiger oder im Zusammenhang mit Stellenbesetzungen, als sich beide im Exil befanden.15 Der transdisziplinäre Zugriff auf philosophische Fragen sowie die Orientierung an naturwissenschaftlichen Methoden und Forschungsergebnissen wären im Einzelnen auszuwerten, ebenso wie die Auseinandersetzung, die Reichenbach und Plessner mit Kant führten.

2. Einzelwissenschaftliche Bezüge und andere Gemeinsamkeiten

Kritische Theorie, Philosophische Anthropologie und Logischer Empirismus sind Strömungen, die sich in den 1920er bzw. 1930er Jahren im deutschsprachigen Raum formierten. Mit ihnen beginnt das kurze 20. Jahrhundert in der Philosophie. Diese vom Kalender abweichende Einordnung bedarf der Erläuterung. Auch wenn es keine philosophische Schule, keinen oder kaum einen philosophischen Gedanken gibt, der ohne Vorläufer wäre, auch wenn philosophiehistorische oder ideengeschichtliche Entwicklungen niemals so geradlinig verlaufen, dass glatte Schnitte gesetzt werden könnten, so lässt sich doch konstatieren, dass es ab etwa Ende der 1920er Jahre in der deutschsprachigen Philosophie zur Entwicklung verschiedener Neuerungen kommt, die sich in Bezug auf ihre Ab-

14 Scheler 1973, 293 f. Anderenorts bemerkt Scheler, Schlick sei der «gegenwärtig scharfsinnigste Vertreter» einer «streng nominalistischen Wissenschaftstheorie» (Scheler 1960, 116, Fn. 3).

15 Vgl. den Beitrag von Grelling 1930 sowie die Briefe zwischen Plessner und Reichenbach aus dem Zeitraum zwischen 1928 und 1936, die in den Nachlässen Plessners (Universitätsbibliothek Groningen) und Reichenbachs (University of Pittsburgh) überliefert sind.

10 Max Beck, Nicholas Coomann, Christian Damböck, Christoph Demmerling

grenzungen gegenüber traditionellen Philosophieverständnissen aufeinander beziehen lassen.

Es sind erfahrungs- und einzelwissenschaftliche Perspektiven, welche Eingang in die Philosophie finden. Das Verhältnis zu den Einzelwissenschaften gestaltete sich in den drei Strömungen und sogar innerhalb ein und derselben Strömung durchaus unterschiedlich. Findet sich am einen Ende des Spektrums (Logischer Empirismus) eine Tendenz zur umfassenden Verwissenschaftlichung philosophischer Fragen, in dem Sinne, dass man sich auf der Grundlage eines empirischen Sinnkriteriums eine deutliche Unterscheidung von sinnlosen und sinnvollen Fragen erhoffte und sich an den empirischen Naturwissenschaften und der Mathematik orientierte, so geht es in der Mitte (Philosophische Anthropologie) und am anderen Ende des Spektrums (Kritische Theorie) mehr um eine Kooperation zwischen Philosophie und Einzelwissenschaft, die an philosophischen Fragen und eigenen Methodenverständnissen festhielt. Kritische Theorie, Philosophische Anthropologie und Logischer Empirismus öffnen sich damit auf verschiedene Weise für die Wissenschaften. Dabei sind es jeweils unterschiedliche Disziplinen, denen das Interesse gilt. Innerhalb der Kritischen Theorie werden verstärkt Forschungsergebnisse aus den Sozialwissenschaften und der Psychologie, insbesondere der Psychoanalyse, rezipiert und auch eigene soziologische und psychologische Forschungen durchgeführt. Innerhalb der Philosophischen Anthropologie sind es vorrangig Studien aus dem Bereich der Biologie und Lebenswissenschaften, aber zum Teil auch aus Soziologie und Psychologie, die Berücksichtigung finden. Und der Logische Empirismus bezieht sich auf Physik, Logik und Mathematik sowie, zumindest im «linken Flügel», auf die Sozialwissenschaften und auch die Psychologie. Eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen den genannten Strömungen lässt sich darüber hinaus darin sehen, dass alle drei ein Verständnis von Philosophie ablehnen, welches sich gegenüber der einzelwissenschaftlichen Forschung verschließt. Für den fraglichen Zeitraum ist vor allem an unterschiedliche Spielarten der Phänomenologie und hier insbesondere an Martin Heidegger zu denken. Was mit der Kritischen Theorie, der Anthropologie und den Vertretern des Wiener Kreises aufkommt, ist eine mit neueren wissenschaftlichen Entwicklungen verbundene Aufklärungsbewegung, welche die Philosophie um empirische Wissensbestände anreichert und auch über die zum Teil ihrerseits kontingenten Bedingungen und Voraussetzungen des Philosophierens nachdenkt. Logischer Empirismus, Kritische Theorie und Philosophische Anthropologie lassen sich, in Anlehnung an einen Ausdruck von Jürgen Habermas, als Formen eines «nachmetaphysischen Philosophierens»16 auffassen.

