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Verlagsbeilage Chancen, Chancen, Chancen

Freie Fahrt–wer in derSchweiz vorankommt undwarum

Wasgetan werden muss, damitAufstiegmöglich bleibt

Es brauchtnicht Ergebnisgleichheit,sondern «Chancen,Chancen,Chancen», damitMenschendas leistenkönnen, wasihren Fähigkeitenund ihremWillenentspricht. DasSchweizer System istdarin besonderserfolgreich.Diese Beilageuntersucht, warum.

CHRISTOPH A. SCHALTEGGER, RENÉ SCHEU LARSP.FELD UND PETER A. FISCHER

Es gibt Länder,die lautvon Gerechtigkeit reden –und solche,die sie leise leben. DieSchweiz gehört zurzweiten Kategorie.Während anderswoganze Gesellschaften sich über zunehmende Ungleichheit empören und streiten, gelingtesder Alpenrepublik im Herzen Europas,Chancen für dieVielenzu schaffen.Warumdas so ist, wollen wirin dieser Beilageerkunden

Wasist eine Chance? Es istdie Gelegenheit, sich zu beweisen, ohnedass andere einendaran hindern können. Es gehört insofern zu den grossenMissverständnissen der Gegenwart, Chancengerechtigkeitund Chancengleichheit in eins zu setzen. Denn niemand soll Nachteileerleiden, bloss weil er über besondere Talente undGaben welcher Art auch immer verfügt.Und ebensowenig geht es darum, alle im Ergebnis möglichst gleich zu machen, ungeachtet von Fleiss und Anstrengung.Stattdessen soll jede undjederden Weggehen können, den er oder sie für richtig hält –alle nach ihren Fähigkeiten und alle nach ihrem Können,freinachKarlMarx.

DieSchweiz ist ein Land, das bisher funktionierte, und genaudas macht sie erklärungsbedürftig.

Genau hier setzt der schwedische Ökonom Daniel Waldenström (Seite 7) an und argumentiert, dass die verbreitete Erzählungeiner immerungleicher werdendenGesellschaft zu einem grossen Teil auf selektiver Dateninterpretation beruht. Berücksichtigt manSteuern, Transfers,Rentenansprüche und die breite Kapitalstreuung über Wohneigentum und Pensionsfonds,zeigt sich ein Bild, das stabiler und egalitärer ist, als oft behauptet wird.Falsche Diagnosen führen zu falschen Therapien

Die Schweiz istein Land, dasbisher funktionierte, und genaudas machtsie erklärungsbedürftig.Sie spricht wenig über Gleichheit, aber sie bringt sie messbarhervor –nicht alsZiel, sondernals Nebenprodukt von Bildung,Vertrauen undInstitutionen.

Der frühereSNB-Präsident Thomas Jordan (Seite8) hat recht, wenn er im Gesprächden Satz äussert: «Die Schweiz ist eindeutig ein Chancenland.»Der Satz istempirisch gutbelegt.Internationale Vergleiche zeigen:Die soziale Mobilität ist hierzulande hoch, die Korrelation zwischen Herkunftund Einkommengering.Nur rund fünfzehnProzentder Einkommensunterschiedelassen sich auf das Elternhaus zurückführen–ein Wert, derimangelsächsischen Raum dreimal so hoch ist. Hinter dieser Offenheit steht kein grossgesellschaftliches Programm, sondernein Ensemble von Mechanismen, diestill ineinandergreifen: ein durchlässiges dualesBildungssystem, flache Hierarchien, ein funktionierenderArbeitsmarkt Entscheidend ist, dass Chancengleichheit nichtzentral verwaltet, sondern dezentral erzeugt wird. Sie entsteht in Familien,Betrieben, Schulen –dort,woVerantwortung konkret wird.«DieFamilie ist die mächtigste Bildungsinstitution», sagt der US-amerikanische Ökonom, Bildungsforscher und Nobelpreisträger James Heckman (Seite 4) im Interview Denn in ihrentstehen jene motivationalenund kognitiven Ressourcen, diespäter Leistung ermöglichen. Wersoziale Mobilität will, muss also das Soziale stärken, nicht den Staat.Die Schweiztut ge-

naudas:Sie ergänztelterlicheVerantwortung durch institutionelle Verlässlichkeit, nicht durch derenSubstitution Ergänzend dazu zeigen die beiden Mediziner Oskar Jenniund Flavia Wehrle (Seite 12),dass Kindheit nicht nur als Investition in die ökonomische Zukunft verstanden werden darf.Psychische Gesundheit,Geborgenheit und stabile Beziehungen sind entscheidend –nicht nur fürden Aufstieg,sondern für ein erfülltes Leben Zentral istdas dualeBerufsbildungssystem. Der Schweizer Bildungsökonom Stefan Wolter (Seite 6) belegt, dass es nichtetwa einen Umwegzum Aufstieg, sondern dessenVoraussetzung darstellt. Es verhindert Bildungsabbrüche, motiviert schulmüde Jugendliche und hält das System durchlässig.Die duale Struktur –Lernen und Arbeiten zugleich –sichert Anschlussfähigkeit, auch ohne akademischen Titel. Insgleiche Horn bläst sein österreichischer Kollege Martin Halla (Seite 11):Österreich zeichnet sich durch eine aussergewöhnlich hohe Einkommensmobilität aus,obwohl die Bildungsmobilitätrelativ niedrig ist. Der Grund:Das duale Berufsbildungssystem eröffnet jederzeitbreiteAufstiegspfade, auchohne akademischen Abschluss Dass es das Bildungssystem alleine nicht richten kann, zeigt der Beitrag desWEI (Seite 10).Der Arbeitsmarkt ist mindestenssowichtig.Deutschlands Probleme mit der sozialen Mobilität sind grossenteils aus den 1980er und 1990er Jahren ererbt und deuten auf Probleme des Arbeitsmarkts hin. Es geht alsomithin um strukturelle Mängel der Angebotsbedingungen ausserhalb derBildungslandschaft Deutschlands. Doch Einkommensmobilität beruht weniger auf sozialem Dünkel als auf ureigener Leidenschaft. Die Schweiz belohntnichtden Lautesten, sondernden Verlässlichsten. In der Kultur derArbeit zeigtsichdiese Haltung exemplarisch. «Alles,was ich mache,will ich aus Freude machen», sagtSpitzenköchin TanjaGrandits (Seite 13) –und beschreibt damit ein Verhältnis zur Leistung,das jenseits karrieristischer Überlegungen liegt. Arbeitsollgelingen. Sie istkein moralischer Selbstzweck, sondern eineForm der Selbstverwirklichung im Rahmen sozialerKooperation Gerade dadurch bleibt die Gesellschaft stabil. Neuere Studiendes IWP (Seite 3) zeigen, dass sich in der Schweiz weder Dynastien bilden noch die Einkommensungleichheit überdie Jahrezugenommen hat. Aufstiegist möglich, Abstiegauch –und beideshältdie Ordnung beweglich.

Fussgängerüberführung:Der

IWP

DasInstitutfür Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern hat sich Ende 2021 derÖffentlichkeit vorgestellt.Esforscht zur Schweizer Wirtschaftspolitik –zuUngleichheit, Sozialpolitik, Fiskalpolitik und zu politischen Institutionen. DasIWP nimmt eine Brückenfunktionzwischen Wissenschaft und Gesellschaftein und will zurgesellschaftlichen Meinungsbildung beitragen. Dazu vermittelt es seine Forschungüberdigitale Kanäle und veranstaltet öffentliche Vorlesungen mit internationalrenommiertenForschern.

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WEI

DasWalter Eucken Institut (WEI) an der Albert-Ludwigs-Universität in FreiburgimBreisgauist ein deutschesWirtschaftsforschungsinstitut, benannt nach dem Ökonomen WalterEucken(1891–1950). Es fördert die Prinzipien der Freiburger Schule,welche dieBedeutung von wirtschaftlicher Freiheit und fairem Wettbewerb betont. DasInstitut ist der sozialen Marktwirtschaftund der Ordnungsökonomik verpflichtet und forscht zu Themen wie Finanzpolitik, Wettbewerbspolitik,Sozialpolitik, Geldpolitik, Institutionenund Dogmengeschichte.

Wiegut ist Ihr Bauchgefühl? TestenSie Ihr Wissen in Wirtschaftspolitik

Dasschweizerische Modell lebt vonder Balance zwischen Freiheit und Institution, zwischen Eigenverantwortung und sozialem Vertrauen. Es istwenigereine Utopie als eine Praxis,die sich immer wieder aufs Neue zu bewähren hat Allerdings gibt es auch hierzulande einen Wermutstropfen: Geht die junge Generation in der Schweiz heute mit denselben Chancen an den Start wie vorangegangene Generationen? Der deutsche Generationenforscher Bernd Raffelhüschen (Seite 5) erinnert daran, dass eine Gesellschaft nicht nur vertikal–zwischen Arm und Reich –, sondernauchhorizontal– zwischen den Generationen –funktionieren muss Wenn die Altenlänger leben und die Jungen die Rechnung übernehmen, kippt das Gleichgewicht so leise wie unerbittlich.Der impliziteGesellschaftsvertragsteht plötzlich infrage. Vielleichtliegtdarindie eigentliche Prüfung des SchweizerModells, dieihm erst noch bevorsteht: Ob es gelingt,nicht nur die Chancen in der Gegenwartzu bewahren, sondern dieChancen auch für die Zukunftfairzufinanzieren.

Prof.Dr. ChristophA.Schaltegger istDirektor desIWP,Dr. René Scheuist Geschäftsführer desIWP,Prof. Dr.Dr. h.c. Lars P. Feld ist Direktor desWEI undDr. PeterA.Fischer istChefökonomder NZZ. DievierAutoren zeichnen als«Herausgeber» fürden Inhalt dieser Verlagsbeilage verantwortlich

Reichheiratet reich–und doch bleibt dieSchweiz einChancenland

Sowohl beider Verteilung vonEinkommen alsauch beider Verteilung vonVermögenzeigt sich im Fall derSchweiz Bemerkenswertes. Dasdürfteunter anderemdamit zusammenhängen,dassHerkunft hierzulande wenigerbestimmendist fürReichtum undErfolgals anderswo.

Ungleichheit ist in einigen Industrieländern auf dem Vormarsch. Nicht so in derSchweiz. Währenddie Einkommensunterschiede in denUSA in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen sind, zeigt sich hierzulande einauffallend stabiles Bild: Seitfast hundert Jahren beanspruchen die einkommensstärksten10Prozent konstant rund ein Drittel des Gesamteinkommens. Der anderswo typische U-förmige Verlauf –ein Rückgang derTopeinkommen nach dem Zweiten Weltkrieg und ihr erneuter Anstieg seit den 1980er Jahren –blieb in der Schweiz aus.

Diese Beständigkeitist umsoerstaunlicher,als gleich mehrereEntwicklungen die Ungleichheit eigentlich hättenverstärken können –allenvoran die Globalisierung und diezunehmend selektive Partnerwahl

Selektive Partnerwahl

Mit der Verlagerung arbeitsintensiver Produktion ins Auslandwurde dereinheimische TieflohnsektorunterDruck gesetzt, was das Potenzial fürwachsende Einkommensunterschiede birgt. Gleichzeitig hat sich in den oberenEinkommensklassenein regelrechterinternationalerWettbewerb um die besten Talente entwickelt: Hochqualifizierte Spezialisten sind weltweitbegehrt,und in einer wissensbasierten Ökonomiekönnen einzelne Spitzenkräfte oder Unternehmen nachdem Prinzip «the winner takes it all» überproportionalprofitieren Unter diesen Bedingungen wäreein Auseinanderdriften der Einkommen eigentlich zu erwarten gewesen. Gleichzeitig habensichimmer mehr sogenannte«PowerCouples» gebildet, also Paare, in denen beide Partner zu den Spitzenverdienern zählen.Der Arzt

heiratet heute häufiger die Anwältin alsdie Krankenschwester.Statistisch ist eine EhezwischenzweiTopverdienern rund fünfzehnmal wahrscheinlicher als eine zufälligePaarung. Dashat gesamtwirtschaftliche Konsequenzen: Würden die Menschen unabhängig von Einkommen heiraten, wäre die Ungleichheit heuteüber10Prozent geringer.Mit der bewussten Partnerwahl wirdalso ein gewisses Mass an Ungleichheit in Kauf genommen.Umsobemerkenswerter ist, dass weder dieGlobalisierung nochdie selektive Partnerwahl die Einkommensverteilung in der Schweiz nachhaltig verändert hat.

Egalitär schon vor den Steuern Im Gegenteil: Blicktman auf die Verteilung der Markteinkommen –also der Einkommen vor Steuern und staatlichen Transfers–,nimmt die Schweiz im internationalen Vergleich sogar einen Spitzenplatz ein. Einduales Bildungssystem, einflexibler Arbeitsmarkt und stabile Institutionensorgen dafür,dass dieEinkommenhierzulande gleichmässigerverteiltsindals in vielen anderen OECD-Ländern. Unddas,bevor überhauptUmverteilungsmechanismen wie Steuern,Sozialversicherungen –etwadie AHV –oderstaatliche Unterstützungenwie Prämienverbilligungen oder Subventionen für die Kinderbetreuungzum Tragen kommen. Augenfällig ist zudem, dass sich diese vergleichsweise egalitäreEinkommensverteilung seit rund hundert Jahren beobachten lässt. Währenddie Einkommensverteilung über die Jahrzehnte stabilblieb, ist beimVermögen in jüngerer Zeit ein leichter Anstieg der Konzentration zu beobachten. Verantwortlich dafür sind vor allem steigende Aktienkurse und Immobilienpreise im anhaltenden Niedrigzinsumfeld. Viele Wohlhabende

Im Gegensatz zuroriginalen«GreatGatsby»-Kurve wird diesoziale Mobilität hier mittelsGeschwisteranalysen stattEltern-Kind-Vergleichen gemessen.

