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ERBE ALS VERANTWORTUNG

Ein Kompass für die nächste Generation

ERBE ALS VERANTWORTUNG

Ein Kompass für die nächste Generation NZZ LIBRO

Der Verlag NZZ Libro wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 – 2025 unterstützt.

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Korrektorat: Anja Borkam, Langenhagen

Layout & Satz: Gaby Michel, Hamburg

Druck: Balto Print, Vilnius

Printed in the EU

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ISBN Print 978-3-03980-031-5

ISBN E-Book 978-3-03980-032-2

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG

Für Clarissa und Hannah, mit Philemon und Kevin, die einiges anders machen als ihre Vorfahren

Für Alice und Milo und euren Reichtum an Ideen

Diskretion 11

Vorwort 12

EINLEITUNG 15

1 ETWAS IST EIN BISSCHEN ANDERS: WIE MAN VERMÖGEND

AUFWÄCHST 23

«But still you’ll never get it right» 25

«Das ist doch Nebensache» 27

Selbständigkeit erlangen 28

«Betongold» 30

Gemeinsame Erlebnisse 30

Den Umgang mit Geld übernehmen oder neu lernen? 31

Bescheidenheit ist vom Umfeld abhängig 33

Exkurs: Platzmangel 34

2 NUR NICHT AUFFALLEN: WARUM MANCHE FAMILIEN

AUF DISKRETION SETZEN UND ANDERE SICH MIT LUXUSGÜTERN

VON DER MASSE ABHEBEN WOLLEN 37

Ein falsches Bild von Reichtum 39

Soziale Realitäten prägen 40

Einem Bild entsprechen wollen 41

Hart verdientes Geld ist einfacher auszugeben 42

3 «DANKE, ABER NEIN DANKE»: WAS MAN VON ELTERN ÜBERNEHMEN

MÖCHTE UND WAS NICHT; UND WIE ES DIE NACHFOLGENDE

GENERATION MIT DER ERBSCHAFTSSTEUER HÄLT 45

Der Lohn der Arbeit 47

Freiräume nutzen 48

Engagement muss nicht immer Kasse machen 49

Das begründete und unbegründete «schlechte Gewissen» 50

Herkunft und Partnerwahl 52

Vermögensübergabebedingungen 53

Vermögensübernahmebedingungen 57

Umverteilung durch eine Erbschaftssteuer 58

4 «WIR SIND ANDERS (FLEISSIG)»: WIE SICH DIE NACHFOLGENDE

GENERATION VON IHREN ELTERN UNTERSCHEIDET 65

Optimistische Jugend 67

«Das Monster, das ich rief» 68

Inneres und äusseres Vermögen 69

2035 beginnt heute; die Zukunft im Blick der Erbengeneration 72

Exkurs: Vom Ende der Leistungsgesellschaft 73

Das «Buddenbrook-System» 79

5 INTERGENERATIONELLE ANERKENNUNG:

KOMMUNIKATION ALS BASIS ZUR POTENTIALENTFALTUNG 81

Von Vorfahren zu Nachfahren 83

Wenn Fehler passieren 88

Verantwortung übernehmen 89

Von Nachfahren zu Vorfahren 89

Ein «Generationenspiel» 91

6 DIE ÜBERNAHME ALS NATÜRLICHER ÜBERGANG:

WIE MIT DEM «PROBESTERBEN» EIN PLAN FÜR DEN FALL

DER FÄLLE ENTSTEHEN KANN 93

«Dafür habe ich noch lange Zeit» 95

Die ersten Schritte im Notfall 98

Der Notfallplan 99

Wenn die Erben selbst einmal vererben 102

7 VON SINN UND MORAL: WIE ES IST, WENN MAN

NICHTS KAUFEN MUSS 105

Erblasser und Erben zwischen Geld und Moral 107

Erbe ist nicht gleich Erbe 109

Im Durcheinander ohne Kompass 110

Der breite Fächer der Handlungsalternativen 112

8 INVESTIEREN UND BERATUNG ÜBER GENERATIONEN HINWEG:

VON FIRMEN, PRIVATEN INVESTITIONEN UND LIQUIDEN

ANLAGEN 115

Nur eine lästige Pflicht? 117

Begleitung in der Nachfolge: Die Kür für Vermögensverwalter 118

«Die vergiftete Süssigkeit»: Die Frage des Geschlechts 120

Mangelndes Interesse kostet Geld 123

Kapital und Kapitalismus um jeden Preis? 123

Wie ist das Vermögen organisiert? 126