16 Für Jürgen Habermas ist das «nachmetaphysische Denken» ein zentrales Motiv philosophischer Modernität, durch das der Bruch mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts eingeleitet wird. Dieser zeichnet sich exemplarisch durch ein verändertes Verhältnis zu den Erfahrungswissenschaften, den Übergang von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie, eine

Das Etikett «nachmetaphysisch» muss man nicht als Wertungsetikett verstehen, etwa in dem Sinne, dass es eine ‹schlechte› vorwissenschaftliche metaphysische Philosophie gab, die irgendwann in ein ‹gutes› nachmetaphysisches, wissenschaftliches Stadium eingetreten ist oder eintreten wird. Anders als es sich im Anschluss an die frühen programmatischen Schriften von Vertretern des Logischen Empirismus aufdrängt, ist der Ausdruck «Metaphysik» und dementsprechend auch Wörter wie «metaphysisch» oder «nachmetaphysisch» in einem deskriptiven Sinne zu verstehen. Kritische Theorie, Philosophische Anthropologie und Logischer Empirismus sind von einem nachmetaphysischen Selbstverständnis geprägt in dem Sinne, dass einzel- und erfahrungswissenschaftliche Forschung in die philosophischen Überlegungen einbezogen, Ursprungs-, Systemund Identitätsdenken hingegen abgelehnt werden. Kategoriale Bestimmungen gelten nicht mehr uneingeschränkt und allumfassend als überzeitlich, die Geltungsansprüche einer prima philosophia und die Suche nach Letztbegründungen werden relativiert. Diese Kennzeichen gelten für alle drei Strömungen, wobei es in der Akzentsetzung durchaus Unterschiede gibt. Deutlich ausgeprägt sind die Merkmale im Logischen Empirismus, im Kontext dieser Strömung ist auch die Ablehnung der Metaphysik am stärksten. In der Kritischen Theorie und Philosophischen Anthropologie hingegen finden sich auch Überlegungen, in denen es darum geht, die Metaphysik oder einzelne Elemente der Metaphysik in einer transformierten Gestalt zu retten oder zu bewahren. Zu denken ist an Schelers Pläne für eine große Schrift zur Metaphysik, die in seinen letzten Lebensjahren Gestalt annahmen,17 zu denken ist aber auch an Adornos aus den 1960er Jahren stammende Rede von einer Solidarität mit der «Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes»18 . Die Haltungen gegenüber der Tradition sind somit in Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie weniger einheitlich als im Logischen Empirismus, gleichwohl treffen die vorhin angeführten Merkmale auch hier zu, was zumindest zu einem Teil mit dem Versuch zusammenhängt, Philosophie in einem Dialog mit der einzel- und erfahrungswissenschaftlichen Forschung zu betreiben. Die Orientierung an den Einzelwissenschaften inklusive der damit verbundenen philosophischen Folgerungen soll im Folgenden mit Hilfe einiger Zitate illustriert werden.

Die Protagonisten der drei Strömungen sahen sich in den 1920er Jahren einer Situation gegenüber, die durch eine Erschütterung tradierter kultureller wie philosophischer Selbstverständnisse geprägt ist. Die Dynamisierung, Diversifizierung, Institutionalisierung und Industrialisierung der empirischen Forschung, insbesondere in der Psychologie, Biologie und Physik, sorgten für alle Arten von

Abkehr vom Rationalismus und eine Neukonfiguration von Theorie und Praxis aus, vgl. Habermas 1988.