FreieFahrt: DasHinweiszeichen symbolisiert,dass Herkunft kein Schicksalist undman sich Möglichkeitenerarbeitet

sind dadurch vor allem «auf demPapier» reicher geworden –durch Wertsteigerungen, nichtdurch höherelaufende Erträge.Der Anteil des VermögenseinkommensamGesamteinkommen der privaten Haushalte verharrte mit rund 10 Prozent nahezu unverändert. Mit anderen Worten: DasVermögender Reichen istgewachsen, ohne dass es die Einkommensungleichheit spürbar verändert hätte. Einzusätzlicher Umverteilungsbedarf entstand darausnicht.

Die Analyse ökonomischer Ungleichheiterschöpftsichnicht in der Betrachtung vonEinkommens- und Vermögensverteilungen. Bereits Nobelpreisträger Gary Becker betonte,dassesnebender statischen Verteilung aucheine dynamische Perspektivebraucht.Entscheidend istnämlich nichtnur,wie die Einkommen zu einem Zeitpunkt verteiltsind, sondern ob es den Menschen gelingt,sich auf der Einkommensleiter nach oben zu bewegen.Wenn Erfolg unabhängig vom Elternhaus möglichist,spricht manvon hoher sozialer Mobilität.Ist die eigene Zukunft dagegen schonbei der Geburt festgeschrieben, herrscht geringe soziale Mobilität

Zwischen den beiden Dimensionen der Ungleichheit gibt es einen Zusammenhang: DerUS-Ökonom MilesCorak zeigte,dasshohe Einkommensungleichheit häufig mit geringersozialer Mobilitäteinhergeht.Alan B. Krueger, Berater von US-Präsident Obama, machte diesen Zusammenhang als «Great Gatsby»Kurve bekannt: Je ungleicher die Einkommen verteilt sind, desto schwieriger istes, gesellschaftlichaufzusteigen –und umgekehrt. Nach dieser Logikmüsste sich die Schweiz mit ihrer vergleichsweise niedrigenUngleichheit auch durchhohe sozialeMobilität auszeichnen. Und tatsächlich:Während Fitzgeralds Gatsbyin den «Roaring Twenties» der USAvergeblich gegen unsichtbareSchranken ankämpfte, zeigtdie Schweiz, dass Herkunfthierzulandekein unüberwindbares Schicksalist –der Wegnachobenbleibt offen.

Geringer Familieneinfluss

Gemeinsammit IWP-Doktorand Jonas Bühler haben wir auf Basis von Administrativdaten und Geschwisteranalysen den Einflussder Familieauf dasspätere Einkommengemessen. DasErgebnis ist

eindrücklich:Lediglich rund 15 Prozent der Einkommensunterschiede lassen sich aufdie Herkunftzurückführen –ein ausgesprochenniedrigerWertiminternationalen Vergleich. Zum Vergleich: In Deutschland liegterbei 43 Prozent, in den USAsogarbei knapp 50 Prozent. Dasbedeutet:Ganze 85 Prozentder Unterschiede erklären sich durchFaktorenausserhalb der Familie –durch Talent, Einsatz,Ausbildung,aber auch durch Zufall.Mit anderen Worten: In der Schweiz entscheidet weit mehr als die Herkunft über denLebensweg.Die Tochtereines Bäckers hat reale Chancen, CEO eines Unternehmens zu werden. Und umgekehrtkannauchder Sohn einesArztes durchaus im Mittelfeld landen Selbst die verbleibenden 15 Prozent lassen sichkaumdurch klassische Treiberwie das Einkommen derEltern, Nationalität, ZivilstandoderWohnorterklären. Auch das istein positivesSignal: Es gibt keine Anzeichen für systematische Diskriminierung Nicht weniger hervorzuheben ist, dassdie geringe Bedeutung der familiärenHerkunft seit nunmehr vier Jahrzehnten unverändertgeblieben ist.Während in denUSA im selbenZeitraum sowohl die Einkommensungleichheit zunahm als auchdie Chancen auf sozialen Aufstiegsanken, konnte die Schweiz ihreDurchlässigkeit bewahren. Mit anderen Worten: Hierzulande bliebnicht nur die Verteilung der Einkommen konstant, sondern auch die Möglichkeit, unabhängig von der Herkunftdie Einkommensleiteremporzuklettern Doch um zu erkennen, ob sich Familien über längereZeit hinweg als Dynastienbehaupten können, braucht es zusätzlichden Blickübermehrere Generationen. In Baselhabenwir dazu Nachnamensanalysendurchgeführt und die sozialeDurchlässigkeit über viele Generationen hinweg bis ins 16.Jahrhundert zurückverfolgt. DasErgebnis ist eindeutig: Der Einfluss der Familie auf den sozialen Status zerfällt innerhalb von vier Generationen vollständig GrosseFamiliendynastien konntensich hierzulande nicht halten–und haben es auchnie getan. Viel eher zeigt sich ein«Buddenbrooks»-Effekt, wie ihn Thomas Mann in seinem Roman beschrieben hat: Während der elterliche Einfluss auf die Kinder klarnachweisbarist, wirkt jener

der Grosseltern zwar noch, aber nur mit etwa halber Stärke. Schon bei den Urgrosseltern verschwindetdieser Effekt, und auch weiter zurückliegende Generationenhaben keinerlei messbaren Einfluss mehr.Ein grosser Name ist in der Schweizkein Garant für dauerhaftenErfolg

Keine Habsburger Verhältnisse Dasist zumeinenzentral füreineoffene Gesellschaft, dieAufstiegschancen verspricht. Zum anderen ist es gerade in Zeiten selektiver Heiraten vonbesondererBedeutung.Gemeinsam mitMichele Salvi(Avenir Suisse)konnten wir zeigen: DasSprichwort«Gleich undgleichgesellt sich gern» gilt zwar auch beim Vermögen –dochgeheiratet wird häufigerin «neues» alsin«altes» Geld.Ehepartner ähneln sich stark im eigenen Vermögen, deutlich weniger jedoch im Vermögen ihrer Eltern. Möglich ist das nur dank intakter sozialerMobilität. Denn wären Reichtum undgesellschaftlicheStellung ausschliesslich vererbbar,lebten wir noch immerinHabsburger Zeiten. Ohne Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken würde dieselektive Partnerwahl zurZementierung vonFamiliendynastienführen. So erfüllt soziale Mobilität heute eine doppelte Funktion: Sie garantiert Chancengerechtigkeit, indem sie verhindert, dass Herkunft über Lebenswege entscheidet. Und sie sorgt dafür,dassselbst «Heiraten unter Gleichen» nicht automatisch neue Dynastien hervorbringen. Während die Habsburgerdurch strategische Ehen Macht und Reichtum über Generationen hinweg sicherten, verhindern in der Schweiz funktionierende Auf- undAbstiegsmechanismen, dass sich eine solche Schichtengesellschaft überhaupt verfestigt Wirkönnenalsoauch weiterhin unbefangen heiraten –und unsüber ein Land freuen, in dem Herkunftnicht Schicksal ist. Die Schweiz bleibt ein Chancenland: Hier werden Möglichkeitennicht vererbt, sondernerarbeitet.

Prof.Dr. ChristophA.Schaltegger ist Direktor sowieOrdinariusfür Politische Ökonomie undDr. oec. MelanieHänerMüller istBereichsleiterinSozialpolitik sowieBildungsverantwortliche des Institutsfür SchweizerWirtschaftspolitik (IWP)ander UniversitätLuzern.

«Die Familieist

eine

derwichtigsten ökonomischen Bildungsinstitutionen»

Nobelpreisträger JamesHeckman über früheFörderung, sozialeMobilitätund dieGrenzen staatlicherPolitik: «Wir dürfen elterliche Fürsorgenicht alsProblem,sondern müssen sieals wertvolleRessource begreifen.»

Professor Heckman, wiekommt es,dass Sie als Ökonom so viel überdie Familie forschen? Eigentlich ist das gar nicht ungewöhnlich. Schon der britische Ökonom Thomas Malthus (1766–1834) erklärte Bevölkerungsentwicklung über familiäreMuster. Alfred Marshall (1842–1924), der sich mit der Armut im viktorianischenEngland befasste,sah die Familie als zentrale Quelle von Wohlstand.Und GaryBecker (1930–2014), Nobelpreisträgervon 1992, hat mit seinerFamilienökonomie gezeigt, wie Eltern in dasHumankapital ihrer Kinderinvestieren.Indieserökonomischen Tradition steht auch meine Arbeit. Die Familie ist eineder wichtigsten ökonomischen Bildungsinstitutionen überhaupt.

Viele Debatten über soziale Mobilität klingen so,als sollteder Einfluss der Elternmöglichst kleinsein. Je geringer die Korrelation des eigenenErfolgs mit jenem der Eltern, desto besser: Ist das ein sinnvolles Ziel für eine Gesellschaft? Nein. Die Familie prägt ganz wesentlich –kognitiv,emotional,sozial. Wer versucht, diese Kraft zu neutralisieren, verschwendet eine enorme Ressource Der Fehler ist,zuglauben,man könne soziale Mobilitätfördern,indem man Eltern «ausschaltet».InWahrheitmuss mansie einbeziehenund stärken.

Kritiker würden sagen: Aber gerade dieser starke Einfluss der Familie verfestigt Ungleichheit.Was entgegnenSie? DasRisikobesteht. Wohlhabendere, gebildetereEltern können Programme besser nutzen, Informationen besser verarbeiten und gezieltereEntscheidungen für ihreKinder treffen. Aber die Lösung ist nicht, elterliches Engagement zu verbieten oder zu schwächen, sondern benachteiligte Familienzubefähigen. Wirdürfen elterliche Fürsorge nicht als Problem, sondern müssen sie als wertvolle Ressource begreifen.

Politikerreagieren daraufoft mit mehr Geldund Transfers.Hilft das? Nicht automatisch. Versuche mit bedingungslosem Grundeinkommen oder direkten Geldzahlungen zeigen: Für Kinder bringt das so gut wie nichts Entscheidend ist, wie die Ressourcen eingesetzt werden. Geld ohne Anleitung verpufft. Sehr wirksamsind dagegen Programme,die Elterndarin stärken, ihreKinder in derEntwicklung von Fähigkeiten, konstruktivem Engagement und Charakter zu fördern

In den USAgibtesseitJahrzehnten das Frühförderprogramm «HeadStart»für Kinder aus armutsbetroffenen Familien. Waslässt sichdaraus lernen? «Head Start» ist gut gemeint, aber seine Wirkungist etwasbegrenzt. Das Programm istdezentralisiert undvon unterschiedlicher Qualität.Eserreicht vor allem Familien, dieohnehin bereits motiviertsind.Kinder aus besonders schwierigen Verhältnissen, in denen elterliche Unterstützung fehlt, profitieren dagegen oft nichtgenug. Das zeigt, dass es nicht reicht,ein Programm flächendeckend auszurollen.Esmussso ausgestaltetsein, dass gerade die Kinder in den schwierigsten Verhältnissentatsächlichprofitieren –und dieFamilie in dasLeben desKindes eingebundenist

Sie sprechen häufig davon, dass elterlicher Bildungshintergrund ein zentraler Filter sei.Wie meinenSie das? Programme wirken nichtneutral. Gebildete Elternverstehen schneller, worum es geht, undsetzenEmpfehlungen konsequenterum. Weniger gebildete Eltern haben grössere Hürden.Deshalb verschärfen manche Massnahmen sogar Ungleichheiten, wenn man nichtgezielt unterstützt. Es kommt auf die Feinabstimmung an:Eltern dort abholen, wo siestehen

Haben Sieein Beispiel, wie gebildete Eltern ihre Vorteile ausspielen?

Ja.Inden USAwissengebildeteEltern sehr genau,welcheLehrer gutsind. Sie schaffen es,ihreKinderindiese Klassen zu bringen –selbstinnerhalbderselben Schule.Solche scheinbarkleinenUnterschiede machen langfristig viel aus Kinder profitierenvon besseremUnterricht, während anderezurückbleiben. Hier siehtman, wie starkVerhaltenund Wissenweitergegeben werden.

KönnenSie beschreiben, wie genauein Programm aussieht, das Ungleichheit wirklich abbauenkann?

Ja,nehmen wir dasBeispiel ausJamaika. Dort erhielten Familien regelmässige meist zweiwöchentliche Hausbesuche, bei denen Eltern lernten, mitihren Kindern zu interagieren. Eine Stunde pro Besuch genügte –und Jahrzehntespäter waren dieKinder gesünder,besser gebildet und beruflich erfolgreicher.Ähnliche Ansätze haben wirinChina untersucht: Auch dort gilt, dass die Aktivierung der Eltern derSchlüsselist.

Sie betonenimmer wieder die Bedeutung derfrühen Jahre. Warum sinddiese so zentral?

Weil Kinder in denersten Lebensjahrenamaufnahmefähigstensind. Dort werden grundlegende Fähigkeitenwie Sprache,Motivation und Selbstkontrolle geprägt. SpätereInvestitionen –etwain der Schuleoder an der Universität –entfalten ihre Wirkung nur dann, wenn bereitsinder frühen Kindheit investiert wurde. Wersoziale Mobilitätwill, muss so frühwie möglichansetzen.

Wieuniversell ist die Bedeutung der Familie –gilt sie in den meisten Ländern?

Absolut. Ob in China, unter vietnamesischen Flüchtlingen in den USAoder in Europa –überall zeigtsich: Familien, dieBildung ernstnehmen und Kindern Stabilität geben,schaffen Aufstieg. Diese Mechanismensind universell.