Welche Investorin bin ich? 127

Lernen beginnt mit Interesse 129

9 IMPACT-INVESTMENTS 131

Von der Vermeidung zur positiven Wirkung 133

Wo beginnen? 134

Exkurs: Die zehn Bausteine für wirkungsvolles Investieren 137

Weiterführende Informationen 141

10 WOFÜR MAN SICH ENGAGIEREN KANN 143

Von kleinen und grossen Gesten 145

Spender sind wichtig 146

Eine neue Tradition des Zurückgebens 147

Die Motivation zu geben 148

Philanthropie als Statussymbol? 149

Wird man zur Philanthropin erzogen? 150

Grundfragen der Familienphilanthropie 151

Exkurs: Das Leitmotiv der Stiftung Schweizer-Werthmüller* 152

Der richtige Zeitpunkt ist jetzt 155

11 NETZWERKE: DEN DIALOG MIT GLEICHGESTELLTEN SUCHEN 157

Die «Sippe» finden 160

Exkurs: Netzwerke 162

12 VERMÖGEN ALS AUFGABE 165

Die schlaflosen Nächte 167

Bescheid wissen 169

Innerfamiliäre Kommunikation 170

Die Frey-Stamm-Methode (FSM): Schritte zur Vorbereitung auf das Vermögen 171

«Du willst nicht? Ich schon!» 174

Exkurs: Der plötzliche Todesfall 174

Die Reise beginnen 176

ANHANG 179

Glossar 180

Interview- und Gesprächspartner 184

Interviewfragen 186

Literaturverzeichnis 187

Pulp: «Common people» 188

Dank 191

DISKRETION

Wie in unserem ersten Buch «Von Geld und Werten» (Basel, 2019) ist uns auch hier Diskretion wichtig. Unsere Interviewpartner haben uns Einblicke in die Charakteristiken ihrer Familien gegeben und uns erzählt, was sie im Zusammenhang mit ihrer privilegierten Herkunft beschäftigt. Wir schätzen dieses Vertrauen sehr und möchten uns dafür herzlich bedanken. Ohne ihr Vertrauen wäre dieses Buch nicht erschienen.

Das vorliegende Buch «Erbe als Verantwortung» soll durch die inhaltliche Relevanz und die Auseinandersetzung mit dem Thema überzeugen und nicht durch Indiskretionen. Deshalb sind alle bei der ersten Nennung mit einem * gekennzeichneten Namen im Text Pseudonyme. Bei allen anderen Namen handelt es sich um Personen, die uns autorisiert haben, ihre Identität preiszugeben.

VORWORT

Im Sommer 2016 trafen wir uns zum ersten Mal zu einem Gespräch, das in einen Zeitungsartikel mündete. Unsere Leidenschaft für das Thema Family Governance führte uns dazu, zusammen das Buch «Von Geld und Werten» (Basel, 2019) zu schreiben. Darin fokussierten wir uns darauf, wie die ältere Generation ihre Nachkommen mit den finanziellen Privilegien der Familie vertraut macht, auf den Vermögensübergang vorbereitet und diesen dann vollzieht.

«Erbe als Verantwortung» ist die logische Fortsetzung davon. In diesem Buch liegt unser Augenmerk nun auf der übernehmenden nächsten Generation. Wer in einer vermögenden Familie aufwächst, kann sich glücklich schätzen – möchte man meinen. Doch die nächste Generation von Erben und Familienunternehmern steht durchaus vor der Herausforderung, sich zu bewähren, nicht zuletzt vor sich selbst. Die Nachkommen wollen nicht ein Leben lang nur als «Söhne» bzw. «Töchter von» gelten. Deshalb sprechen wir von einem Privileg.

Wie gelingt es ihnen, dem Familienvermögen eine eigene Prägung zu geben? Wie wahren sie den Frieden mit ihren Geschwistern, auch wenn diese ganz andere Lebensentwürfe verfolgen? Was erzählen sie ihren Freunden, warum sie sich plötzlich ein Haus oder eine Wohnung leisten können? Und finden sie das eigentlich fair, dass sie ohne eigene Leistung vermögend sein werden?