17 Vgl. Henckmann 1998, 36.

18 Adorno 2003b, 400.

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Paradigmenwechseln und neue theoretische Grundlegungen, die tradierte philosophische Lehrgebäude mit in den Abgrund rissen. Exemplarisch kann man an das Aufkommen der Psychoanalyse und behavioristischen Psychologie, die Weiterentwicklungen der Evolutions- und Verhaltensbiologie sowie die Etablierung der Relativitäts- und Quantentheorie denken. Der Erste Weltkrieg und die politischen Umbrüche, die ihm folgen (Oktoberrevolution, Weimarer Republik, Erste Republik), sorgten zudem für politische Unsicherheit und verstärkten das Bewusstsein einer Wende- und Übergangszeit. Vor diesem Hintergrund war das Aufkommen der drei Strömungen jeweils durch programmatische Schriften gekennzeichnet, die in kurzen Abständen erschienen: Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), der vom Verein Ernst Mach herausgegebene Traktat Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (1929), Reichenbachs Schrift Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie (1931) und die Antrittsvorlesung Horkheimers mit dem Titel Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung (1931). Sowohl die Kritische Theorie als auch die Philosophische Anthropologie und der Logische Empirismus begegnen der veränderten Lage mit einer programmatischen Integration moderner Einzelwissenschaften. Allen drei Strömungen ist, trotz unterschiedlicher Traditionen, an die jeweils angeknüpft wird, ein Philosophiebegriff gemeinsam, der einen methodisch gesicherten Zugang zur Wirklichkeit und damit ein überprüfbares Gesellschafts- und Naturverständnis für sich beansprucht. So kündigt Horkheimer bereits in seiner Antrittsvorlesung an, die «aufs Große zielenden philosophischen Fragen an Hand der feinsten wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen»19 , während Scheler eine Wesensbestimmung des Menschen «auf der Grundlage der gewaltigen Schätze des Einzelwissens»20 zu errichten sucht. Auch Plessner versichert, seine Studien seien «ohne die Umwälzungen der letzten Zeit im Gebiete der Psychologie, Soziologie und Biologie»21 nicht möglich gewesen. Im Kontext des Logischen Empirismus betont Reichenbach, dass Philosophie keine «den Fachwissenschaften übergeordnete Wissenschaft»22 ist, und verweist exemplarisch auf philosophische Grundbegriffe tangierende «biologische und psychologische Forschungen»23 . Der Wiener Kreis proklamiert sogar die ungeteilte «Einheitswissenschaft», die «neben den Wissenschaften keine ‹Philosophie› als Disziplin mit besonderen Sätzen» gelten lässt.24