Waskönnenwohlhabendere Länder von ärmerenlernen?

In ärmerenKontextenist mangezwungen, mitwenig Ressourcen zu arbeiten –und setzt darum stärker auf das, waswirklich zählt: direkte Interaktion zwischen Eltern und Kindern. Reiche Länder neigen dagegendazu, Probleme mitGeldzuüberdecken. Aber Geld ersetzt keineBeziehung

Und welche Rollespielt die Kultur?

Eine zentrale Rolle.InVietnam oder Chinahat Bildung traditionelleinen sehr hohen Stellenwert. Familien erwarten,dassKinder fleissig sind, Opfer bringenund aufsteigen.Diese Haltung ermöglicht soziale Mobilität –oft auch

Fussweg: Dieses Verkehrsschildsteht symbolischdafür, dass dieElternindie Bildungihrer Kinder investieren sollen. ASTRA

unterwidrigen Umständen. In Gesellschaften, in denen Bildung weniger geschätzt wird, sind die Aufstiegschancen geringer,selbstwenn mehr Ressourcen vorhandensind

Und wenn wir den Blicknochmals in die USAwenden: Wiehat sich dieMobilität beiAfroamerikanernentwickelt?

Die Geschichte ist bemerkenswert. Trotz Diskriminierung haben Afroamerikaner im 20. Jahrhunderterhebliche Fortschritte erzielt –inBildung,Einkommenund sozialem Status Aber zugleichist dieUngleichheitinnerhalb derCommunitystarkgewachsen. InsbesondereKinder aus stabilerenFamilien oder allgemeinaus stabilerer Erziehung konnten aufschliessen, während anderezurückblieben. In denletzten Jahrzehnten hat sich derFortschrittinsgesamt verlangsamt Daszeigt sehr klar: Mobilitäthängt nicht nurvon RechtenoderRessourcen ab,sondern in entscheidendem Masse von stabilen und unterstützendenFamilienstrukturen.

nur,wenn sie Familien stärkt –durch Bildung,durch Coaching,durch dieVermittlung von Wissen und Fähigkeiten. Heisst das,dass auchprivateInitiativen eine wichtige Rolle spielenkönnen? Unbedingt. Denken SieanHenry Ford der Anfang des20. Jahrhunderts die Löhne seiner Arbeiter verdoppelte –nicht aus reiner Wohltätigkeit, sondern als Investition in stabile undproduktive Beschäftigte.Oder an JuliusRosenwald, den Gründer von Sears, Roebuck, der zusammen mit Booker T. Washington Tausende Schulen für afroamerikanische Kinder im Süden der USAbaute. Diese Rosenwald Schools haben über Generationen soziale Mobilitätermöglicht. Solche Beispielezeigen: Gesellschaftlicher Fortschrittkommt nicht allein vom Staat, auch private Akteure können enorm viel bewirken.

Wenn Sie jungen Eltern heuteeinen einzigenRat gebendürften,wie würde er lauten?

«Familien, die Bildung ernst nehmen und Kindern Stabilität geben, schaffen Aufstieg. DieseMechanismen sind universell.»

Welche Bedeutung haben dabei die Mechanismen der intergenerationellen Weitergabe? Eine entscheidende.Elterngeben nicht nur Einkommen weiter,sondern vor allemVerhalten, Sprache und Erwartungen. Solche Mechanismen erklären, warum Familien so prägend sind– und warum Politik allein dasnicht ausgleichenkann.

Die Familiendurchleben zurzeit einen Wandel.Esgibtmehr Alleinerziehende, die Rolle der Grosseltern verändert sich: Welche Folgenhat das? Es schwächtden familiären Rückhalt. Grosseltern etwa spielten früher eine wichtige Rolle in der Kinderbetreuung. Heute sind sieoft weit entfernt. Alleinerziehende oder Familien mit sehr knapper Zeit habenesschwerer,Kinder zu unterstützen. Dasschmälert die Aufstiegschancendieser Kinder.

Manche fordern deshalb einen stärkeren staatlichen Eingriff. Washalten Sie davon?

Der Staat kann unterstützen, aber er kann Elternnicht ersetzen. Jede Politik, die versucht, die Familie zu substituieren, wirdscheitern. Erfolgreich ist sie

SeienSie präsent. SprechenSie viel mit Ihrem Kind, lesen Sie ihm vor,lassen Sieesausprobierenund auch scheitern. Kinder lernen durch Nachahmung und durch Fehler.Liebe undAufmerksamkeit sind durchnichts zu ersetzen.

Interview: Melanie Häner-Müller und Christoph A. Schaltegger

ZurPerson

Prof.Dr. Dr.h.c.mult. James Heckman (81) istein US-amerikanischer Ökonom und Professor.ImJahr 2000 erhielt er zusammenmit demUS-amerikanischen Ökonometriker Daniel McFadden den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine bahnbrechenden Methoden zur Bewertung sozialer Programme undzur Berücksichtigungvon Auswahlverzerrungen in derPolitikforschung. SeineArbeitkonzentriert sich aufMassnahmen, die Ungleichheit verringern und die Kompetenzentwicklung im Laufe des Lebens fördern.Erverfolgteinen interdisziplinären Ansatz, unddie Zusammenarbeitdes Zentrums erstreckt sich über mehrereThemen, Disziplinen und Länder

Chancengerechtigkeit heisst auch

Generationengerechtigkeit

Weil dieBabyboomerweniger Kinderhabenals frühereGenerationen, belastet ihre Altersvorsorge dieJungenimmer stärker. Notwendige Reformen solltensichdabei stärkerander Verursachergerechtigkeit orientieren.

BERND RAFFELHÜSCHEN

Wenn es um Chancengeht, wird Chancengleichheit gemeinhin als gerecht empfunden. Gerechtigkeitist allerdings ein für den Juristenunbestimmter Rechtsbegriff, fürFansdes österreichischenÖkonomen Friedrich August von Hayek (1899–1992) ein inhaltsleeres«Wieselwort» und für den Statistikereine nicht messbareGrösse,mit der mansich besser nicht weiter beschäftigt. Denn wenn jederdarunter etwasanderesversteht, kanneine Einigung über das rechte Ausmass nur in einenideologisierten Glaubenskriegmünden, indessen Hochphase wir unsderzeitbefinden. Die Fronten sind klar abgegrenzt.Auf der einen Seite stehenjene, dieglauben, dass Gerechtigkeit mit gleichen Chancen und gleichem Resultat zu tunhaben muss.Unablässigverweisen sie auf die angeblich «unumstössliche»Tatsache, dass die Reichenimmer reicherund die Armenimmer ärmer werden.Zwarverweist der etwas versiertereZeitgenosse auf die im Zeitablauf der vergangenen Jahrzehntefast konstante Einkommensverteilung und zeigt auch auf,dass die Armen ebenfalls immer reichergeworden undnunmehr diereichsten Armen sind, die wirjemalshatten.

Damit gehört dieser Zeitgenosse allerdings schon auf die andereSeite der Front. Jene Front, die glaubt, dass die Chancenverteilung beim Startschuss gleich seinsollte.Was ausder ex ante gleichen Chancenverteilung ex post resultiert, istAusdruck der marktgerechten Lebensleistung,deren Einkommensund Vermögensvarianz durchein politökonomisches Abstimmungsprozedere über den Progressionsgrad des Steuersystems mehroderweniger stark komprimiert werden kann und sollte.

Da allerdings Leistung nur gezeigt wird, wenn sich Leistung auch lohnt, braucht es ein Mindestmass an Ungleichheit, von der wir derzeit eher zu wenig als zu viel haben. Fehlende Anreize,die eigene Einkommensposition zu verbessern, erhöhen die Ungleichheit und fördern das Ausmass an «notwendiger und gerechter» Umverteilung zulasten derer,die ohnehin nur «Glück gehabt» haben.

Gleichheit auf dem Prüfstand Wenn aber die politische Auseinandersetzung mit der Chancengleichheit schon bei der Frage der individuellen Gerechtigkeit unüberwindbar scheinendeGrabenkämpfe induziert, dann könnte man vermuten,dassesbei der Frageder intergenerativen Gerechtigkeit eher noch diffuser aussieht. Geht die junge Generation inder Schweiz Österreich oder in Deutschland mit gleichen Chancen an denStart deswirtschaftlichen Lebens wie vorangegangene Generationen? Undworan wollen wir die«gerechte» intergenerativeVerteilung derChancen messen? Um es gleich vorwegzunehmen: Diese Fragen sind schlicht nichtzubeantworten, denn Verteilungsgerechtigkeit lässt sich auch hier nicht messen. Waswir jedoch messenkönnen,ist die Gleichbehandlung sowie der Abstand vom Zustand der Gleichbehandlung.Man kann unter Gerechtigkeit eine Gleichheit verstehen, für die die Wissenschaft einen Indikator anbieten kann: die Generationenbilanz

Dieses inzwischen weit verbreitete statistische Konzept berechnet die Nachhaltigkeitslücken einesfiskalischen Systems wie beispielsweise derAHV oder der obligatorischen Krankenversicherung in der Schweiz oder der Rentenund Krankenversicherung in Deutschland. Untereiner Nachhaltigkeitslückeversteht man die Differenz aus dem Barwert allerzukünftigen Einzah-

lungsströme abzüglichdes Barwertes aller Versorgungsansprüchealler heute lebendenund zukünftigen Generationen unter dem gesetzlichen Status quo der Gegenwart.Ist dieseDifferenznull, so gilt das fiskalische System alsnachhaltig undman kannmit heutigen Steuern und/oderBeiträgendas heutige Leistungsniveau auf Dauer halten. Klafft eine Lücke,soist die gegenwärtige Politiknicht nachhaltig.Das bedeutet,dass maninZukunftzwangsweise Veränderungenwirdvornehmen müssen, die zu Lasten gegenwärtig alter,junger oder zukünftiger Generationen gehen. Natürlich sind die bestehenden Lücken beträchtlich, weil in allen Systemen immer mehr alte Leistungsempfänger von immer weniger jungen Erwerbstätigen immerlängerfinanziert werden müssen. Egal ob in der Schweiz, Österreich oder Deutschland– überallbeziffern sich dieNachhaltigkeitslücken aufeineGrössenordnung von mindestenseiner jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP).Und genaudieswären die Rücklagen, diedie entsprechenden Systeme gebildet hätten, wärensie bilanzierungspflichtige ehrbareKaufleute.Ein Unternehmen muss nämlich für zukünftige Leistungsversprechen Rückstellungeninversicherungsmathematisch ausreichender Weise bilden. Unterbleibt eine solche Rückstellungsbildung,so droht es insolvent zu werden.Der Insolvenzgrund ist dabei ein Überschuldungstatbestand, denn fehlende Rückstellungen sind Schulden. Da aber die AHV wieauchdie RentenversicherungeninDeutschlandund Österreich bilanziellquasi «Milchbüechli»-Rechner sind, dokumentieren sie nurdie jährlichen Ein- undAuszahlungen und bringendiese im Umlageverfahren in Übereinstimmung.Zukünftige und absehbare Defizitespielen keineRolle und werden «vertuscht»

Nachhaltigkeit als Massstab Wassolltealso getanwerdenund wie siehtdie «gerechte» Verteilung der Lasten auf dieSchultern der jeweiligen Generationen aus? DasInstrumentarium zur Sicherung der Nachhaltigkeit ist im Falle der Altersvorsorgerelativ überschaubar.Man kann und müsste das Rentenzugangsalter, das Rentenniveau und/oder die Beitragshöhe modifizieren. Wasvon alldem istaber gerechtund sichert die Chancengleichheit zwischen den Generationen? Gerechtigkeit im Sinneeiner allgemeinen Gleichbehandlung kann es nichtgeben, dennbei gegebenem Zugangsalter kann mit dem derzeitigenAbgabenniveau das herrschende Rentenniveau nicht finanziert werden Und wie genau müssten gerechte Veränderungenbeispielsweisedes Rentenzugangsalters aussehen? Die Wählermehrheitwärebei einem Medianwähleralter von zirka 55 Jahren in jedem Fall dafür, hier keine Veränderung vorzunehmen. Tatsache istaber, dass die Rentenbezugszeit sich überdie letzten Generationen verdoppelt hat und man bei konstantem Rentenzugangsalter wenigeroder gleichbleibendviele Jahre gezahlt, aber immer mehr Jahredie Leistungen bezogen hat. Würdeman mithin unter einer gerechten Lösung dieGleichheit desVerhältnisses von Bezugs-und Einzahlzeit verstehen,dann müsste das Rentenzugangsalter in der Schweiz, Österreich und Deutschland bereitsheute bei etwa 68 Jahren liegen undwürde bis 2035 auf knapp 70 Jahre ansteigen.Das wäredie skandinavische Lösung des Lebenserwartungsfaktors, der die steigende Lebenserwartung relativgleichund damit gerechtauf die einzelnenGenerationen verteilt Zentraleuropa oder garSüdeuropa sind voneiner solchen («gerechten»)

Politisch gleicht die Herstellung einer Chancengleichheit zwischen den Generationen einem Himmelfahrtskommando mit einer statistischen Überlebenswahrscheinlichkeit vonnahezu null.

Gleichbehandlungweit entfernt.Aber selbst wenn mandiesen Weggegangen wäre,die Nachhaltigkeitslückewärealleindurch die Einführungdes Lebenserwartungsfaktors in den 1990er Jahren nicht zu schliessen gewesen. Es muss letztlich entschieden werden, ob mit steigenden Beiträgen die derzeitigen Rentenniveaus(Leistungsprimat) oder mit sinkendem Rentenniveau die derzeitigen Beiträge(Beitragsprimat) stabilisiert werden sollen. Es versteht sichvon selbst, dass die Altendas Leistungs- und die jungen Generationendas Beitragsprimat als gerecht ansehen würden –undinbeidenFällen hilft derGleichbehandlungsgrundsatz hinsichtlich der intergenerativen «Gerechtigkeit»nicht weiter, weil mannicht beidesgleich lassenkann.