In einer Studie von Campden Wealth aus dem Jahr 2022 wurden 102 Familien aus den USA, die über ein Vermögen von mindestens 30 Millionen US-Dollar verfügen, zum Thema «next generation» interviewt. Unter anderem zeigte sich, dass die folgende Generation durchschnittlich im Alter von 25 Jahren zum ersten Mal über das Familienvermögen ins Bild gesetzt wird. Die Nachkommen erwarten, dass sie mit 48 Jahren die volle Verantwortung darüber übernehmen. Weiter sagten fast alle Befragten aus, dass sie sich in ihrer Vermögens- und Steuerplanung von externen Spezialisten beraten liessen. Bei der Nachfolgeplanung

und dem Vermögensübergang waren es immerhin noch fast zwei Drittel. Und fast die Hälfte der Befragten hatte bereits Familienstreitigkeiten um das Vermögen erlebt. Eine wichtige Aufgabe, die potenziell mit Vermögen zusammenhängt, ist also die Verhinderung von Konflikten.

Die effizientesten Family-Governance-Instrumente waren laut den Befragten eine kontinuierliche innerfamiliäre Kommunikation (66 Prozent), regelmässige formale Zusammenkünfte (39 Prozent) sowie die Zusammenarbeit mit externen Beratern (32 Prozent). Im Sinne einer gelingenden Kommunikation soll dieses Buch dabei helfen, relevante Themen in den Familien anzustossen und den Lesern Einsicht in die Befindlichkeiten, Massnahmen und Handlungsalternativen von anderen Familien zu gewähren.

Wir haben mit mehr als dreissig Personen gesprochen, die finanziell privilegierten Familien mit Wohnsitzen in der Schweiz, in Deutschland, Österreich, Grossbritannien, Südamerika und den USA entstammen oder als Berater und Psychologin den Betroffenen zur Seite standen. Gern hätten wir diesen Kreis auf weitere Regionen ausgeweitet. In einigen Fällen interviewten wir direkte Nachkommen von Eltern, die wir bereits für das Buch «Von Geld und Werten» befragt hatten. Die Einstellung zu Geld unterscheidet sich von Generation zu Generation zum Teil beträchtlich. Andererseits gibt es auch Parallelen, die auf gemeinsamen familiären Wertvorstellungen gründen. Die hier wiedergegebenen Situationen, Erfahrungen, Meinungen, An- und Einsichten sind offensichtlich verschieden. Aufgrund der schmalen Grundgesamtheit von gut dreissig Personen wollen wir mit der folgenden Darstellung weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Repräsentation vermögender Nachkommen erheben. Vielmehr möchten wir aufzeigen, dass es vielfältige Wege gibt, mit familiärem Vermögen umzugehen. Die Beispiele in diesem Buch sind als Anregung zur Selbstreflexion und zur Diskussion gedacht. Die Vermögen der Familienvertreter, die mit uns sprachen, bewegen sich zwischen einstelligen Millionenbeträgen und Milliarden. Eine bestimmte Grenze, ab der die Auseinandersetzung mit dem eigenen Vermögen zur Pflicht wird, lässt sich dabei nicht erkennen. Die Familien der Interviewten sind in verschiedenen Branchen aktiv. Bei einigen bildet das Familienunternehmen noch immer den grössten Teil des Ver-

mögens, andere haben sich von Unternehmer- zu Investorenfamilien gewandelt, und wieder andere befinden sich weiterhin erfolgreich im Aufbau ihres Vermögens. Einige aus der nachfolgenden Generation nutzen ihre privilegierte Ausgangslage für eine bewusste Auszeit oder für ein Engagement, das nicht von finanziellen Motiven geprägt ist. Eine befragte Person stammt ursprünglich aus dem Mittelstand, kam jedoch durch ihre exklusive Wohnlage regelmässig mit Menschen in Kontakt, die über sehr grosse Vermögen verfügten.

Der Titel des letzten Kapitels dieses Buches heisst – wie schon in unserem ersten Buch – «Vermögen als Aufgabe». So wie wir im ersten Buch die sieben wichtigsten Erkenntnisse aus der Sicht der übergebenden Generation formulierten, fassen wir hier in neun Punkten zusammen, womit sich die übernehmende Generation befassen sollte.