19 Horkheimer 1988a, 29.

20 Scheler 1995a, 10.

21 Plessner 2003a, 10.

22 Reichenbach 2011, 47.

23 Ebd., 62.

24 Neurath 1931b, 393.

Mit dem im Übrigen zum Teil der philosophischen Tradition des 19. Jahrhunderts entsprechenden Rekurs auf die Einzelwissenschaften ging in allen drei Strömungen eine inter- und transdisziplinäre Programmatik einher, die sich schon in der akademischen Ausbildung der jeweiligen Vertreter widerspiegelt. Neben Philosophie umfasst diese etwa auch Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Literaturwissenschaft, Biologie, Mathematik und Physik. Vor allem der Logische Empirismus und die Kritische Theorie beruhen auf der engen Zusammenarbeit von Fachwissenschaftlern. So wurde die Frankfurter Sozialforschung ebenso wie die «Einheitswissenschaft» des Logischen Empirismus, zumindest in den 1930er Jahren, als «arbeitsteilig organisiertes Kollektiv»25 betrieben. Auch Scheler und Plessner verfügten über Netzwerke, die Spezialisten auf einzelwissenschaftlichen Gebieten einschlossen, etwa seinerzeit einflussreiche Biologen wie Hans Driesch, Frederik J. J. Buytendijk und Hans André.26 Im Kontext aller drei Strömungen wurden darüber hinaus Zeitschriften herausgegeben, die der Selbstverständigung dienen und jeweils eine interdisziplinäre Plattform bilden sollten. Die vom Institut für Sozialforschung herausgegebene Zeitschrift für Sozialforschung erschien zwischen 1932 und 1941 und damit fast zeitgleich wie die von Carnap und Reichenbach zwischen 1930 und 1939 herausgegebene Erkenntnis. Plessner wiederum gab zwischen 1925 und 1930 den Philosophischen Anzeiger heraus, dessen im Untertitel erklärtes Ziel in einer «Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft» bestehen sollte. Anders als heute waren Zeitschriftenbeiträge noch nicht dabei, die Bedeutung der Monographie zu verdrängen. Es begann sich aber in dieser Zeit bereits eine Entwicklung abzuzeichnen, in der die Zeitschrift als Medium philosophischer Verständigung immer wichtiger wurde.

Aus der prinzipiellen Opposition zu philosophischen Theorien, die ihre Begriffe jenseits des überprüfbaren Einzelwissens ansiedeln, erklärt sich auch die schon erwähnte Kritik aller drei Ansätze an der Fundamentalontologie Heideggers, die mit dem Erscheinen von Sein und Zeit die Bühne betritt, die Vorstellung von Philosophie als auf den Einzelwissenschaften und ihren Methoden begründete Unternehmung radikal ablehnt und stattdessen ein entschlossenes Dasein jenseits aller Rationalität propagiert. Die Abgrenzung von Heideggers in der Perspektive vieler Vertreter der relevanten Strömungen antirationaler und am Ende auch antiwissenschaftlicher Philosophie diente der Selbstverortung, an der die methodologischen Prämissen eines «nachmetaphysischen Philosophierens» Profil und Schärfe gewinnen konnten. So kritisiert Horkheimer die Fundamentalontologie als Kompensation, welche die disparaten Erfahrungen der Menschen in ihrer sozialen Wirklichkeit ideologisch verdeckt,27 während Sche-

25 Müller 1985, 297.

26 Vgl. Fischer 2014, 96.

27 Vgl. Horkheimer 1988b, 112 ff.

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ler die Befürchtung äußert, dass Heideggers Philosophie «eine ‹theologische Glaubensmeinung› zugrunde liegt»28 . Dem Logischen Empirismus gilt die Existentialontologie als «Lyrik in der Verkleidung einer Theorie», die «durch die sprachliche Einkleidung in Behauptungssätze den Anschein» erweckt, sie sei «Erkenntnis».29 Der transformierte, offene und interdisziplinäre Philosophiebegriff blieb aber nicht auf akademische Diskussionen beschränkt, sondern verstand sich auch als Beitrag zur Bewältigung zeitgenössischer geistiger und gesellschaftlicher Krisenerscheinungen. Sowohl im Hinblick auf ihr Deutungs- als auch auf ihr Lösungsangebot treten Kritische Theorie, Philosophische Anthropologie und Logischer Empirismus in weltanschauliche Konkurrenz.

Die Beiträge der Kritischen Theorie verfolgen die umfassende Überwindung kapitalistischer Herrschaftsstrukturen, die als alles durchdringende «Immanenz von erster und zweiter Natur»30 kritisiert werden. Demgegenüber geht Schelers Philosophische Anthropologie von der Diagnose aus, dass «zu keiner Zeit der Geschichte sich der Mensch so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart».31 Auch Plessner formuliert als Absicht seiner Philosophie, «das Menschsein in der denkbar größten Fülle an Möglichkeiten, in seiner unbeherrschbaren Vieldeutigkeit und realen Gefährdetheit»32 zur Darstellung zu bringen. Der Logische Empirismus wiederum versteht sich als Gegenbewegung zur «Zunahme metaphysischer und theologisierender Neigungen», die man in den «Bünden und Sekten, in Büchern und Zeitschriften, in Vorträgen und Universitätsvorlesungen» der 1920er Jahre ausmacht.33 Dagegen wird der wissenschaftliche «Geist der Aufklärung» als «antimetaphysisch[e] Tatsachenforschung» gesetzt, der alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen soll.34 Verschiedene Ziele stehen nebeneinander, die sich folgendermaßen pointieren lassen: Befreiung durch Überwindung von Herrschaft (Kritische Theorie), Rückgewinnung menschlicher Identitätsansprüche (Philosophische Anthropologie) und Aufklärung durch Wissenschaft (Logischer Empirismus). Über die Beziehungen zwischen diesen Zielen lässt sich nicht handstreichartig befinden, es dürfte aber unstrittig sein, dass sie sich wechselseitig gut ergänzen und sich in einer systematischen Perspektive eher miteinander verknüpfen lassen, als dass sie sich ausschließen.