Beitrags- oder Leistungsprimat?

Wenn also die intergenerativeGleichbehandlung wie im Falle des Rentenzugangsalters keine Lösungist,wie soll eine gerechte Verteilung der demografischen Lasten, die zweifelsfrei auf uns zukommen,aussehen? Beitrags- oder Leistungsprimat? Politökonomisch ist die Mehrheit zweifelsfrei fürdas Leistungsprimat bei steigenden Beitragslasten.Wenn aber die Beitragszahler der Zukunft mehr als die Hälfte ihrer Löhne für dieVersorgung der geburtenstarken Jahrgänge aufzubringen hätten, dann könnten diese auf die Idee kommen, dieAlten zu fragen,welcheTeileihres Lohnesdenndiese für diedamaligen Altengegeben haben. Sollte die ehrlicheAntwort dann bei etwa einem Drittelliegen, müssten siesich der Frage stellen, warumsie von ihrenKindern denn eine so viel höhere Abgabenlast erwarten.Natürlich liegtder Grund auch darin,dass die geburtenstarken Jahrgänge so viele sind –wofürdie Kinder allerdingsnichts können.

Dereigentliche Grund fürdie immensen Mehrbelastungen liegtjedoch

darin,dassdie Kinderder geburtenstarken Jahrgänge so wenige sind –und das haben die Babyboomer verschuldet. Sie sind es,die zu wenige Kinder auf die Welt gebracht haben, und sie sindesauch, die durch ihre schiere Zahl das Problemselbst sind. Versteht manunterdem unbestimmten Rechtsbegriff«Gerechtigkeit» denexakt zu bestimmenden Begriff«Verursachergerechtigkeit»,dann führtkein Wegam Beitragsprimatbei gleichzeitigersignifikanterAnhebung des Rentenzugangsaltersvorbei. Nur so ist es möglich, die Chancengleichheit zwischen den Generationen wirklich zu garantieren.

Eine unbequemeLösung

Alles andereführt zu einem Akzeptanzproblem der jungen undzukünftigen Generationen derAltersversorgung durchden Generationenvertrag,weil sonstder Verursacherdie Verantwortung für das,was er selbst verschuldet hat, nicht tragen muss. Stringent zu Ende gedacht, heisst das auch,dass zukünftige Leistungsanpassungen an die Zahl der Kinder gekoppelt werden sollten, denn in den geburtenstarken Jahrgängensind Familien mit mehreren Kindern eine Seltenheitbei zumeiststarker finanzieller Belastung.Auch klar ist, dass bei der Gesundheits- und der Pflegeversorgung, bei denen die implizitenSchulden ähnliche Grössenordnungenannehmen wie im Falle der Altersversorgung,analog vorgegangen werden sollte Politisch gleicht die Herstellung einer Chancengleichheitzwischen den Generationen allerdings einem Himmelfahrtskommando mit einerstatistischen Überlebenswahrscheinlichkeit von nahezu null.

Prof.Dr. BerndRaffelhüschen istProfessor fürFinanzwissenschaftsowie Direktor des Forschungszentrums Generationenverträge an derAlbert-Ludwigs-UniversitätFreiburg.

Baustelle:Das SchweizerRenten-und Generationenmodellist reformbedürftig undruft nachUmbau, nichtnachKosmetik ASTRA

Berufsbildungist zentral fürsoziale Mobilität

Ergänztein leistungsfähiges unddurchlässigesSystemder Berufsbildungden klassischenakademischenBildungsweg, führtdieszumehrAufstiegschancenund insgesamtmehrhöherer Bildungund verbessertenEinkommen.

STEFAN C. WOLTER

TertiäreBildungsabschlüsse ermöglichen nachweislich deutlich höhereEinkommen undgesellschaftlicher Status wirdinweiten Teilen vorallem an akademischen Bildungsabschlüssen undan Bildungsjahren gemessen.Damutet es wieein Paradoxon an,wennbehauptet wird,dass dieBerufsbildung soziale und ökonomische Mobilitätfördern könne Doch der Widerspruch ist nur scheinbar.Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchsliegtindreizentralen Punkten, die zusammengenommen erklären, weshalb die Berufsbildung einen entscheidenden Beitrag zur sozialen Mobilität leistet.

Verhindern von Bildungsabbrüchen

Auch wenn höhere Bildungsabschlüsse über die gesamte Erwerbsbiografie hinweg substanzielle Einkommenszuwächse generieren –inder Schweiz rund 40 Prozent proErwerbsjahr –, zeigt sich in vielen Ländern, dass ein beträchtlicher Teil der Jugendlichen den Weg zu höherer Bildung nicht erst an der Schwelle zurTertiärstufe verpasst,sondern bereits beim Versuch scheitert, überhaupt einen nachobligatorischen Abschluss zu erreichen. In diesenFällen nützendie hohenEinkommensprämien tertiärer Abschlüsse nichts,weilsie für die Betroffenen von Anfang an ausser Reichweite bleiben. Gerade deshalb ist ein starkes Berufsbildungssystems so wichtig.Esverhindert in vielen Fällen, dass Jugendliche den Anschluss verlieren, und sichert, dass möglichst viele einen Abschluss auf Sekundarstufe II erlangen. Zwarverfehlt die Schweiz ihr eigenes,ambitiöses Ziel, dass 95 Prozent aller 25-Jährigen einen entsprechendenAbschluss vorweisen können, knapp.Dennoch liegt sie im internationalen Vergleich weiterhin an der Spitze.Dass die Berufsbildung hierbei eine Schlüsselrolle spielt, zeigt sich auch im innerkantonalenVergleich: Je höherdie Beteiligungander Berufsbildung,desto höherist auch dieAbschlussquoteauf derSekundarstufe II insgesamt. Es gibt gute Gründe dafür,dass Berufsbildung nicht nurmit Bildungserfolg korreliert, sondern kausal dazu beiträgt. Unabhängig vom jeweiligen Bildungssystem gilt nämlich:AmEnde der obligatorischen Schulzeit ist ein grosser Teil der Jugendlichen schulmüde Systeme,die nur mehr Schule anbieten, verlieren in dieser Phase viele Lernende. DieMöglichkeit, schulisches Lernen mit praktischer Berufserfahrung zu kombinierenund frühindie Erwachsenenwelt einzutreten, wirkt dagegenstabilisierend. Siemotiviert Jugendliche, ihre Ausbildungweiterzuführen. Hinzukommt, dass sich in derBerufsbildungfür viele die Gelegenheitbietet, Talenteeinzusetzenund zu entwickeln, die imallgemeinbildendenUnterricht kaum oder gar nicht berücksichtigt werden.Jugendliche, die im traditionellenBildungskanon mittelmässiggebliebenodergar gescheitert wären,erleben im Lehrberuf nicht nur berufliche Erfolge, sondern auch einen wichtigen Bildungserfolg.Damit wirddie Wahrscheinlichkeit, dass sie ihreBildungsbiografiefortsetzen, deutlich erhöht

Tiefe Maturitätsquote, hohe Tertiärquote

Pluralität, Durchlässigkeit, Qualität und Selektion

Damit aber Berufsbildungtatsächlich soziale und ökonomischeMobilität ermöglicht,braucht es zusätzliche institutionelle Rahmenbedingungen. Zentral sind vier Elemente:

„ Erstens eine pluralistische Angebotsstruktur aufTertiärstufe, die nicht nur Universitäten, sondern auch Fachhochschulen unddie höhere Berufsbildungumfasst

„ Zweitenseine ausgeprägteDurchlässigkeit,die es erlaubt,Bildungswege auchnachder obligatorischen Schulzeit zu wechseln. Nursolassensich Sackgassen vermeiden,die zurAbwertung der Berufsbildung führen und bewirken würden, dass talentierte Jugendliche sich von Beginnangegen diesen Wegentscheiden.

„ Drittens eine konsequente Qualitäts-und Arbeitsmarktorientierung,welchesicherstellt, dassdie ökonomischen Erträge proBildungsjahr vergleichbar hoch sind –unabhängig davon, ob die Ausbildung an einer Universität, einer Fachhochschuleoder im Rahmen der höheren Berufsbildung erfolgt.

„ Viertens sind Selektionskriterienim Bildungssystemwichtig,die sich direkt an arbeitsmarktrelevanten Anforderungen orientieren. Bildungssysteme mit einem einheitlichen, allgemeinbildenden Modell tendieren dazu, Selektionsentscheidungenanschulischen Fächern festzumachen, die für den Arbeitsmarkt häufig nur eine geringe Bedeutung haben.

DieserMechanismus erklärt,weshalb die Schweiz, obwohlsie im internationalen Vergleich bei der gymnasialen Maturitätsquote zu den Schlusslichtern derOECD zählt, gleichzeitig bei der Tertiärquote überdurchschnittlich abschneidet.Auf den ersten Blick magdas widersprüchlich erscheinen, tatsächlich hängtbeideseng zusammen In vielen Ländern werdenJugendliche,die zwar die Maturität schaffen konnten, aber nicht über dasnotwendige Rüstzeug für ein Studium verfügen, durcheinen expliziten oder impliziten Numerus clausus vom Studium ferngehaltenoder wenden sich nach enttäuschenden Bildungserfahrungen selbst dagegen.Aufgrund fehlender Anschlussmöglichkeitenauf dertertiären Stufe und dem Fehlen eines qualitativ hochstehenden und funktionierenden Berufsbildungssystems,stehen dann vielevor demNichts.Inder Schweiz hingegen gelangen überdurchschnittlich viele Jugendliche, dieandernorts denBildungsweg abgebrochenhätten, doch noch zu einemhöheren Bildungsabschluss.Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Berufsbildung ihnen die Motivation und das Erfolgserlebnis vermittelt hat, welche für eine Weiterführung der Bildungskarriereentscheidendsind.

Die duale Berufsbildung hingegen bindetUnternehmennicht nur direkt in die Gestaltung der Bildungsinhalte ein, sondernauch in die Auswahl und Selektion derJugendlichen. Dadurch wird sichergestellt,dassdie erfolgreich ausgebildeten Lernendenden Anforderungen des Arbeitsmarktes entsprechen unddie Abschlüsse tatsächlich eine ökonomische Mobilität ermöglichen. Vornehmlich allgemeinbildende Systeme führenhingegen häufigzuMismatches auf dem Arbeitsmarkt, das heisst, zu Situationen, in denen Personen im Bildungssystem zwar höchst erfolgreichwaren, danachjedoch keineStelle finden,inder sieihreerworbenen Kompetenzen einsetzen können

Unternehmensnachfolge als Sprungbrett

Die ersten beiden Argumente zeigen, dass Berufsbildung im Gegensatz zur verbreitetenAnsicht nicht eine nachgeordneteRolle für Mobilität spielt, sondern im Gegenteil zentrale Voraussetzungen dafür schafft. Hinzu kommt jedochein drittes Argument: Ökonomische Mobilität ist auch ohne tertiäre Bildung möglich, und nicht jede höhereBildung führt automatisch zu höheren Einkommen. Ganz besonders gilt dies,wenn Berufsbildung den Wegineine erfolgreiche Selbständigkeit eröffnet. Dabei geht es nicht um Scheinselbständigkeit im Rahmen von Ein-Personen-Betrieben, sondernumdie Chance,Unternehmen aufzubauen, weiterzuentwickeln oder zu übernehmen. Die demografische Entwicklung verstärkt diese Möglichkeit: Durchdie Pensionierungswelleder Babyboomer-Generation suchenschätzungsweise jährlich rund15000 Unternehmen in der Schweiz eine Nachfolgelösung.Viele dieser Betriebe sind im handwerklichen oder dienstleistungsorientierten Bereichtätig,woakademischeQualifikationentraditionellwenig verbreitetsind. Damit eröffnen sich für jungeBerufsleuteaussergewöhnliche Chancen. Wer eine Lehreabsolviert und diese mit einem Abschluss der höheren Berufsbildung ergänzt,kann bereitsinjungem Alter in die Rolle als Eigentümerin oder Eigentümerhineinwachsen. Im Erfolgsfall sind die ökonomischen Erträge dieser beruflichen Selbständigkeit oft höher alsdie Einkommen durchschnittlicher Akademikerinnen und Akademiker.Esist daherdurchausmöglich, dass die Berufsbildung in naher Zukunftnicht weniger,sondern sogar mehr sozialeMobilität ermöglicht alsein klassischerakademischerWerdegang Die Beobachtung,dass die Schweiz sich im internationalen Vergleich durch eine besonders ausgeprägte ökonomischeMobilität auszeichnet, kann im Lichte dieser Überlegungen so interpretiert werden, dass dies nicht «trotz» der starkenVerbreitung der dualen Berufsbildungmöglichist,sondern gerade «wegen»der dualen Berufsbildung Diese erlaubt es nicht nur,unterschiedlichste Talente zur Entfaltungzubringen, dieinklassischen, starkauf Allgemeinbildung fokussierten Bildungssystemen weder gefördert noch berücksichtigt würden. Sie steigert zudem die Lernmotivation bei Jugendlichen, die zwar leistungsbereit und -fähig sind, jedoch stärker durch extrinsische als durch intrinsische Anreize angesprochen werden In einem pluralistischen und durchlässigen Bildungssystem wie es in der Schweiz existiert bedeutet die Wahl einer beruflichen Ausbildung daher in den meisten Fällen auchkeineAbwahl einer höheren und längeren Ausbildung,die für viele gut entlohnte Berufe und Karrieren unabdingbargeworden ist. Angesichts derbevorstehenden demografischen Herausforderungen sowieder technologischen Entwicklungen –Stichwort künstlicheIntelligenz –ist es schliesslich durchaus wahrscheinlich, dass die Bedeutung der Berufsbildung in Zukunft weiter zunehmen wird, um soziale Mobilitätnicht nur zu fördern,sondern vielerorts überhaupterstzuermöglichen.