Wir freuen uns auf Ihr Feedback und eine Kontaktaufnahme via www.familygovernance.ch

EINLEITUNG

«Ich habe Dir in Deinem Leben viel ermöglicht.»
Vater an Clara*

«Deine Probleme möchte ich auch haben!» Das denken Aussenstehende, wenn sich jemand schwer damit tut, eines Tages ein Vermögen zu übernehmen. Es erscheint als pures Glück, in eine Unternehmeroder Investorenfamilie hineingeboren zu werden. Was nicht sofort erkannt wird, ist, was es alles beinhaltet, sich mit dieser Situation auseinanderzusetzen. Seitens der Eltern ist die Pflicht, ihre Kinder an das Vermögen heranzuführen und die Kür, rechtzeitig loszulassen und für die Kinder, zu wissen, wie stark das Vermögen, welches nicht von ihnen geschaffen wurde, ihr Leben beeinflussen soll und wie sie es weiterführen wollen. Das gelingt nur selten reibungslos, wie die folgende Geschichte zeigt.

Clara* ist die Tochter eines erfolgreichen Schweizer Unternehmers. Ihre Schwester besuchte die Kunstgewerbeschule und hatte kein Interesse am familiären Handelsbetrieb. Für Clara hingegen stand schon länger fest, dass sie ihn dereinst übernehmen wollte. Sie studierte Betriebswirtschaft, arbeitete regelmässig während der Semesterferien im Familienbetrieb und schloss ihr Studium mit einem Master ab. Danach arbeitete sie für zwei Jahre im Ausland. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz baute sie im Familienunternehmen eine neue Abteilung für Digitalisierung und Prozessmanagement auf. Bis dahin lief alles nach Plan – aber als sie unpopuläre Entscheidungen traf, stellten sich erste Probleme ein. Langjährige Mitarbeitende, die das Vertrauen des Vaters genossen, begannen, hinter ihrem Rücken zu opponieren. In dem einen oder anderen Fall hatten sie damit auch Erfolg. Clara stellte ihren Vater zur Rede. Ein Streit entbrannte. Als Alleinaktionär war er es gewohnt, allein zu entscheiden, er wollte sich von seiner Tochter nicht belehren lassen. Clara sah sich in ihrer Entscheidungskompetenz beschnitten und fürchtete, an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dies schienen ihr ungünstige Vorzeichen für ihre spätere Übernahme der Firma. Der Vater, bald siebzig Jahre alt, meinte dagegen, er verlasse sich lieber auf sein Bauchgefühl. Der Erfolg der Firma gebe ihm recht.

Clara fragte sich, ob sie weiter versuchen sollte, ihren Vater von der Richtigkeit ihrer Entscheidungen zu überzeugen, oder ob sie das Unternehmen verlassen sollte. Allerdings wollte sie die Firma weiterführen. Ihr Lebenspartner hatte bereits zugesagt, die Betreuung der Kinder zu übernehmen, falls sie eines Tages eine eigene Familie gründeten. Clara besprach die Situation sowohl mit ihrem Lebenspartner als auch mit einem externen Berater. Aus diesen Gesprächen entwuchs ein Massnahmenpapier, das Clara ihrem Vater präsentierte:

1. Einigung über die von ihr vorgeschlagenen Massnahmen in der Betriebssteuerung;

2. Aufbau ihres Nachfolgers im Bereich Digitalisierung und Prozessmanagement, anschliessend Wechsel in die Abteilung Einkauf unter klaren Zielsetzungen;

3. bei Erreichen dieser Zielsetzungen Beförderung in die Geschäftsleitung der Firma und Wechsel in die Verkaufsabteilung;

4. komplette Übernahme der Firma zum 73. Geburtstag des Vaters, der zwei Jahre Verwaltungsratspräsident (VR-P) bleiben und dann definitiv ausscheiden sollte;

5. Finanzierung der Übernahme durch ein Darlehen des Vaters, das sie innerhalb der kommenden fünf bis sieben Jahre zurückzahlen wollte.

