Alexander Estis

Ideologie, Propaganda, Repression und Widerstand
Unter Mitarbeit von Jana Talke, Leni Karrer und Jennie Seitz
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Coverabbildung: Foto: Landsmann, Regensburg (unsplash.com)
Covergestaltung: icona Basel gmbh, Basel
Lektorat: Jennie Seitz, Berlin
Korrektorat: Anna Ertel, Göttingen
Layout: Andreas Färber, mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim
Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
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Krieg & Widerstand
«Wir alle sind Putins Geiseln.» Russische Regimegegner schreiben
Ich war in einem solchen Zustand, dass ich mich glatt hätte erhängen können. Man muss doch etwas tun – aber etwas zu tun ist unmöglich.
Mit diesen Worten beschreibt eine russische Regimegegnerin ihre Verfassung nach zwei Jahren Krieg (siehe S. 145 ff.). Auch wenn die Handlungsräume hier in Westeuropa deutlich größer sind als in Putins Russland, so befiel mich doch ein ähnliches Ohnmachtsgefühl, als Russland die Ukraine am 24. Februar 2022 angriff. Wie sehr viele andere Menschen aus meinem Freundeskreis, insbesondere solche mit Bezug zur Ukraine oder zu Russland, fand ich mich in einer Art Schockstarre wieder und konnte mich tagelang nicht vom Fernsehbildschirm lösen.
Ein Teil meiner Familie stammt aus der Ukraine, aus einem ehemaligen jüdischen Schtetl, wie es sie in Resten noch bis zum Zweiten Weltkrieg gab; heute ist es die Stadt Chmylnik bei Winnyzja. Die meisten Familienmitglieder – Nachkommen jener wenigen, die dem sogenannten Holocaust durch Kugeln entrinnen konnten – sind inzwischen über die Welt verstreut, aber manche von ihnen lebten bis zum Jahr 2022 nach wie vor in der Ukraine, in Winnyzja oder in Kyjiw. Zu Kriegsbeginn war ich in ständigem Kontakt mit den dortigen Verwandten – soweit das möglich war, denn sie mussten sich immer wieder im Parkhaus vor den Bomben verstecken.
Unsere Familie, darunter auch mein Vater, ist schon einmal nur knapp aus Kyjiw entkommen, im Jahr 1942, während des deutschen Bombardements; damals evakuierte man sie nach Russland. Die Nachfahren mussten jetzt in einer Art schrecklicher Wiederholung – und zugleich Umkehrung – der Geschichte wieder vor den Bomben fliehen, nun allerdings in die andere Richtung. Später wurde auch Winnyzja bombardiert. Jede Stunde erreichten mich neue und immer neue Bilder des Grauens aus Charkiw, Donezk oder Kyjiw: riesige, hell erleuchtete Rauchschwaden, durch den Himmel dröhnende gurkenartige Geschosse, sich in dämmrigen Kellerbunkern türmende Menschenmassen. Dazu Nachrichten wie etwa «Ich weiß nicht, ob ich überlebe. Sie bomben tagelang die Wohnhäuser zu. Wie ist so etwas möglich in der modernen Welt?»
Zugleich verfolgte ich die Mitteilungen der russischen Pressedienste: Ein repressives Gesetz nach dem anderen wurde erlassen, um jeglichen Widerstand und jegliche unabhängige Berichterstattung im Keim zu ersticken. Angesichts dieser Meldungen empfand ich eine kaum aushaltbare Wut, gepaart mit dem erwähnten Gefühl vollkommener Ohnmacht, und aus der Wut und dem Ohnmachtsgefühl heraus begann ich, diese Meldungen zumindest zu übersetzen. Erst nach und nach gelang es mir dank solcher Übersetzungen sowie dank einiger Auftragsarbeiten für die Presse, mich aus der anfänglichen Starre zu lösen und mir zu sagen: Ich muss zumindest das Wenige tun, was ich kann.