Prof.Dr. Stefan C. Wolter istDirektorder SchweizerischenKoordinationsstelle und Leiter derForschungsstellefür Bildungsökonomie an derUniversität Bern

DerWestenist gerechter und wohlhabender, alsesscheint

DieMär,die Ungleichheit nehmeinden Industrieländern zu,ist einProdukt falscher Behauptungen. Gerade die Schwächstenhaben vonder Entwicklungbesonders profitiert. Es gilt dieBedingungen zu stärken, diedies erst möglichgemacht haben.

DANIEL WALDENSTRÖM

Es ist zu einem weit verbreiteten Narrativ in Redaktionen, Thinktanks und an Esstischen geworden: DieUngleichheit explodiere,die Mittelschicht verschwinde, undder Kapitalismus steureauf eine Oligarchie zu. DieseSichtweise hatsichnicht nur deshalb durchgesetzt, weilsie das Unbehagen unserer Zeit einfängt, sondernauch, weil sie mit sichtbaren Veränderungen in westlichen Gesellschaften einhergeht. In vielenStädtensinddie Wohnkosten den Löhnen davongelaufen. Milliardärsvermögen scheinen sich zunehmendvon der Alltagsökonomie abzukoppeln. Und dasVertrauen in Institutionenist geschwunden,nichtzuletztnacheiner Pandemie,die Schwächen in Gesundheitssystemen und sozialen Sicherungsnetzen offengelegt hat.

Doch diese verbreitete Erzählung beruht–bei alleremotionalen und politischen Schlagkraft –auf einer selektiven Lesart der Fakten. Zwar deuten einige Daten auf eine zunehmende Ungleichheit seit den 1980er Jahren hin, umfassendereMessungen zeichnen jedoch ein anderes Bild. Werden Steuern, staatliche Transfers,Rentenansprüche und Vermögenswerte berücksichtigt –ebenso wie die Tatsache,dass Individuen im Laufe ihres Lebens zwischen Einkommensgruppen auf- und absteigen –, erscheinen diewestlichen Volkswirtschaften deutlich ausgeglichener,als es häufig dargestelltwird.

Dies ist freilich kein Plädoyer für Selbstzufriedenheit. Dieökonomischen und politischen Risiken extremer Vermögenskonzentration sind real, und anhaltende Armut in hochentwickelten Gesellschaften bleibtinakzeptabel. Doch falsche Diagnosen führen zu schädlichen Therapien. Werglaubt,das bestehende System reproduzieredie Ungleichheiten des «GildedAge» Ende des19. Jahrhunderts in denUSA,greift womöglich zu Gegenmitteln, die mehr schaden als nützen:umfassende Vermögenssteuern,eineAusweitung staatlicher Eigentümerschaft oder Eingriffe in Märkte im Namen derFairness.Ein besseres Verständnis desökonomischen Wandels weist stattdessen auf einen fruchtbareren Weg–einen, der auf Wachstum durch Chancenexpansion, auf Vermögensaufbau inbreiten Bevölkerungsschichten undauf die Stärkung derSchwächsten setzt stattauf dieBeschränkung der Erfolgreichsten Pikettys blinde Flecken

Die weithin akzeptierte Erzählung moderner Ungleichheit entstand im Gefolge von Thomas Pikettys«Capital in the Twenty-FirstCentury». Dieses Werk argumentierte,die Ungleichheit habe sich nach einemRückzug in der Mitte des 20. Jahrhunderts mitden Liberalisierungender 1980er Jahreerneut verstärkt. Gestützt auf Grafiken, die den –insbesondere in den USA– steigenden Einkommensanteildes obersten Prozents zeigten, gewanndie Theoriean Schlagkraft. Doch dieseErzählung,die sich auf Einkommensdatenvor Steuern stützt, blendet zentrale Entwicklungen aus,die ihre Thesen relativieren. So wählte Piketty 1980 alsAusgangspunkt –ein Zeitpunkt, in dem die Ungleichheit aussergewöhnlichniedrig war,infolgehoher Steuern undstrenger

Regulierung,die Unternehmertum bremsten. Der Vergleich überzeichnet den jüngsten Anstieg.Imhistorischen Kontext liegen die heutigen Ungleichheitsniveaus deutlich unter jenen des frühen 20. Jahrhunderts,als Steuern minimal undVermögen in Händen kleiner Eliten konzentriert waren. Zudem hat sich die Einkommensverteilung in den vergangenen zwei Jahrzehnten abgeflacht. MehrereIndikatorender Einkommensungleichheit habensich stabilisiert, insbesondere nach Steuernund Transfers. Ein weiterer blinder Fleckist die Vernachlässigung öffentlicher Leistungen undvon Umverteilung.Ein erheblicher Teil der Staatsausgaben kommt heute direkt Haushalten mit niedrigen und mittleren Einkommen zugute –über Gesundheitsversorgung,Bildung und Altersvorsorge.Daten zur Einkommensverteilung vor Steuernund Transfers erfassen diese Effekte gar nicht. In Europa,wodie Umverteilung besonders ausgeprägtist, klafft daher eineerhebliche Lückezwischen Bruttoeinkommen undrealemLebensstandard. Aber auch in den USAtragen steuerfinanzierte Programme und arbeitgeberbasierte Leistungen wie Krankenversicherung wesentlichzur Umverteilungbei

Ausgeblendete Vermögen

Ebenso wichtigsind dieverbreiteten Missverständnisse um das Vermögen Viele Schlagzeilen ignorieren die grössten Kapitalbestände der Mittelklasse: selbstgenutztesWohneigentumund die Guthaben der obligatorischen kapitalgedeckten Altersvorsorge. Diese Auslassungen sind entscheidend. Bezieht man sie ein,verändertsich dasBild derVermögensverteilung erheblich. Daten aus westlichen Ländernzeigen,dassdas private Vermögen seit 1950 massiv gestiegen ist –und zwar nicht nurbei denReichen. Die Zusammensetzung der Vermögen hat sich von Unternehmensbeteiligungen undGrossgrundbesitzder Eliten hinzu weitverbreitetemEigentumanHäusern undPensionsfonds verschoben. Heute besitzen in den meisten Industrieländern 60 bis 70 Prozent der Haushalte ihreHauptwohnung.Millionen weiterehaben Ansprüche gegenüber Pensionsfonds oder sind über indexbasierte Vorsorgepläne am Aktienmarkt beteiligt. Dies markiert eine Demokratisierung des Kapitals –mit höherenRenditen beigeringeren Risiken, diefrüheren Generationen weitgehend verwehrtblieben. Finanzielle Vermögenswerte sind längstkeinexklusives Feld der Wohlhabendenmehr,und diese haben die Verteilung egalitärer gemacht,als gemeinhin realisiert wird. Auch der langfristige Trend der Vermögenskonzentration stützt dieseSicht In Europa hält das oberste Prozent heutenur etwa ein Drittel dessen, was es um 1900 besass.Seitden 1970erJahren istdieserAnteiltrotz boomenderKapitalmärkteweitgehend stabil geblieben. In den USAist das Bildzwar komplexer. Hier istdie Konzentrationseitden Nachkriegsjahren gestiegen –getrieben jedoch weniger voneiner Aushöhlung desMittelstands als vonden Vermögen erfolgreicher Unternehmer im Techund Finanzsektor. Dennoch liegen die Werte derVermögenskonzentration weit unter den Höhendes frühen

Die westlichen Gesellschaften sind nicht perfekt, aber reicher und gerechter,als oft behauptet wird.

20.Jahrhunderts, und die Mittelschicht hatsubstanzielle Zugewinne verzeichnet,absolut wie relativ.

Auf- und Abstieg über die Zeit Hinzu kommt dieFrage derMessung Statistikenerfassenmeist Momentaufnahmen.Inder Realität sindökonomische Positionen dynamisch: Viele, die heuteimunteren Dezilauftauchen, steigen in wenigen Jahren auf,während anderevom oberen Rand wieder abfallen –durch Marktbewegungen oder persönlicheRückschläge.Solche Lebenseffekte bedeuten, dassdauerhafte Ungleichheitoft überschätzt wird. Langfriststudien zeigen in der Regel eine höhereEinkommensmobilität als gemeinhinangenommenwird. Auch soziale Sicherungssysteme drücken dieUngleichheit. In Schweden halbiert sich diegemesseneVermögensungleichheitnahezu,wenn kapitalisierte

Rentenansprüche einbezogen werden. In den USAsind die Effekte geringer, aber dennoch beachtlich:Rechnet man Sozialversicherung,Medicareund arbeitgeberfinanzierte Gesundheitsleistungen als Einkommen, verbessert sich dieLage der Medianhaushalte erheblich. All dies steht der These entgegen, der Westen drifte in eine Plutokratie ab.Der Aufstieg ultrareicher Unternehmer wird oft als Beweis angeführt für eine ausser Kontrolle geratene Ungleichheit. Doch solche Vermögen spiegeln meist Wertschöpfung wider,nicht Rent-Seeking Diese UnternehmerbautenFirmen auf, derenProdukte undDienstleistungen Millionen freiwillig nachfragten. IhrErfolg schuf Arbeitsplätze,Produktivitätsgewinne und Steuereinnahmen. Der ökonomische Kuchen ist gewachsen –und viele haben daran Anteil

Umverteilung bedarfWohlstand

All das bedeutet keine Negierung der Risiken extremer Vermögenskonzentration.Wirtschaftliche Macht darf nicht politische Macht usurpieren. Parteispenden und Wahlkampffinanzierung brauchen Transparenz und Begrenzung Der Service Public soll universell bleiben, seineQualität nichtvom Privatvermögen abhängen. Doch die Antwort liegtnicht in der Begrenzung von Kapitalakkumulation, sondern in der Sicherung von Rechenschaftspflichtund intakter Aufstiegschancen.

Eine bessereReformagenda sollte Unternehmertum fördern, bürokratischeLasten für kleine Firmen senken und die Besteuerung von Arbeit so gestalten, dass sichLeistungund Sparen lohnen.Die Besteuerung desKapitals solltesich auf Einkommensströme richten, nicht auf Bestände.Und öffentliche Ausgaben gehören in dieGrundlagen des Aufstiegs investiert: gute Bildung, Infrastruktur und Rechtsstaatlichkeit, die Risikobereitschaft belohnt. Die westlichen Gesellschaften sind nicht perfekt, aber reicher und gerechter,als oft behauptet wird. Die grösste Errungenschaftdes modernen Kapitalismus ist nicht derAufstieg eines Jeff Bezos oder BernardArnault, es sind diealltäglichen Annehmlichkeiten von MillionenMenschen, derenGrosseltern noch ohne Stromoder Antibiotika lebten. DieserFortschrittist real –und er sollteuns leiten. Bevorwir den Untergang diagnostizieren, sollten wir die Evidenz richtig lesen– undjene Bedingungen erneuern, die diesen Fortschritt möglich gemachthaben

In derRealität sind steigende Realeinkommen und wachsendeVermögenswerte Voraussetzungen für einewohlhabendeGesellschaft –und für einen leistungsfähigen Staat. GrössereVolkswirtschaften generieren mehr Steuereinnahmen, die Sozialleistungen finanzieren. Wachstum und Umverteilung stehen nichtimWiderspruch,sondern verstärken sich gegenseitig.Politische Entscheidungsträger sollten deshalb der Versuchung widerstehen, Wohlstand als Nullsummenspiel zu begreifen. Ziel ist nicht die Bestrafung von Erfolg,sondern dessen Vervielfältigung –durch Systeme, die Fortschrittfür viele zugänglich machen: Barrieren zum Wohneigentum beseitigen, denZugangzum Vorsorgesparen verbessern und Märkteoffen und wettbewerbsfähig halten. Die jüngsten in internationalen Institutionen undunter Politikern diskutierten Forderungen nach jährlichen Vermögenssteuern, wie sie dieSchweiz kennt, zeigen die Risiken falscher Diagnosen. Solche Steuern treffen häufig illiquideVermögenswerte wieFamilienbetriebeoderLandwirtschaft, zwingen Eigentümer zum Verkauf oder zur Verschuldung.Weltweit legen die Erfahrungen nahe: Vermögenssteuern bringen geringe Erträge,verursachen hohen Verwaltungsaufwand undtreiben Kapital ins Ausland. Wirkungsvollerist es,Kapitalerträge –Dividenden, Kursgewinne und Unternehmensgewinne –zu besteuern undnicht den Vermögensstockselbst. EinfalschesVerständnisvon Ungleichheitbirgt auch breitereGefahren. Es lenktabvon drängenden Problemen wie stagnierender Produktivität, demografischerÜberalterung oder dem Klimawandel. Diese Herausforderungen erfordern Investitionen und Innovation –beide sind angewiesen auf Kapitalbildung.ÜbertreibungenimNamender Fairness können gerade jene Dynamik zerstören, dieFairnesserstermöglicht Zudem droht Entfremdung.Wenn Menschen, obwohlihr eigener Lebensstandardsteigt, ständig hören, nurdie Reichenprofitierten, verlierensie womöglich VertraueninInstitutionen und werden anfällig für populistische Heilsversprechen. Der Gesellschaftsvertrag erodiert nicht nur durch tatsächliche, sondernauch durchgefühlte Ungerechtigkeit, besonders wenn diese der gelebtenErfahrungwiderspricht.