Abgesehen von kleineren Einwänden war ihr Vater einverstanden. Zunächst entwickelte sich alles wie geplant. Doch dann, im letzten Jahr, bevor der Vater als Geschäftsleiter zurücktreten sollte, tauchten neue Probleme auf. Clara zog einen grossen und einträglichen, aber auch sehr komplexen Auftrag an Land, wofür sie der Vater kritisierte. Als ein langjähriger Mitarbeiter, der mit Clara zusammenarbeitete, kündigte, warf der Vater Clara vor, die Belegschaft zu verheizen. Als sich die Differenzen vertieften, stand für Clara fest: Ihr Vater wollte auch mit 73 Jahren das Steuer nicht aus der Hand geben. Die Sachfragen, um die sie stritten, erschienen ihr als Symptom dafür. Abermals entbrannte der Konflikt. Clara berief sich auf ihre Absprache, der Vater brach das Gespräch ab. Eine Woche später erhielt Clara von ihrem Vater den folgenden Brief:

Clara,

Du hast mich einmal gefragt, was mir in meinem Leben am meisten fehlt. Ich habe Dir damals erzählt, dass ich meinen Vater vermisse. Ich würde gerne mit ihm zu Abend essen. Mein Vater hatte zwei Söhne. Keiner von uns beiden war darauf vorbereitet, die Firma zu übernehmen, als er unerwartet an einem Herzinfarkt starb.

Ich würde meinem Vater gerne erzählen, was ich aus seiner Firma gemacht habe und wie ich dafür gekämpft habe, dass sie das geworden ist, was sie heute ist. Ich bin sicher, dass er heute stolz auf mich wäre.

Wenn ich unter meinem Vater in der Firma gearbeitet hätte, hätte ich mich Tag und Nacht eingesetzt und wäre ihm dankbar gewesen, dass er mir ermöglicht hätte, unter ihm zu arbeiten und zu lernen, das Geschäft zu entwickeln und mich zu beweisen.

Unglücklicherweise handelst Du komplett anders. Seit Du in die Firma eingetreten bist, musste ich immer wieder Brände löschen. Du hast Dein Büro mit eigenen Möbeln eingerichtet, die ein Mehrfaches von dem kosten, was ich in meinem Büro stehen habe. Langgediente Mitarbeitende haben uns verlassen, weil sie mit Deiner Geschäftsführung nicht einverstanden waren. Dafür hast Du andere angestellt, die nichts bringen. Unsere Marge im letzten Verkaufsgeschäft war zu tief, weil Du keine Geduld hattest, das Verkaufsgespräch mit unserem Geschäftspartner auszusitzen.

Ich habe Dir in Deinem Leben viel ermöglicht.

Heute bereue ich, dass ich einwilligte, Dir an meinem 73. Geburtstag die Führung der Firma zu übergeben und Dir meine Anteile zu verkaufen. Ich werde es nicht tun, auch wenn ich damit in Deinen Augen ein unzuverlässiger Vater bin. Ich bin enttäuscht davon, wie Du Dich mir gegenüber verhältst. Wüsste Dein Grossvater davon, würde er sich in seinem Grab umdrehen.

Dein Vater

Clara war fassungslos über den Wortbruch ihres Vaters und dessen mangelnde Anerkennung für ihren eigenen Weg. Sie hatte genug, zog sich aus dem Familienbetrieb zurück und baute zusammen mit ihrem Lebenspartner eine eigene Firma auf. Sie bekamen ein Kind. Als ihr Vater schwer erkrankte, fragte er Clara, ob sie sich als Verwaltungsrätin zur Verfügung stellen würde. Das Geschäft war eingebrochen.

Clara willigte unter der Bedingung ein, dass der Vater ihr einen Teil der Aktien bei Übernahme des Verwaltungsrats-Mandats und nach einem Jahr die Mehrheit verkaufte. Der Vater war, nach kurzer Bedenkzeit und Konsultation mit Claras Schwester, einverstanden. Clara wurde zunächst Minderheits- und nach einem Jahr Mehrheitsaktionärin. Daraufhin übernahm sie die Leitung und setzte einen externen VR-Präsidenten ein. Als ihr Vater starb, erbten sie und ihre Schwester mit dem Einverständnis ihrer Mutter die verbliebenen Aktien. Claras Schwester willigte ein, ebenfalls Mitglied des Verwaltungsrats zu werden. Clara war der Meinung, dass ihre Schwester aufgrund ihrer Berufserfahrung eine gute Ergänzung für den Verwaltungsrat sei. Clara konnte nun ihre Visionen umsetzen und das Unternehmen nach ihren Überzeugungen und unternehmerischen Massstäben leiten. Zu Lebzeiten des Vaters war dies nicht möglich gewesen. In ihrem Führungsanspruch waren sich beide ähnlich gewesen.