Also schrieb ich Artikel für Artikel, mich erst nur mühsam aus der Starre befreiend, aus der Lähmung der Ohnmacht, nach und nach immer exzessiver, obwohl ich mich nie primär als Journalist, vielmehr als Schriftsteller, höchstens als Feuilletonist fernab des Tagesjournalismus gesehen hatte – doch über anderes als die sich vollziehende Katastrophe zu schreiben, war mir nicht möglich. Die Texte in diesem Buch sind insofern Ausdruck des inneren Zwangs, dem Krieg etwas entgegenzusetzen, sei es noch so unbedeutend; es sind Resultate des Versuchs, selbst zu begreifen und für andere greifbar zu machen, was geschieht – und warum es geschieht.
Zugleich war mir daran gelegen, das weithin bestehende Russlandbild zu nuancieren und im besten Fall einige schiefe Auffassungen zu korrigieren, wie sie im deutschsprachigen Raum beliebt sind, teilweise perpetuiert von angeblichen und selbsterklärten Russlandexperten. Folglich habe ich mich vor allem darauf konzentriert, über die soziokulturellen Kontinuitäten und weltanschaulichen Untiefen zu schreiben, die zur Katastrophe des Krieges beigetragen haben und sie weiterhin nähren, über die Wandlung der russischen Gesellschaft seit Februar 2022 – über ein Land also, das zunehmend von Militarismus, Autoritarismus und faschistoider Ideologie beherrscht wird.
Denn im Zeichen des Kampfes mit den vermeintlichen Nazis in der Ukraine und im Westen installieren die Ideologen des Kremls selbst einen neuartigen Faschismus, der mitunter als «Raschismus» (ein Kofferwort aus englisch «Russia» und «Faschismus») bezeichnet wird. Kriegsverbrechen, imperiale Brutalität, repressive Gesetze und Willkürjustiz prägen die Agenda; Gewaltverherrlichung, Kriegseuphorie und plumper Hurra-Patriotismus trumpfen in Bildung und Politik auf, ebenso in der Kultur, deren kritische Akteure zum Verstummen gebracht oder in die Emigration getrieben werden; eine hetzerische Propagandamaschinerie hat sich die Realität zum Feind erkoren; und die Staatsduma betätigt sich,
wie man in Russland witzelt, als «rasender Drucker», der ein repressives Gesetz nach dem anderen ausspuckt. Der öffentliche Diskurs changiert indes zwischen Normalisierung des Grauens, Konformismus und Indifferenz, während vereinzelte Widerstandsversuche brutal sanktioniert werden und wirkungslos bleiben.
Unter diesen Umständen klingt allerdings auch die eine oder andere wohlfeile Entrüstungstirade westlicher Sofa-Philosophen und Insta-Protestler selbstgerecht und wirklichkeitsfremd. Ein Großteil der west- und mitteleuropäischen Bevölkerung weiß nicht, wie sich Autoritarismus von innen heraus anfühlt. Mut ist meist Gratismut, ziviler Ungehorsam hat schlimmstenfalls eine Bagatellstrafe zur Folge; mangelnde politische Einmischung wird als pure Apathie und egoistische Bequemlichkeit gewertet.
Nicht zuletzt deshalb war mir auch daran gelegen, zu illustrieren, wie und unter welchen Bedingungen Menschen in Russland Protest äußern und Widerstand üben – auch wenn sie wissen, dass sie dafür festgenommen, geahndet, möglicherweise zu jahrelanger Haft in der Strafkolonie verurteilt und gefoltert werden. Für diese Menschen sind Prügel, Bußgelder oder Freiheitsentzug leichter zu ertragen als die Vorstellung, untätig zu bleiben, während ihr Land einen verbrecherischen Krieg führt.
Die Darstellung dieser Repressalien kann und soll allerdings weder den insgesamt verschwindend schwachen Widerstand rechtfertigen (denn es liegt in der Natur des Widerstands – wie auch schon im Wort selbst –, dass er gegen Hürden anzugehen hat) noch den Blick von der Mehrheit der russischen Gesellschaft ablenken, die in privatistischer Apathie, kraftloser Verdrängung oder eingeschüchtertem Selbstschutz zu verharren scheint.