28 Scheler 1995b, 295.

29 Carnap 1934, 259.

30 Schweppenhäuser 1973, 76.

31 Scheler 1995a, 11.

32 Plessner 2003b, 37.

33 Carnap/Hahn/Neurath 1929, 29.

34 Ebd., 9.

3. Ein erweiterter Philosophiebegriff

Der enge Kontakt mit der einzelwissenschaftlichen Forschung führt dazu, dass sich etwas ausprägt, das sich auf den Begriff eines historischen Kontingenzbewusstseins bringen lässt: Der Mensch wird in erster Linie als Produkt seiner natürlichen und sozialen Umgebung sowie im Kontext seiner Einbettung in eine natürliche und soziale Welt verstanden. Dieses Verständnis des Menschen hat einen Einfluss auf die Explikation genuin philosophischer Begriffe wie «Vernunft», «Freiheit» oder «Autonomie». Ein überzeitliches Verständnis des Menschen verliert seine Gültigkeit bzw. wird relativiert. Einen besonders prägnanten Ausdruck findet dieses Kontingenzbewusstsein innerhalb der Kritischen Theorie. Adorno beruft sich immer wieder auf Karl Marx, um auf die gesellschaftliche Formbestimmtheit aller unserer Selbstund Weltbezüge aufmerksam zu machen und zitiert zustimmend eine zentrale Passage aus Marxens Pariser Manuskripten:

Das menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesellschaftlichen Menschen; denn erst hier ist sie für ihn da als Band mit dem Menschen, als Dasein seiner für den anderen und des anderen für ihn, wie als Lebenselement der menschlichen Wirklichkeit; erst hier ist sie da als Grundlage seines eigenen menschlichen Daseins. Erst hier ist ihm sein natürliches Dasein menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden. Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion mit der Natur.35

Das Marx-Zitat stammt aus einem späteren Vortrag Adornos von 1957. Vor dem Hintergrund dieses Gedankens liegt es nahe, die Soziologie und zum Teil auch die Psychologie als Wissenschaften anzusehen, die als neue Humanwissenschaften alte philosophische Selbstverständlichkeiten in Frage stellen und auf das traditionelle philosophische Selbstverständnis zurückwirken. In diesem Sinne ist der Gedanke nicht nur für die Kritische Theorie maßgeblich, man kann ihn auch auf die Philosophische Anthropologie und den Logischen Empirismus beziehen. Im Kontext der zitierten Passage findet sich ein weiterer Gedanke von Marx, den er geradewegs in das Stammbuch der Logischen Empiristen hätte schreiben können: «Die Sinnlichkeit […] muß die Basis aller Wissenschaft sein. Nur, wenn sie von ihr, in der doppelten Gestalt sowohl des sinnlichen Bedürfnisses ausgeht – also nur wenn die Wissenschaft von der Natur ausgeht –, ist sie wirkliche Wissenschaft.»36

Zwar kann man gerade bei den Vertretern der Kritischen Theorie – man denke an den späteren «Positivismusstreit» – viele distanzierende Bemerkun-