Achtung Gefahrenstelle:Dieses Verkehrsschild steht als Warnungvor Fehlinterpretationenund übertriebenen Narrativen. ASTRA

«Der jungen GenerationeinegutePerspektive

FürThomasJordans Werdegangwaren zwei Chancenbesonders prägend: zumeinen derZugangzueiner hochwertigen Ausbildung–von derPrimarschule biszur Universität; zumanderen faireAuswahlverfahrenimBerufsleben

Herr Jordan, wie fühlt sichIhr neues

Lebennachdem SNB-Präsidium an?

Ich freue mich über dieMöglichkeit, neue Aufgaben zu übernehmen. Neben derGeldpolitik galt mein Interesse stets auch einzelnen Unternehmen und deren Herausforderungen, sich im internationalenWettbewerbzubehaupten. Angesichtsder aktuellengeopolitischen und weltwirtschaftlichen Entwicklungen ist dies für viele Firmen heute besonders anspruchsvoll. In diesem Kontext kann ichmeine Erfahrungen einbringen

Machen Sie sich Sorgen?

«Die Fähigkeit, Begeisterung für eine Tätigkeit zu entwickeln, halte ich für besonders wichtig.»

Thomas Jordan, ehemaliger SNB-Präsident

DieSchweizer Wirtschaftist insgesamt robust. Doch wirmüssen aufpassen, dass die Rahmenbedingungen gutbleiben Nursokönnenwir unseren Wohlstand sichern undder jungen Generationeine gute Perspektive bieten.

Derfrühere deutsche Aussenminister Joschka Fischer sagte einmal: «Das Amt verändert den Menschen schneller alsder Menschdas Amt.» Hat er recht?

DieNationalbank hateinendurch Verfassung und Gesetz klar definierten Auftrag.Auch derPräsident darfdiesen wedereigenmächtig anpassennochbeliebig interpretieren. Seine Verantwortung besteht vielmehr darin, sicherzustellen,dass es dem Direktorium gelingt, den Auftrag zu erfüllen unddarüber überzeugend Rechenschaft abzulegen In dieser Hinsichtprägt das Amteinen Menschenstark. VordieserVerantwortung kannman nicht davonlaufen –und in kritischen Situationen kann es auch einsamwerden. Wichtigist,dieszu akzeptieren und dabei authentisch zu bleiben.

Und (wie) haben Sie umgekehrtdie SNB verändert? Ich hattedas Glück,übervieleJahrein verschiedenen leitendenFunktionen bei der SNB tätig zu sein. Dasermöglichtemir,wesentlichen Einflussauf die Institution zu nehmen. Die Nationalbank konntesichstetig weiterentwickeln, um ihr Mandat auch in einem sich verändernden Umfeld zu erfüllen.Indiesem

Sinne wird eine Institution immerauch von den Personen geprägt,die Verantwortungtragen.

Wenn maninder Schweizeine Umfrage durchführen würde,dann verkörperten Sie den Chef der SNB mitklassischen Schweizer Attributenwie Stabilität und Solidität wohl in idealer Weise. Wardas immer Ihr Wunsch–oder hatten Sie auchZweifel? Zweifel hatteich nie.Geldpolitik und die Nationalbank haben mich schon im Gymnasium fasziniert. Daswar ein entscheidender Grund, später Volkswirtschaftslehrezustudieren und mich auf monetäreThemen zu spezialisieren. Schon früh war esmeinWunsch, eine verantwortungsvolleRollebei der SNB zu übernehmen. Gleichzeitig war mir bewusst, dass die Möglichkeiten dortbegrenztsindund die Chancen, ins Direktorium zu gelangen oder gar Präsidentzuwerden, äusserstklein sind.

Hatten SieeinenPlanB?

Hätteesnicht geklappt, wäreich offen für viele andereWege gewesen –ob in der Wissenschaft oder in der Wirtschaft. MeineInteressensind breit,und ichkann michfür vielesbegeistern: von ökonomischer Theorie über Produkte und Produktion bis hin zu Abläufen von Unternehmen. DieFähigkeit, Begeisterungfür eine Tätigkeitzuentwickeln, halte ichfür besonderswichtig Wenn Sie auf Ihren eigenenWerdegang zurückblicken: Welche Chancen waren fürIhre Karriereentscheidend? FürmeinenWerdegang warenzwei Chancenbesonders prägend: zum einen der Zugang zu einer hochwertigen Ausbildung –von der Primarschule bis zur Universität; zum anderen faire Auswahlverfahren im Berufsleben.Diese Gegebenheiten haben michstets motiviert, auch in anspruchsvollenPhasen.

Sie kennen verschiedene berufliche Welten: Universität, Politik, Verwaltung, Unternehmen. Ist die Schweiz Ihrer Erfahrung nach ein Chancenland –

Vortritt vordem Gegenverkehr: Nichtdas Ego, sondern das System kommtzuerst –e

gerade im Vergleichzuden USA oder Deutschland?

Die Schweizist eindeutig ein Chancenland. Werhier aufwächst und lebt hat wesentlich grössereMöglichkeiten, beruflich voranzukommen,als in vielen anderenLändernder Welt. Wasmacht diese Chancenvielfalt denn konkretaus? Einerseits bietet dieSchweiz hochwertige Ausbildungen in zahlreichen Berufen und Studienrichtungen. An-

dererseits gibt es hierzulande viele hervorragende Unternehmen in unterschiedlichsten Branchen. So können Menschen mit nahezu allen Neigungen und Interessen passende berufliche Wege finden. Diese Wahlfreiheit in Bezugauf Beruf undArbeitgeber ist für die Zufriedenheit und dasGlück der Menschen vonzentraler Bedeutung.DamitdieseChancen tatsächlich wirksam sind, brauchteseinenmöglichst diskriminierungsfreien Zugang zu Ausbildung und Beruf. Nicht zu-

«NZZ

Quantensprung» –Forschung,die

Mit«NZZQuantensprung»eröffnenwir Ihnen eine Themenwelt, die den Blick aufdie grossen Fragen vonWissenschaft undTechnologie richtet. Jede Wochepräsentiert unsere Wissenschaftsredaktion eine Zukunftsvision unddiskutiertihremöglichen Auswirkungen aufdie Welt –immer freitags als Podcasthören undimNewsletterlesen.

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letzt spielt hier das duale und durchlässigeBildungssystem eine entscheidendeRolle

Und wasbraucht es,Ihrer Meinung nachdamit die Schweiz ein Chancenlandbleibt?

Die Schweiz wirdnur dann ein Chancenland bleiben, wenn es gelingt, sowohl die Qualität der Ausbildung als auch eine breiteBasis wettbewerbsfähiger Unternehmen in allen Branchen zu sichern. Denn nur so lässt sich eine Vielfalt an

Ausbildungs-und Karrieremöglichkeiten erhalten.Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen haben dahereinen direkten undstarken Einfluss auf dieberuflichenChancender Menschen

In IhrerFunktion als Präsident der Schweizerischen Nationalbank haben Sielangfristige geldpolitische Weichenstellungen verantwortet. Da braucht es viel Fachwissen und eine Umgebung von talentierten Experten. Istdiesbezüglich die Frage nachdem Bildungssystem und den gesellschaftlichen Aufstiegschancen einThema?

Die Nationalbankunterscheidetsichin dieser Hinsicht nicht grundlegendvon anderen Expertenorganisationen. Sie ist darauf angewiesen,auf einen ausreichendgrossen Pool an Talenten fürihre vielfältigen Aufgabenbereiche zurückgreifen zu können –und hier spielt das Bildungssystem eine zentrale Rolle Dank ihrer hohen Attraktivität als Institution undArbeitgeberwar es der Nationalbankstets möglich,sehrqualifizierteund hoch motivierteMitarbeitende zu gewinnen.Weildie SNBin vielen Bereichen hoch spezialisiert ist undvieles nichtanHochschulen gelehrt wird, braucht es zudemein durchdachtes Konzeptzur internenWissensvermittlung

Wiegelingt es,diese Talente langfristig zu binden? Als Expertenorganisation ist die Nationalbank hierarchisch eher flach strukturiert. Deshalb ist es wichtig,sogenannte Fachkarrieren ohne Führungsverantwortung anzubieten.Das kommt insbesonderevielenWissenschafterinnenund Wissenschaftern entgegenund eröffnet attraktive Entwicklungsmöglichkeiten. Entscheidend ist schliesslich, dass dasVorankommen nach Leistung und Fähigkeiten erfolgt –unabhängig von gesellschaftlicher Herkunft oder anderen nicht relevanten Kriterien. Dies hält dieMotivation hoch undfördert einevielfältigeZusammensetzung derBelegschaft.

Sie waren nie nurZentralbanker,sondern sind immer auchakademisch aktiv geblieben.WelcheChancen ergebensich aus diesemDoppelblick?

Der Doppelblick ist für die Schweiz vongrosserBedeutung,weilwir in allen Bereichen auf praxisrelevante Innovationenangewiesen sind. Forschungsergebnisse werdeninder Praxis schneller umgesetzt, wenn Unternehmen über Mitarbeitende mit engemBezug zu Hochschulen verfügen. Umgekehrt profitiert dieForschung von Personen, dieein gutes Verständnis der tatsächlichen Gegebenheiten und derzentralen Fragestellungen der Praxis mitbringen. Entscheidendist daher einkontinuierlicher und zielführender Austausch zwischenTheorieund Praxis

Wiesteht es aktuell um diesen Austausch?

Er kann in derSchweiz nochvertieft werden,und bestehende Hürden sollten weiter abgebaut werden. Die SNB hat den Dialog mit der Wissenschaft stetseng gepflegt:Immer wieder verbringen Professorinnen undProfessorenZeit beider Nationalbank, und eine beachtliche Zahl unsererMitarbeitenden ist auch an Universitäten tätig.Zudem beschäftigt die SNB viele Praktikantinnenund Praktikanten,die so die geldpolitische Praxis kennenlernenund ihreErfahrungen anschliessend in die akademische Forschung einbringen.

DurchIhre Nähe zur Akademie standen Sie immer wieder im Dialog mitden Universitäten.Inwiefern prägen Hochschulendie Fähigkeit einerVolkswirtschaft, Talente zu fördern und sie produktiv einzubinden?

Hochschulen bilden einen wichtigen Teil der Erwerbstätigen in der Schweiz aus.Der Anteil von Absolventinnen und Absolventen in den BelegschaftenvielerUnternehmenist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Fürzahlreiche Arbeitsbereiche ist ein Hochschulstudium heute Voraussetzung.Hochwertige und zudempraxis-

relevante Studiengänge haben daher einen grossen Einfluss darauf,obes gelingt, dievon derWirtschaft benötigten Talente zu identifizieren und auszubilden.

Dann gilt es,den bildungspolitischen Fokusauf dieHochschulen zu legen? Nicht nur, ebenso wichtig ist dieDurchlässigkeit im Bildungssystem, damit Talente,die zunächsteinepraktische Ausbildung absolviert haben, nicht verloren gehen. Inwiefern dies bereits optimal gelingt, ist schwer zu beurteilen –weitereAnstrengungen sind jedoch sinnvoll.Ein enger Praxisbezug während des Studiumserleichtert zudem denschnellen und produktiven Einsatz von Absolventinnen und Absolventen. Ergänzend können gezielte Einsteigerprogramme nach dem Studium dieerfolgreiche Integration in Unternehmen zusätzlich fördern.

MitBlick auf dieglobale Entwicklung: Wo sehen Sieinden kommenden Jahren diegrössten Chancenund Gefahren für das SchweizerBildungssystemund die SchweizerWirtschaft? Die Ausgangslageinder Schweiz ist sowohl im Bildungssystemals auch in der Wirtschaft ausgesprochen gut. Zentral ist, dass in derWissenschaftder Wettbewerb derIdeen ohne Denkverbote erhalten bleibt. Wissenist nieendgültig –vermeintlich gesicherte Erkenntnisse werden oftspäterwieder relativiert. Für dieRegulierung der Wirtschaft sollte zudemder gesundeMenschenverstand wegweisend sein. Die grössten Chancen, aber auch diegrössten Gefahrenliegen darin,diese gute Ausgangslage zu erhalten unddie Rahmenbedingungen ohne ideologische Scheuklappen weiter zu stärken

Und wassinddie Voraussetzungen, damit dies gelingt? Fürdie Leistungsfähigkeit von Bildungssystem undWirtschaft ist derErhaltdes dualen Bildungssystems entscheidend. Eine unnötige Akademisierung der Berufswelt gilt es zu vermeiden,praxis-

relevanteAusbildungenmüssen ausreichendgefördert werden.Gleichzeitig ist die hohe Qualität der Hochschulen zu sichern.Die Schweizer Wirtschaft profitiert seit langemvon einem produktiven Mix aus Mitarbeitenden mitakademischen undpraktischen Qualifikationen. Ebenso wichtig ist die Motivation der jungen Menschen, sich in derWirtschaft zu engagieren.Die Aussicht, mit Talent und Einsatz beruflich erfolgreich sein zu können,ist dafürein entscheidender Antrieb

Zu guter Letzt: Wenn Sie heutenoch einmal am Anfang Ihrer Laufbahn stünden, würden Sie denselben Weg einschlagen? Ich würdeauf jeden Fall denselben Weg einschlagen –und binsehrdankbar für die Chancen,die mir dieSchweiz und dieNationalbank eröffnet haben.