Eine erfolgreiche Family Governance setzt voraus, dass die Familienmitglieder konsensorientiert aufeinander zugehen, die Individualität der jeweils anderen akzeptieren und gleichzeitig das grosse Ganze nicht aus den Augen verlieren. Unternehmen und Vermögen geordnet und möglichst friedlich an die nächste Generation zu überführen, gelingt nicht von einem Tag auf den anderen. Ein solcher Prozess kann Jahre dauern. Diese Arbeit bleibt Aussenstehenden oft verborgen, und er beginnt unseres Erachtens mit der Geburt der Kinder. Die Verantwortung der Eltern für die nächste Generation, ob mit oder ohne Reichtum, ist in den ersten zwanzig Jahren enorm. Exponierte Familien mit grossem Vermögen, denen der Übergang misslingt, haben nicht nur mit den daraus erwachsenden Problemen zu kämpfen, sondern sehen sich auch den Mutmassungen der Medien ausgesetzt.

In der linksliberalen britischen Zeitung «The Guardian» äusserte sich Ingrid Robeyns, Professorin für Wirtschaftsphilosophie an der niederländischen Universität Utrecht wie folgt: «In a country with a socioeconomic profile similar to the Netherlands, where I live, we should aim to create a society in which no one has more than € 10 million.». Sie begründet dies damit, dass ein solches System nicht nur einer fairen und kohärenten Gesellschaft mit einem ausgeprägteren Gemeinschaftsgefühl zuträglich sei, sondern alle Menschen am glücklichsten

mache. Ein Vermögen ab 10 Millionen Euro, so können wir schlussfolgern, bietet für die Betroffenen keinen zusätzlichen Lebensgenuss, vielmehr kann es die Nerven strapazieren und einer gerechten, kohäsiven Gesellschaft abträglich sein.

Wir wollen diese Aussage nicht werten sondern darauf hinweisen, dass sich die Generationen mit dem Vermögen beschäftigen sollten. Vermögende Eltern sorgen sich, ob die Kinder bereit und in der Lage sind, das Unternehmen und Vermögen zu übernehmen und erfolgreich weiterzuführen. Die Kinder wiederum sind – explizit oder implizit – mit der Erwartungshaltung der Eltern konfrontiert. Wie beeinflusst es sie in ihren Entscheidungen, wie sie ihr Leben leben wollen? Ist ein Vermögen, zu dem sie – abgesehen davon, dass sie in dieser Familie aufgewachsen sind – nichts beigetragen haben, existenzieller Bestandteil ihres Lebens oder wollen sie damit nichts zu tun haben? In Claras Familie war es zu einem schmerzlichen Bruch gekommen. Endlich loszulassen, war in diesem Fall die Bedingung dafür, dass es dann doch so kam, wie es sich Clara und der Vater wünschten. Claras Geschichte soll sinnbildlich dafür stehen, dass Konsens nicht immer das oberste Gebot eines Nachfolgeprozesses sein muss. Den eigenen, auch einen vom Unternehmen abgewandten Weg zu gehen, mochte in Claras Fall der Grund dafür gewesen zu sein, das spätere Zusammenkommen erst zu ermöglichen. Dieser Entwicklungspfad ist nicht untypisch für Unternehmerfamilien. Doch abgesehen von dem Familienunternehmen erwarten auch andere vermögensrelevante Themen die nachfolgende Generation. Sie wird sich zunehmend bewusst, dass in der Familie, in die sie hineingeboren wurden, einiges anders ist als in anderen Familien. Davon handelt Kapitel 1.

1 ETWAS IST EIN BISSCHEN ANDERS: WIE MAN VERMÖGEND AUFWÄCHST

«Die Kinder spielen mit dem Besenstiel, trotz der Geschenke, die sie erhalten haben.»
Florian Wanner*, Österreich

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