Doch ist jetzt, mitten im Krieg, überhaupt die Zeit, über den Mut einzelner russischer Aktivisten, über das Leiden russischer Politgefangener in den Straflagern, über innerrussische Verwerfungen und Verstrickungen zu schreiben? Oftmals zu Recht wird auch der russischen Opposition der Vorwurf gemacht, dass sie selbst noch in ihrem Kampf gegen das Regime letztlich imperiale Nabelschau betreibe, von Großmachtdenken und Chauvinismus durchsetzt sei, insbesondere auch die Interessen und Bedürfnisse der Ukraine, das Elend der Ukrainer nicht in den Mittelpunkt stelle. Dieses Elend zu beenden, muss primäres Ziel jeglicher politischen Anstrengungen sein – und davon darf und soll die Beschäftigung mit Russland niemals ablenken.
Umgekehrt liegt auch für Russlands Zukunft die beste Chance in einem militärischen Sieg der Ukraine. Die Zahl überzeugter, oft kaum sichtbarer Kriegs-
gegner in Russland sollte man zwar nicht unterschätzen; eine reale Gefahr für das Putin-Regime indes erwächst daraus nicht: Zu repressiv sind die Existenzbedingungen, als dass Proteste eine kritische Intensität erreichen könnten, zu tief sitzt auch der imperiale großrussische Patriotismus, der weite Teile der Gesellschaft hinter Putins Machtpolitik zu einen vermag; zu groß ist vor allem die Trägheit der Masse. Getroffen wird diese Trägheit, wird dieser Patriotismus und damit das Regime erst dann, wenn Russland an der Front empfindliche Niederlagen erleidet.
Solange jedoch Putin und seine Handlanger an der Macht sind, solange die russische Bevölkerung durch Schule, Kultur und Medien auf faschistoide Aggression eingeschworen wird, solange der heutige Schergenstaat nicht zu einem Scherbenstaat zerfallen ist, wird weder Europa noch die gesamte Weltordnung Ruhe haben. Für alle liberalen Gegner des Kremls bleibt es daher nicht nur eine moralische Pflicht, sondern auch eine realpolitisch alternativlose Aufgabe, die Ukraine zu unterstützen.
Und doch bleibt der Blick ins Innere des russischen Schergenstaates unumgänglich, zumal dieses Innere mittels seiner zahlreichen Proxys und propagandistischen Tentakel unaufhaltsam nach außen – und bis ins Mark unserer eigenen Gesellschaft vordringt. Denn es handelt sich bei diesem Inneren nicht allein um einen Unrechtsstaat, sondern auch um eine Ideologie des Unrechts.
In seinem letzten Wort vor Gericht sagt der oppositionelle Journalist Alexander Skobow: «Putins nazistische Diktatur ist ein Aggressor der besonderen Art. Indem sie den Krieg qua Gesetz zum ‹Nichtkrieg› erklärt hat, betrachtet sie jedweden bewaffneten Widerstand gegen ihre Aggression als terroristisch. Sie will nicht einmal die Existenz eines bewaffneten Gegners als eines legitimen Rechtssubjekts anerkennen. […] Doch Krieg ist prinzipiell nicht mit Recht vereinbar. Seiner Natur nach ist Recht Beschränkung von Gewalt, Krieg hingegen ist Gewalt ohne Beschränkung. Wenn die Kanonen sprechen, schweigt das Recht.»
Das besonders Perfide an einem solchen ideellen Unrechtssystem ist womöglich – wenn man diese Formel umdrehen darf – die faktische Kraft des Normativs: Alle beteiligten Akteure, auch die widerständigen, beginnen mit der Zeit notgedrungen in den gesetzlich vorgegebenen Mustern zu denken, wie absurd die jeweiligen Gesetze auch sein mögen. Denn alle Involvierten müssen mit den jeweils gültigen Rechtsnormen argumentieren, die oktroyierte Terminologie verwenden, sich mit den propagierten Vorstellungen konfrontieren, was ihre Sprache und ihr Denken zu deformieren droht.