Interview: Melanie Häner-Müller und Christoph A. Schaltegger

ZurPerson

Mitdem Rücktrittvon Prof.Dr. Dr.h.c Thomas Jordan (62) als Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB) im vergangenenJahr ging eine ÄrazuEnde Derander Universität Bernhabilitierte Ökonom stand seit 1997 im Dienst der SNB.Bei derWährungsbehörde durchlief der 1963 geborene Bieler alle drei Departemente,ehe er 2012 vomBundesrat zum Präsidentendes Direktoriums gewählt wurde.Inseine Amtszeit als SNB-Chef fielenunter anderemdie Aufhebung des Euro-Mindestkurses im Januar 2015 die Mitarbeit derSNB bei denimApril 2020 aufgegleisten Covid-19-Krediten, derKampf gegendie Inflation im Nachgang zurPandemieund zuletztdie Notübernahme derCreditSuissedurch die UBS im März 2023.SeitApril 2025 ister Mitglied der Verwaltungsräte derZurich Insurance Group und derZürich Versicherungsgesellschaft.

GeschäftlicheZieleerreichen. PrivateTräumeverwirklichen.

Ob Gründung,Wachstum, Konsolidierung oder beider Unternehmensnachfolge–injeder Phasegiltes, privateund geschäftlicheFinanzenin Einklang zu bringen. Wirberaten Sieumfassend: lukb.ch/e-e

–etwas Demut schadet nicht. ASTRA

Wo Deutschlands sozialeMobilität wirklich stockt

Zu viel Verwirrung um dieAufstiegschancen: DieVerteilungoderUmverteilungvon Einkommenund Vermögen hängtauchvon der Kindheit undvom Arbeitsmarkt ab.Der Interventionismusreflexder Politikgreiftoft zu schnell–ganzbesonders in Deutschland.

LARSP.FELD

In der Politik geht es hauptsächlich um Verteilungsfragen. Bei allen Themen derWirtschafts- undFinanzpolitik stehen Verteilungsaspekte im Vordergrund. Selbst in derVerteidigungs- und Sicherheitspolitik dominiertdie simple Arithmetikvon Gewinnernund Verlierern, lange bevor ein irgendwie gearteter Ernstfall eintritt. «Was denn sonst?», werden manche fragen. In derTat liegt es der Politik häufig fern,effektive oder –besser noch –effiziente Lösungenfür Fehlentwicklungen zu suchen und die Verteilungsaspekte einer solchen Politik zu vernachlässigen. FrediMeier,Altrektor der Universität St.Gallen, stellte vor gut 25 Jahren in seinem Vortrag am Dies academicus der HSG fest, dass Ökonomen alswirtschaftspolitischeBerater mit ihremInsistierenauf Effizienz undEffektivität im falschenSpiel sind, so alsobjemandbeimJassen «Schach» rufen würde

Weit verbreitete falsche Vorstellungen

Schlimmernochals die Dominanz von Verteilungsaspekten ist die Dominanz von Narrativen in den Verteilungsdebatten, die nicht durch empirische Evidenz gedeckt sind. So hält sich die Vorstellung,dass dieSchereimmer weiter auseinandergeht, dieReichen immer reicher und die Armen immerärmer werden, trotz gegenteiliger Evidenz. Dies führt dazu, dass die Befragten in repräsentativen Umfragen mit der Einschätzung ihrereigenen wirtschaftlichen Situation die allgemeine Einkommensverteilung ganz gut abbilden,aber von einer wesentlich stärkeren Ungleichheit ausgehen, wennsie dieEinkommenssituation anderer stattihrereigeneneinschätzen sollen.

Wasist die Evidenz? Sie krankt schon an der Verfügbarkeit dererforderlichen Daten. In den vergangenen beiden Dekaden hat sich die Datenlage zwar erheblich verbessert. In einerReihe von OECD-Ländern kann die Forschungauf Registerdaten, in anderen auf Steuerdaten zurückgreifen. Aber allzuhäufig müssen sich Verteilungsanalysenmit Befragungsdaten zufriedengeben. Dies ist deshalb problematisch, weilBefragungen möglichenVerzerrungenunterliegen. So ist davon auszugehen, dass Befragte zu wenig über ihrVermögen Bescheid wissen, nicht zuletzt,weil sich ihnen der Wert ihres Immobilienvermögens nicht wirklich erschliesst. Selbst gestandene Familienunternehmer kennen oft nicht aufAnhiebden Wert ihres Betriebsvermögens In Deutschland nutzt einGrossteil der Verteilungsanalysendie Befragungsdaten des sozioökonomischen Panels (SOEP). AlternativkönnenDaten des Mikrozensus ausgewertet werden, die ebenfalls aufBefragungenberuhen. Amtliche Registerdaten existierenjedochnicht. Fürintertemporale Untersuchungen stehenzwar noch Daten der gesetzlichen Rentenversicherung zur Verfügung,die aberden Nachteil haben, dassdiejenigen, dienicht gesetzlich rentenversichert sind, nicht erfasst sind. Zudem finden sichjüngereAlterskohorten, die nochnicht im Ruhestand sind, ebenfalls nichtdarin Vordiesem Hintergrund bestätigt der jüngste Armuts- undReichtumsbericht der deutschen Bundesregierung eine Tendenz, die seit dem Jahr 2005 besteht: Die Verteilung der Einkommen nach Steuern und Transfers,also derverfügbaren Haushaltsäquivalenzeinkommen (gewichtet auf dieMitgliederdes Haushalts verteilt), ist unter gewissen Schwankungen,aber imTrend nicht mehr angestiegen.Dabei zeigt

Staatliche Altersvorsorgesysteme reduzieren Vermögensungleichheit.

sich ebenfalls im Trend einAnstieg der Einkommen füralle Einkommensdezile über diesen Zeitraum,für das unterste Einkommensdezil, also für die Personen mitden geringsten Einkommen, jedoch erstinjüngererZeit, etwa seitMitte der 2010er Jahre. Vordem Jahr 2005 gab es einen Anstieg in derEinkommensungleichheit, zumindestseit derWiedervereinigung, aberschon seit den 1980er Jahren in der alten Bundesrepublik. Hinter denstatistischen Definitionen versteckt sich so manches.Die verfügbarenEinkommennachSteuern und Transfers unterscheidensichvon den Markteinkommen, welche dieprimäre Einkommensverteilung bestimmen.Letztereunterliegt grösseren Schwankungen undist deutlich ungleicherverteilt. Anders gewendet, verteilt derdeutsche Staat mit seinen Steuern und Transfers effektivsehr viel um.Zudem bedeutet die Gewichtung,die zur Berücksichtigung der Haushaltsgrösse verwendet wird, dass Veränderungender Haushaltsgrösse im Zeitverlauf verteilungswirksam sein können.InsbesondereeineZunahme derEinpersonenhaushalte dürfte zu mehr Einkommensungleichheit geführt haben. Neben gesellschaftlichen Gründen spielen vorallem die allgemeine Wirtschaftsentwicklung und insbesondereder Arbeitsmarkt eine Rolle für die Einkom-

mögensteuer wiederzubeleben oderdie Erbschaft- undSchenkungsteuer zu verschärfen, indemVerschonungsregeln für Betriebs-und Immobilienvermögenbeseitigt werden.Vernachlässigt wird in den zumeist vorgelegten Daten zur Vermögensungleichheit,wie hochdie Bedeutung staatlicher Altersvorsorgesysteme ist. Wronski hat im Jahr 2024 in einer Studiegezeigt, dass die Berücksichtigung derAnsprüche an diestaatliche Altersversorgung die Vermögensungleichheit in der EU deutlich reduziert. Deutschland liegt im internationalen Vergleich dann nurnochimMittelfeld. Umverteilungsbefürworterziehen aus derGesamtschaudieser Befunde den Schluss,dass Vermögen,Einkommen und Bildungsstand des Elternhauses massgeblich Bildung,Einkommen und Vermögen der Kinder bestimmen, so die Einkommens- und Vermögensverteilung zementieren und die Aufstiegschancen in einerGesellschaftbehindern.Dies müsse durch geeignete Umverteilungsinstrumente desSteuer-und Transfersystems korrigiert werden. Dabei hat Deutschland gemäss einer aktuellen Studie des Ifo-Instituts bereits 502 verschiedene Sozialleistungen, die auf Bundesebene geregelt sind.Die Sozialleistungsquote –inProzent desBruttoinlandsprodukts (BIP) –ist seit dem Jahr 2007 um fast 5Prozentpunkte und seit dem Jahr 2011 um 3Prozentpunkte gestiegen. Beides sind keine Krisenjahre, was den Befund verzerrenwürde Vielmehr zeigt dies,dass Sozialleistungen in einer Zeit rückläufiger Arbeitslosigkeit und zumindestbis 2019 noch ordentlicher Wachstumsraten desBIP stärkerausgeweitet wurden als die jährliche Wirtschaftsleistung.Effektiv mag Deutschland viel Einkommen umverteilen, doch von Effizienz ist dieses System weit entfernt.

Funktionierender Arbeitsmarkt entscheidend

Die vorgestellten Verteilungsbefunde lassensichjedochandersinterpretieren Erstens spielt dieLageamArbeitsmarkt eine Rolle. Dass DeutschlandimUnterschied zu Österreich und der Schweiz eine abnehmendesoziale Mobilität vorweist, deutet aufdie Phasen hoherLangzeit- undstrukturellerArbeitslosigkeitin den 1980er und 1990er Jahren hin. Es sind dieunterbrochenen Erwerbsbiografien, dieproblematisch sind.Das in allen drei Ländern so hoch gelobte duale Ausbildungssystem konnte dies in Deutschland nicht verhindern. Es kommt auf den Umgangmit demStrukturwandel an.Zweitens kommt derschulischen Bildung eine hohe Bedeutung zu. Dabei ist es wenig bedeutsam, eine hohe Abiturientenquote zu erzielen.Wenn immer mehr Menschen Abitur haben, steigtzwingend dieWahrscheinlichkeit, dass die Kinder mit Abitur auch Eltern mit Abitur haben. Es kommt vielmehr aufdie Lerninhaltean, dievon Schülerinnen und Schülernbeherrscht werden, unddarauf, dass mit einer gezielten frühkindlichen Bildung die Quote derSchulabbrecher reduziertwird. Dass die Schweiz eine geringereUngleichheitder Markteinkommen, also vor Steuern und Transfers,aufweist, zeigt, dass sie in beiden Dimensionen besser performt. Steuern und Transfers setzeninaller Regelnegative Anreize, zu arbeiten, zu investieren, Risikenzu übernehmenund Innovationen zu tätigen. Dies schwächtdie Fähigkeiteiner Volkswirtschaft, sozialeMobilität über einen gut funktionierenden Arbeitsmarkt zu steigern Informationstafelandeutschen

mensverteilung.Der Anstieg der Einkommensungleichheit seit den1980er Jahren geht einher miteiner deutlichen Erhöhung der Arbeitslosigkeit.Vorallem die strukturelleArbeitslosigkeit stiegbis zum Jahr 2005 an. DieReformen der RegierungSchröderlösteneinenRückgang der Arbeitslosigkeit aus,der den ansteigenden Trend der Einkommensungleichheit zumStillstand brachte. Bildung korreliert zwischen Kindern und Eltern

Die Bedeutung derallgemeinen Arbeitsmarktentwicklungzeigtsich in einerStudie von MaximilianStockhausen aus dem Jahr 2021, der sich mitden Aufstiegschancen von Beschäftigten im Zeitablauf auseinandersetzt.Rund zweiDrittel der Söhne,die zwischen 1955 und 1975 geboren wurden, erzielten signifikant höhere reale Arbeitseinkommen als ihre Väter.Aber schon für Alterskohorten vonwestdeutschenMännern, die in den frühen 1960er Jahren geboren wurden, lässt sich eine zunehmende Ungleichheit im Lebenszyklus feststellen, die Timm Bönkeund Koautoren in einer Studieaus dem Jahr 2015 mit Daten der gesetzlichen Rentenversicherung zu 20 bis 40 Prozent auf die durch Langzeitarbeitslosigkeit unterbrochenen Erwerbsbiografienzurückführen.

Verschiedene Studie deuten auf weitereGründe für eine abnehmende soziale Mobilität im Zeitablauf hin. In einer Studie von2024, allerdings mit Datendes Mikrozensus,weisenBönke undKoautorenauf die abnehmende Mobilitätinden Lebensstandards hin. DerAnteil von Kindern, die mehr Einkommenals ihreEltern erzielten, sank für Alterskohorten, dieinden Jahren 1962 bis 1988 geboren wurden, von 81 auf 59 Prozent. Die Autoren führen diesauf ein im Zeitablauf schwächeres Wirtschaftswachstumund einehöhere Einkommensungleichheit zurück. Andreas Peichl und Koautoren bestätigendiese Befundemit denBefragungsdatendes SOEP in einerneuen Studie von 2025 für Alterskohortender Jahre 1968 bis 1987,führen dies aber hauptsächlichauf die zunehmende Bedeutung deselterlichen Einkommens fürdie Bildungsabschlüsse derKinderzurück. Solche Ergebnisse korrespondierenmit dem zunehmenden Einfluss der elterlichenBildungsabschlüsse aufdiejenigen der Kinder,der in einer Reihe von Studien gut belegt ist. Aktuell steht dieVermögensverteilung im Vordergrund derdeutschen Debatte. Deutschlandhat im internationalen Vergleich eine relativ hohe Vermögensungleichheit. Daraus leiten manche in der politischen Diskussion ab,die Ver-

Prof.Dr. Dr.h.c.LarsP.Feldist Professorfür Wirtschaftspolitik undOrdnungsökonomikan derAlbert-Ludwigs-UniversitätFreiburgsowie Direktor desWalterEuckenInstituts (WEI).