35 Zit. n. Adorno 2019, 131.

36 Marx 1968, 543.

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gen lesen, die die empirische Soziologie betreffen,37 allerdings verhält es sich durchaus so, dass Adorno, aber auch Horkheimer und andere aus dem Umfeld der Kritischen Theorie immer wieder auch auf (mehr oder weniger) empirische Erkenntnisse aus Soziologie, Soziopsychologie und Psychologie zurückgegriffen und auch selbst als empirische Forscher gearbeitet haben, etwa im Rahmen der Studien über Autorität und Familie sowie verschiedener Antisemitismusstudien.38 Als besonders mit empirischem Material gesättigt darf die Arbeit über Die autoritäre Persönlichkeit gelten, die auf einer bis dato neuartigen Verschränkung von sozialwissenschaftlichen und psychoanalytischen Methoden basiert.39 Auch wenn weder Horkheimer noch Adorno von Beginn an ausgemachte Empiriker waren, so sind doch viele ihrer Arbeiten bis in die frühen 1940er Jahre von dem Bemühen gekennzeichnet, Theorie und Empirie aufeinander zu beziehen und Ansätze aus den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zu integrieren, auch wenn sie den philosophischen Anspruch, Wissenschaft von außen dialektisch zu kritisieren und zu korrigieren nie aufgeben haben und sich darin fundamental vom Logischen Empirismus unterscheiden. Auch im Logischen Empirismus setzte man darauf, dass Psychologie und Soziologie Mittel zur Verfügung stellen, antiwissenschaftliche Impulse und metaphysische Schwärmerei auf individueller Ebene zu therapieren und auf gesellschaftlicher Ebene deren Genese zu rekonstruieren. Bereits im Manifest des Wiener Kreises notieren die Autoren, dass «in Untersuchungen der Freudschen Psychoanalyse» «Ansätze zu tiefergreifender Erklärung» der zeitgenössischen metaphysischen Wirren zu finden seien.40 Überdies gibt es auch eine Reihe systematischer Auseinandersetzungen mit der Psychologie. Zu denken ist an den ersten Band der Reihe Einheitswissenschaft mit dem Titel Einheitswissenschaft und Psychologie.41 Ob die Psychoanalyse den Ansprüchen genügt, welche die Vertreter des Logischen Empirismus an wissenschaftliche Unternehmungen stellen, war vielfach umstritten, aber immerhin wurde die Psychoanalyse als eine Verbündete im Kampf gegen eine metaphysische Philosophie begriffen.42

37 Vgl. z. B. Adorno 2003c.

38 Vgl. Ziege 2019.

39 Vgl. Adorno 1973.

40 Carnap/Hahn/Neurath 1929, 17.

41 Neurath 1933.

42 Schon Zeitgenossen wunderten sich über den positiven Bezug der Logischen Empiristen auf die Psychoanalyse. So heißt es in einer Erinnerung Sidney Hooks über Reichenbach: «He was startled when I asserted that the theory of psychoanalysis, especially in its Freudian formulation, was unscientific, and I was startled when he insisted that it was. It seemed clear to me that on his own criteria of scientific verification that psychoanalysis was no more scientific than Christian science. In passing, I should note the curious fact that all the logical empiricists or positivists I have known were quite vehement in defending the scientific validity of Freud’s

Carnap unterzog sich in späteren Jahren selbst einer Analyse.43 Und Reichenbach verkehrte in Los Angeles im Kreis von Psychoanalytikern.44

Mit der Soziologie hat der «linke Flügel» des Wiener Kreises große Erwartungen verbunden. Sie galt als eine wichtige Disziplin im Kontext der wissenschaftlichen Aufklärung des Menschen über sich selbst und seine Situation. Zwar wurde lange darüber gestritten, wohin die Soziologie im Rahmen des einheitswissenschaftlichen Programms gehört und wie es um ihre Reduzierbarkeit steht. Nimmt man Neuraths Arbeiten als Maßstab, so lässt sich die eigenständige Rolle der Soziologie gut verdeutlichen.45 Neurath hat die Soziologie als eine Disziplin angesehen, deren Begriffe und Gesetze sich nicht gänzlich auf physikalische Begriffe und Gesetze reduzieren lassen mussten, um wissenschaftlich zu sein. Er wandte sich gegen die Idee einer reduktionistischen Hierarchie der Disziplinen, ging aber davon aus, dass alle Wissenschaften auf einer empirischen Basis zu nachprüfbaren Aussagen führen und Vorhersagen ermöglichen müssen. Das einheitswissenschaftliche Programm hat er in dem schwachen Sinne verstanden, dass sich alle Ergebnisse der Wissenschaften aufeinander beziehen lassen müssen und auf grundsätzliche Weise miteinander verknüpft werden können. Trotz Horkheimers Polemik Der neueste Angriff auf die Metaphysik (1937) treffen sich Vertreter des Logischen Empirismus und der Kritischen Theorie hinsichtlich der Beurteilung der progressiven Potenziale, welche sie mit der Soziologie verbunden haben. Dies sieht Horkheimer im Übrigen selbst so:

Angesichts des autoritären Regierungssystems in Deutschland, an dessen geistiger Vorbereitung die Nachkriegsmetaphysik ihren guten Anteil hat, übt diese neopositivistische Denkart auch auf weite dem Faschismus entgegengesetzte Kreise eine Anziehung aus. Der philosophische Kampf gegen metaphysische Begriffe bezog sich schon in seiner besten Zeit nicht bloß auf das Jenseits, sondern auch auf die menschenfeindlichen organizistischen Theorien des Staates und der Gesellschaft.46

Es waren also auch politische Ziele, welche mit dem Votum für eine empirische Sozialwissenschaft verknüpft wurden. So richtete man sich gegen undemokratische und völkische Sozialtheorien oder gegen soziale Annahmen wie die eines Volkskörpers, für die sich keine empirischen Belege anführen ließen. Dass Horkheimer in seiner erwähnten Kampfschrift der Wissenschaft eine professorale Dialektik überordnet, deutet allerdings auch auf eine Diskrepanz hin, die basic views – something which in my obtuseness I could never square with their professed philosophy of science.» (Hook 1978, 33 f.)

43 Vgl. Carnap in Vorbereitung.

44 Vgl. Reichenbach 1994, 14.

45 Vgl. Neurath 1931a, 1931b.

46 Horkheimer 1988b, 115.

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sich darin äußert, dass er Wissenschaft in Bausch und Bogen als bürgerliches Unternehmen abtut.

Für die Philosophische Anthropologie ist zwar ohne Zweifel die Biologie die Leitwissenschaft, aber es fällt auf, dass die Entwicklung der philosophischen Überlegungen von vornherein eng mit soziologischen Fragestellungen verbunden ist. Das gilt für Scheler, es gilt für Plessner und es gilt auch für Gehlen. Neben der Soziologie wird aber auch der Psychologie eine maßgebliche Rolle im Zusammenhang mit einer Explikation des menschlichen Selbstverständnisses zugebilligt. Die Verbindungen zwischen der neu entstehenden Philosophischen Anthropologie lassen sich auch institutionell ausmachen und sie schlagen sich in Publikationen nieder: So war Scheler seit 1919 einer von mehreren Direktoren eines neu gegründeten Instituts für Sozialwissenschaften in Köln, zu dem vorgelegten Sammelband über die Versuche zu einer Soziologie des Wissens steuerte auch Plessner einen Beitrag bei.47 Plessner erhielt 1951 einen Lehrstuhl für Soziologie in Göttingen, Gehlen 1947 einen Lehrstuhl für Soziologie in Speyer. Bei Scheler, Plessner und auch bei Gehlen verschränken sich philosophisch-anthropologische und soziologische Perspektiven durchgängig. Erinnert sei an Schelers Wissenssoziologie, an Plessners Rollenbegriffe oder an Gehlens Institutionenlehre. Auch psychologische Problemstellungen unterschiedlichen Zuschnitts spielen eine Rolle. Scheler hat viele Elemente der Kultur- und Triebtheorie Freuds aufgenommen. In seinen späteren Werken wurde etwa der Begriff der Sublimierung wichtig.48 Bei Gehlen ist es vor allem die Anknüpfung an Freuds Triebtheorie im dritten Teil seines Buches Der Mensch sowie seine vielfältigen Überlegungen zur Sozialpsychologie, auf welche man verweisen kann.49 Dagegen knüpft Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch unter anderem an die Gestaltpsychologie Wolfgang Köhlers an, dessen «Intelligenzprüfungen an Anthropoiden» wie die Gestaltpsychologie insgesamt auch für Scheler wichtig waren.50