Zugleich wird Russland auch außerhalb seiner nationalen Grenzen im Sinne kremlnaher Theoretiker wie etwa Alexander Dugin (siehe «Dugins Westernologie», S. 63 ff.) immer öfter als die letzte Bastion des antikapitalistischen Idealismus begriffen – oder wahlweise als letzte Bastion des Wertekonservatismus; und das ist die bemerkenswerte List der Kremlideologie, dass sie in beide Richtungen verfängt. Gemeinsamer Fluchtpunkt ist dabei der reaktionäre Reflex auf den westlichen liberalen Universalismus, der als schlechte Einheit, als Monopol inszeniert wird, während Russland und seine Satelliten eine sogenannte «multipolare Welt» anstreben. Solche sophistische Gedankenakrobatik ist in Wahrheit nichts anderes als der autoritäre Versuch, die universelle Geltung von Menschenrechten und individuellen Freiheiten durch essentialistische und identitäre Scheinargumente zu relativieren.
Stück für Stück erobert diese vom Kreml induzierte antidemokratische Paranoia sowohl innerhalb als auch außerhalb Russlands geistiges Territorium. Einige Aspekte dieser erschreckenden Entwicklung zu sezieren, ist Ziel der meisten hier versammelten Essays.
Die Texte in diesem Band stellen überarbeitete und erweiterte Versionen von Beiträgen dar, die in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung, der ZEIT, der Wochenzeitung, der Republik, im Tagesspiegel, im Neuen Deutschland oder auf Deutschlandfunk Kultur veröffentlicht wurden. Als Einzelessays erheben sie keinerlei Anspruch auf Systematik, geschweige denn Vollständigkeit; trotz Aktualisierung beziehen sie sich teilweise auf unterschiedliche zeitliche Schichten.
Aus Sicherheitsgründen mussten manche privaten Detailinformationen einschließlich Personennamen geändert werden. Die Übersetzungen stammen, soweit nicht anders angegeben, vom Verfasser.
Die Russen, so dröhnt es von einer Seite, sind von Übel. Nein, so schallt es von der anderen Seite zurück, die Russen sind nur die gegängelten Geiseln eines schrecklichen Tyrannen, die unterdrückten Opfer eines übermächtigen autoritären Systems.
Wie ist er also wirklich, der Russe? Haben wir es mit dem totalen Arschlochland Russland zu tun, dessen Bürger sämtlich mindestens gewissen- und skrupellose Putinisten, Nationalisten und Imperialisten, vielleicht aber sogar allesamt brutale, blutrünstige Killer sind? Oder handelt es sich umgekehrt um ein bemitleidenswertes Völkchen von jämmerlichen 144 Millionen, die von einem einzigen Despotenputin versklavt, ausgebeutet und als ahnungsloses Kanonenfutter an die Front geschickt werden? Jedem denkenden Menschen dürfte natürlich klar sein, dass die Wahrheit irgendwo zwischen diesen Extremen liegt – und ohnehin kein einheitliches Bild ergibt.
Denn Russland ist nicht nur groß, sondern, wie es in jeder erstbesten Russlanddoku heißt, das «Land der Gegensätze» schlechthin. Selbstverständlich gibt es auch im Westen, auch in Deutschland krasse soziale Kontraste, doch ist deren Ausmaß nicht annähernd vergleichbar: Ein bayrischer Bauer unterscheidet sich am russischen Maßstab gemessen in seinen Lebensbedingungen nur unwesentlich von einem Hamburger Journalisten.
«Entscheidend ist die Vielschichtigkeit», sagt Sergej Enikolopow, einer der wichtigsten russischen Experten für Ethnopsychologie und Kriminologie:
Es gibt n Russlands, das heißt, es gibt nicht das eine Russland, sondern viele. Moskau unterscheidet sich von anderen Städten. Kleine Städte unterscheiden sich von großen. Die Reichen vom Mittelstand, der Mittelstand von den unteren Schichten. Es handelt sich nicht nur um andere Lebensformen, sondern es bestehen auch mentale Unterschiede, Unterschiede in der Wahrnehmung.