Es sind, zusammenfassend, zwei Gesichtspunkte, die in allen drei Strömungen eine Rolle gespielt haben: eine Veränderung des Begriffs der Philosophie, die mit einer Öffnung gegenüber der einzelwissenschaftlichen Forschung verbunden ist und einer Veränderung des menschlichen Selbstverständnisses, die sich der Rezeption von soziologischer und psychologischer Forschung verdankt. Dass es auch weitreichende Differenzen gab, ist nicht zu bestreiten, aber die gab es auch innerhalb der einzelnen Strömungen.

Die hier zur Diskussion stehenden Strömungen haben der Philosophie ein Erbe hinterlassen, an dem sich diese bis heute abarbeitet, und dies gilt nicht

47 Vgl. Plessner 2003c.

48 Scheler 1995a, 45.

49 Gehlen 1993, 387 ff.

50 Vgl. Plessner 2003a, 138 ff. und Scheler 1995a, 28 f.

allein für den deutschen Sprachraum, sondern im weltweiten Maßstab. Hier mag der Umstand eine Rolle gespielt haben, dass die meisten Vertreter der fraglichen Strömungen durch den Nationalsozialismus und Austrofaschismus ins Exil gezwungen wurden und auf diese Weise Einfluss auf die philosophische Diskussion in anderen Ländern nehmen konnten. So hängt der Aufstieg der analytischen Philosophie, in ihrer primär formalen Methoden zugeneigten Variante, maßgeblich mit dem Wirken Carnaps und Reichenbachs in den USA zusammen. In systematischer Perspektive scheinen zwei Aspekte als gemeinsames Erbe der drei Strömungen wichtig zu sein, die auf lohnenswerte Weise weiterverfolgt werden könnten: Erstens die Öffnung der Philosophie für die Wissenschaften, ohne vollständige Preisgabe philosophischer Geltungsansprüche (zumindest in der Kritischen Theorie und der Philosophischen Anthropologie), und zweitens die Einsicht, dass eine Aufklärungsbewegung, zu der die Philosophie und die Wissenschaften gehören, nicht nur durch, sondern auch über die Philosophie aufzuklären hat.

4. Aufbau und Danksagung

Der Band geht den Verbindungen von Kritischer Theorie, Philosophischer Anthropologie und Logischem Empirismus sowohl in systematischer als auch historisch-rekonstruktiver Weise nach und gliedert sich am Leitfaden der kombinatorischen Paarung der drei Strömungen in vier Teile. Es wird nicht nur nach Differenzen zwischen den Strömungen gefragt, sondern es werden auch Gemeinsamkeiten akzentuiert.

Wir danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung «Teilung der Wege? Gründungskonstellationen von Kritischer Theorie, Philosophischer Anthropologie und Logischem Empirismus im Kontext der 1920er und 1930er Jahre», die im Mai 2022 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattgefunden hat. Die Tagungsbeiträge bilden die Grundlage des vorliegenden Bandes, der noch um weitere Beiträge ergänzt wurde. Gedankt sei zudem Michael Hampe (ETH Zürich), der das für die Publikation erforderliche Review durchgeführt hat, Anneke Schmidt, Lukas Schultz-Balluff (beide FSU Jena) und Ruth Vachek (Schwabe Verlag) für Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung der Texte sowie Katrin Schuster (HU Berlin) für die deutsche Übersetzung des Beitrags von Andreas Vrahimis. Christian Barth übernahm verlagsseitig die Betreuung der Publikation. Der Band entstand im Zusammenhang mit dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt «Nachmetaphysisches Philosophieren. Kritische Theorie, Philosophische Anthropologie und Logischer Empirismus in vergleichender Perspektive» (Projektnummer: 444811456). Die Veröffentlichung wurde durch den Open-Access-Fonds der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena als Teil des DFG-Pro-

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