Diese Unterschiede sind äußerst gravierend und deshalb sehr wichtig, weil Politiker und Politologen, sowohl die westlichen als auch die hiesigen, hierin oft fehlgehen. Wenn man etwa von der Jugend spricht, meint man fast immer die Moskauer Jugend, nicht die provinzielle. Schon die Hauptstädter verstehen die Provinz nicht.
Die Provinz lebt ihr eigenes Leben, und auch dort bestehen wiederum vielfache Schichtungen. Das gab es auch in der Sowjetunion, doch es war nicht ganz so rigide. Viele Studien zeigen, dass die gegenseitige Ablehnung, ja der Hass zwischen diesen Schichten zunimmt.
Natürlich existiert so etwas wie ein kulturell geprägtes russisches Weltbild. Aber es ist schwer zu greifen. Ich kann nicht behaupten, es verstanden zu haben. Oft wird es jedenfalls durch oberflächliche Losungen ersetzt. Diese kommen nicht zwingend von oben, sondern oft auch von unten. Jeder denkt, dass er alles verstehe. Es gibt endlose Spekulationen.
Dies erinnert an eine andere Schilderung:
Noch nie gab es in Russland eine solch unvorstellbare Vielfalt und Ungleichheit von Meinungen und Überzeugungen aller Menschen, noch nie stießen die Unterschiede in Bildung und Erziehung alle so sehr voneinander ab und führten zu solch einer Zwietracht in allen Belangen. Durch all dies weht ein Geist des Gerüchts, der leeren oberflächlichen Folgerungen, des dämlichsten Klatsches, einseitiger und nichtiger Schlüsse. All das hat einem jeden so sehr seine Meinung von Russland verdorben, dass man wahrlich niemandem trauen darf.
Dieses Zitat stammt von Nikolai Gogol – und aus dem Jahr 1845.
Derartige Fragmentierungen jedenfalls bedingen in Russland eine charakteristische Trägheit der gesellschaftlichen Masse. Anders als Mentalitätsmythen uns weismachen wollen, ist der durchschnittliche Russe wohl weder auf mystisch-abgründige Weise diabolisch noch erst recht auf geheimnisvoll seelenrussische Art gutmütig; doch er ist womöglich besonders indifferent und besonders träge –gerade auch was politische, soziale, altruistische, empathische Regungen angeht. Und in dieser Trägheit gleicht der Russe vielleicht wirklich einem Bären, der seine private Höhle um keinen Preis verlassen möchte – sei auch die Höhle in Wahrheit ein Käfig. Diese Selbsteinkerkerung gründet nicht zuletzt darin, dass vor dem Käfig schon immer der Dompteur mit einem Dressurstab lauert, um das Tier damit zu malträtieren, sobald es auch nur die Schnauze durch die Gitterstäbe zu stecken wagt.
Auf den gestürzten martialischen Zaren folgte ein bestialischer Zar; Revolutionen – ob sie nun reüssierten oder nicht – endeten mit endlosem Blut; und das Unrechtsregime wurde bestenfalls durch ein Regime des Unrechts ersetzt. Ständige Beschneidungen ihrer Freiheit haben die Russen leidvoll zu dulden gelernt – in
Jahrhunderten, in denen die Dompteure sie durch fortwährenden Schrecken zu einer stumpfen Verfügungsmasse konditioniert haben.
So haben sich die Russen eine Formel des Selbstschutzes angeeignet, die ihnen oft genug das Leben rettete: Solange man dich in Ruhe lässt, sollst du stillhalten. Ich erinnere mich, einmal von einer orientalischen Foltermethode gelesen zu haben, bei der Menschen bis auf den Kopf in ein Behältnis mit flüssigem Kot versenkt werden; in regelmäßigen Zeitabständen wird ein Säbel gegen ihren Kopf geschwenkt, sodass sie auch diesen in die Jauche tauchen müssen. Jene Foltermethode haben die russischen Herrscher schon immer hervorragend anzuwenden gewusst: Wer sich um mehr kümmert als seinen eigenen Mist, riskiert den Kopf. Wardwan Warschepjatjan, ein Schriftsteller der älteren, beinahe schon ältesten lebenden Generation, bringt das folgendermaßen auf den Punkt: «Die Menschen leben in Gasmasken. Die Regierung kann jederzeit die Luft abdrehen. Die Menschen haben aber schon gelernt, hintenrum zu atmen.»
Ein einprägsameres Bild kann man sich kaum vorstellen. Es scheint geradezu ein Schlüssel zum Verständnis der russischen Realität zu sein: Wenn man sich die Russen in Gasmasken ausmalt, wird so manches klarer. Und noch klarer, wenn man bedenkt, dass hier hintenrum geatmet, geredet, gearbeitet wird. Das Bild scheint die brutale staatliche Kontrolle, die Verordnung ideologischer Scheuklappen, die menschliche Kälte, die soziale Isolation, die kollektive Militarisierung und die angstbeladene Atmosphäre zu illustrieren, die im Land vorherrschen.
Darin regieren Heere von Handlangern, die sich selbst aus der entmündigten und verschreckten Verfügungsmasse rekrutieren – nur um diese weiterhin in Schach zu halten. So ergibt sich ein Kreislauf des starren Grauens: Man muss sich Russland nicht bloß als Schurkenstaat, sondern mehr noch als einen Schergenstaat vorstellen.
Vor rund zehn Jahren wussten die russischen Staatsmedien von einem unerhörten Ereignis zu berichten: In Moskau hatte ein Sondereinsatzkommando die Wohnung einer als Wahrsagerin und Hellseherin praktizierenden Hexe gestürmt –nicht etwa, weil die russischen Behörden militant gegen Obskurantismus vorzugehen beschlossen hätten, nein: Die Hexe, so lautete die Anklage, habe eine ältere Dame mit einem furchtbaren Bann belegt, wonach diese zusammengebrochen und ins Krankenhaus eingeliefert worden sei.
Es bleibt nebulös, wer in diesem Szenario tatsächlich mit den finsteren Mächten im Bunde stand – die Hexe, die vermutlich am wenigsten daran geglaubt hatte, dass ihr Bannspruch auch nur die geringste Wirkung entfalten könnte, die alte Dame, die im Übrigen gefordert haben soll, die Hexe zu verbrennen, die Polizei, die hier einmal mehr ein Unterpfand ihrer wahrhaft teuflischen Verschlagenheit geliefert hatte, oder vielleicht am ehesten das russische Fernsehen, das größten Geschmack daran fand, jedes Detail dieser erbärmlichen Diaboliade auszukosten – völlig unbeeindruckt indes von Hexenjagden anderer Art.
Davon gab es in Russland schon zu jener Zeit mehr als genug. Man mag etwa daran denken, wie der Journalistin und Rechtsschützerin Anna Politkowskaja der Prozess gemacht wurde, weil sie nicht nur gewagt hatte, das heilige Russland samt dessen Oberhaupt Putin in den Schmutz zu ziehen, sondern auch noch empfindliche Details über «Säuberungen» und Folter im Kaukasus offenzulegen. Als Hexenprozess bezeichnete man oft auch die Verfolgung der Pussy Riots, die fromme Orthodoxe zu brüskieren und die Moskauer Erlöserkathedrale zu exsekrieren sich erdreistet hatten. Die dafür verurteilte Nadeschda Tolokonnikowa hatte einen Teil ihrer Inhaftierung in einer mordwinischen Strafkolonie zu verbüßen, wo man sich nicht viel besser fühlen dürfte als auf dem Scheiterhaufen, wenn auch deutlich kühler – besonders wenn die Insassinnen zur Strafe stundenlang leicht bekleidet im Frost ausharren mussten, sodass ihnen später Finger und Zehen amputiert wurden.
Doch nicht nur auf einzelne «Hexen» macht der russische Staat gnadenlos Jagd. «Warum gibt es in Russland keine Massenproteste?», höre ich im Westen