Grenzübergangsstellen: Im Unterschied zu Österreichund derSchweiz nimmt in Deutschland diesoziale Mobilität ab WIKIPEDIA

Der«American Dream» ist in Österreich zu Hause

Österreich gehört zusammen mitder Schweizinternational zu denLändern mit dergrösstensozialenMobilität, währendinDeutschlandEinkommen und Status derElterneinen grösserenEinflussauf dieChancen derKinderhaben. Eine Suchenachden Gründen.

diesen Wegentscheidet.Der Übergang von der Schule in einen Betriebist institutionalisiert,Abschlüsse sindstandardisiert, und Weiterbildung eröffnet weitere Stufen. International gibt es zwar auch eine Berufsbildung,doch die duale Verzahnung von Betrieb und Berufsschule wie in Österreich ist seltener.Die Palette reicht von Industrie-und Technikberufen biszukaufmännischen undGesundheitsberufenund bietetklareKarrierepfade mit oftsehr ordentlichen Löhnen sowie realen Aufstiegschancen (Teamleitung,Spezialist,Selbständigkeit).

Österreich ist ein Land mit grossem Staat, kräftigerUmverteilungund dichtem Wohlfahrtsnetz; die Einkommensungleichheit ist international relativ niedrig.Dennoch taucht in gesellschaftspolitischen Debatten regelmässig die These auf,esherrsche keine ausreichende Chancengleichheit. Oft wird dabei auf fehlende Aufstiegschancen für Kinder aus einkommensschwachen Haushalten verwiesen. Doch was sagt die Empirie tatsächlich– undwas genau messen wir, wennwir über «Chancen» sprechen?

Die Debatte kreist um eine einfache Gerechtigkeitsidee: Eine Gesellschaft gilt als fair, wenndie Herkunftnicht über Chancen entscheidet. «Bildung undEinkommen werden vererbt», so lauteteine nichtnur in Österreichverbreitete Annahme.Die jüngste Evidenz zeichnet jedoch ein differenzierteres Bild.Erstens: Bildungs- undEinkommensmobilität sind nicht dasselbe.Sie können auseinanderfallen –und in Österreich tunsie es.Während der Bildungsaufstieg stark an die Herkunftgebunden bleibt, istder Einkommensaufstieg im internationalen Vergleich aussergewöhnlich hoch. Zweitens: Im unmittelbaren Vergleichim DACH-Raum stehen Spitzenreiter und Schlusslicht nebeneinander: Österreich und die Schweiz zeigenbei denEinkommen eine ungewöhnlich hohe Durchlässigkeit, Deutschland einen ungewöhnlich starken Herkunftseinfluss.Wie kann das in drei so ähnlichen Ländernsein–handeltessich um Messfehler oder gibt esechte Unterschiede?Die Antwort beginnt bei der Frage,was wirüberhaupt messen.

So messen Ökonomen Mobilität Unter intergenerationaler Mobilität verstehen Ökonomen denGrad, in dem sich der Status der Elternauf den der Kinder überträgt; das lässt sich über Bildung oder Einkommenerfassen. Bildungswege sind leicht zu erheben und über die Lebenszeit stabil –hierist die Evidenzlage gut etabliert. DieMessung der Einkommensmobilität ist anspruchsvoller: Sie erfordert verknüpfte ElternKind-Daten mit möglichstvollständiger Abdeckung,insbesondere der Spitzeneinkommen. Konkret müssen dieEinkommen von Eltern und Kindern im selben Lebensalter erhoben werden –idealumdas 40. Lebensjahr herum –und über mehrereJahregemittelt, um Zufallsschwankungen zu glätten. Solche AnalysenbenötigenLängsschnittdaten mit langen Laufzeiten undgrosse Stichproben oder,besser,Vollerhebungen. Erst unter diesen Bedingungen wird die Messung derEinkommensmobilität empirisch belastbar und international vergleichbar AufeineEinschränkung giltesallerdings hinzuweisen: DieFairnessfrage zielt auf Chancen, nichtauf Ergebnisse. In der empirischen Arbeit messen wir jedoch fast ausschliesslich Ergebnisse (Einkommen,Ränge,Übergänge), weil Chancen kaumdirektbeobachtbar sind. Mobilitätsmasse sind daher ergebnisbasiert –sie dienen als Annäherungsmass fürChancengleichheit, ersetzensie aber nicht. Politischist das ein Unterschied: Mankann Ergebnisgleichheit anstreben –oderChancengleichheit. Relative und absoluteMobilität In einer jüngeren Arbeitvon 33 Forschenden wurde dieintergenerationale Einkommensmobilitätfür dieGeburts-

jahrgänge 1978 bis 1983 auf Basis der jeweils besten verfügbaren Datenund nach möglichst einheitlichen Kriterien berechnet. Der Schwerpunkt liegtzwar auf dem Vergleich zwischen Personen ohne und mit Migrationshintergrund; dieErgebnisse erlauben aber aucheinen sauberenLändervergleichder Mobilität unter Einheimischen. Konkret werden, wieobenbeschrieben,die Einkommen von Eltern undKindern im gleichen Lebensalterüber mehrereJahregemittelt undinnerhalb der Jahrgänge zu Rängengeordnet;anschliessend wirdder Zusammenhang der Ränge ausgewiesen. In Österreich liegt diese Kennziffer mit rund 0,06imFünfzehnLänder-Vergleichamniedrigsten (nach den verwendeten Spezifikationen). In der Schweiz beträgt sie etwa 0,16. In den gemeinhin als egalitär beschriebenenskandinavischen Ländern –Schweden(0,23), Norwegen (0,24), Dänemark (0,25) –liegt sie höher; in den USA, dem Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten,bei rund 0,30.Deutschland kommt auf etwa0,38 Neben der relativen Messung lohnt sich der Blick auf die absolute Mobilität: Siefragt nichtnachdem durchschnittlichen Zusammenhang,sondern danach, wohin Kinder aus bestimmten Herkunftsgruppen als Erwachsene gelangen. Drei Kennziffern dienen als Kompass –ihreeinordnenden Überschriften lauten: der«American Dream» (Anteil der Kinder aus dem untersten Fünftel,die ins oberste Fünftel aufsteigen),der «CycleofPoverty»(Anteil,der unten bleibt)und der «Cycle of Privileges» (Anteil der Kinder aus dem obersten Fünftel,die oben bleiben).In Österreich erreichen 19,2 Prozent der Kinderaus dem unterstenFünftel das oberste Fünftel –imVergleich dazu sind es in den USA7,5 Prozent. Im «Cycle of Poverty» verbleiben 17,3 Prozent der Kinder in Österreich, in den USA 33,7 Prozent.Das Verharrenganz unten isthierzulande also etwahalbsowahrscheinlich. Der «Cycle of Privileges» liegtbei 26,3 ProzentinÖsterreichund bei 36,5 Prozentinden USA: Obenbleiben ist in denVereinigten Staaten stärker vererbt, dieSpitzeinÖsterreich wenigerverfestigt. So ergänzt die absolute Perspektive,die zuvorberichtete, relative Messung schlüssig– undunterstreicht die besondereDurchlässigkeit derösterreichischen Einkommensverteilung

Bildungversus Einkommen

Wiepasst die neue Evidenz einer aussergewöhnlich hohen Einkommensmobilität in Österreich zu älteren Befunden,die demLandeine geringe Bildungsmobilitätattestieren? Fest steht:Die Bildung derElternprägt die Bildungswegeder Kinder stark; hier wirkt Herkunft deutlich nach.Mehrals die Hälfte der Kinder aus Akademikerhaushalten studiert, beiEltern,die höchstens einen Pflichtschulabschluss aufweisen,gelingt dies nurrund6 Prozent. Und ja:Bildung und Einkommen hängen eng zusammen –höhereAbschlüsse gehen im Durchschnittmit höheren Löhnen einher Gleichzeitigfolgt daraus kein Gleichklangvon Bildungs-und Einkommensmobilität: Hohe Einkommensmobilität ist möglich, wenn nichtakademische Wege verlässlichzuguten Löhnen führenund dieLohnspreizung in der Mitte begrenzt bleibt. UnsereThese lautet: Die Lehreist ein zentralerBaustein der hohenEinkommensmobilität in Österreich –auch, weil sich eingrosser Teil der Jugendlichen für

Für die soziale Mobilitätist die Berufslehre ein Schlüsselfaktor–sowohl in der Schweiz als auch in Österreich.

Auch Studienabschlüssesind heterogen; die Arbeitsmarkterträge variieren deutlich nach Fach und Abschlussniveau. FürunsereFrage ist entscheidend, ob –und wenn ja, wie stark –sich dieLohnverteilungen von Lehrabsolventen undAkademikernüberlappen.

Anspruchsvolle Lehrberufe eröffnen oft planbareKarrieren mit stabilen Lohnpfaden; manche Studienrichtungen führen ausserhalb kleiner Nischen in enge Arbeitsmärkte mit entsprechend verhaltenen Erträgen. Diese Heterogenität kann Bildungs-und Einkommensmobilitätentkoppeln.

Schweizstütztdie Lehrethese Unterschiedeinden Ertragsraten von Lehreund Studium waren empirisch langenur grob zu beziffern,weil Einkommensdaten selten sauber mit Ausbildungsinformationen (Lehrabschluss, Studienfach) verknüpftwaren. Österreich hat hier einen wichtigen Schrittgemacht: Mit demgesetzlich verankerten Austrian MicroData Center (AMDC) bei StatistikAustria stehtder Forschung heute eine sichere Infrastruktur für verknüpfbareMikrodaten zurVerfügung. Gemeinsammit Teamsander Wirtschaftsuniversität Wien (WU)und der Johannes Kepler Universität (JKU) analysierenwir diese Daten,umdie Lohnverteilungen nach Lehr-und Studienabschluss zu vergleichen– undumzu prüfen, wie starksie sich unterscheiden und überlappen. Ziel ist, einen wichtigen

Mechanismus hinterÖsterreichs hoher Einkommensmobilität –die duale Ausbildungals vollwertige Aufstiegsspur –empirisch herauszuarbeiten. Ein Blick in die Schweizstützt diese Lesart, wie auchder Beitrag von Stefan Wolterauf Seite 6zeigt.Die Lehrefungiert als breiter Standardweg,bindet früh an Betriebe und bleibt über klare Weiterbildungsstufen durchlässig–zusammen mit Österreich ergibt dasein stimmiges Bild für den Mechanismus Deutschland fällt hier aus der Rolle: Trotz seinem grossen dualen Sektor ist der Zusammenhang zwischen Elternund Kindereinkommen in Deutschland deutlich stärker.Zwar gibt es einenmethodischenVorbehalt: Im Vergleichberuhen die deutschen Werte auf verknüpften Befragungsdaten,jene für Österreich und die Schweiz auf Register-beziehungsweise Steuerdaten. Doch der Abstand Deutschlands bleibt auch unter diesem Vorbehalt auffällig Auch wenn die duale Ausbildung einplausiblerHauptbaustein für diehohe Einkommensmobilität in Österreich undder Schweizist, lassen sich internationale Unterschiede nicht monokausal erklären. Bereits innerhalb der USAvariiert Mobilität stark; Chetty et al.zeigenauf Basisverknüpfter Steuerdaten grosse Unterschiede zwischen Regionen unddokumentieren Merkmalsbündel,die korrelieren (weniger Segregation, messbar bessereSchulqualität, stabilereFamilienstrukturen, dichteres soziales Kapital, funktionierende lokale Arbeits- und Wohnungsmärkte) –ohne strenge kausale Nachweise.Entsprechend lassen sich daraus keinesofortigen Politikrezepte ableiten Fürdie Mobilitätsforschung bleibt viel zu tun. Im Fall Österreichsspricht gleichwohleiniges dafür, dass dieduale Ausbildung einwichtiger, wenn auch nichtder einzige Bausteinist –wir arbeiten daran, dasempirisch weiterzuschärfen

Univ.-Prof.Dr. Martin Hallaist Professorfür Volkswirtschaftslehre an derWirtschaftsuniversitätWien(WU).

MARTIN HALLA

UnsereAufgabe ist es,Bedingungen zu schaffen, die den Bedürfnissen unserer Kinder gerecht werden.

Ein glücklichesAufwachsengehtoft einher miteinem glücklichenLeben

DieKindheitals Chance:Frühförderung kann dies unterstützen,sollteabernicht mitübertriebenen Erwartungenaufgeladenwerden. Wichtigfür diespäterenMöglichkeiten sind auch liebevolle Beziehungen, Geborgenheit undeinestabile psychische Gesundheit

OSKAR JENNI UND FLAVIA WEHRLE

Menschen, die aus einfachen Verhältnissen stammen und dennoch Grosses erreicht haben, üben eine besondere Faszination aus.Sowuchsen etwa Südafrikas Freiheitsikone Nelson Mandela, dieUS-Musiklegende DollyPartonoder WhatsApp-Gründer JanKoum unter ärmlichen Bedingungen auf.Dochihre Biografien sind beeindruckende Erfolgsgeschichten. Auch Sergio Ermotti, der seine Karriereals 15-jährigerBanklehrlinginLugano begannund es bisandie Spitze einer der grössten Banken der Welt schaffte,steht für den Traum des sozialen Aufstiegs Solche Lebenswege prägen das Selbstverständnis moderner Gesellschaften: Erfolg ist trotz schwieriger Lebensbedingungen in der Kindheit durch Leistung und besondereFähigkeiten erreichbar.Definiert wird Erfolg dabei meist in ökonomischen Kategorien. Er zeigtsichineiner guten Ausbildung,einem hohenEinkommenund einer angesehenenStellung.Das individuelle Leistungsvermögen gilt dabeials Rezept für den Aufstieg.Damit dieses gesellschaftliche Ideal nicht bloss ein Versprechen bleibt, setzt dieGesellschaft bereits sehr früh imLeben auf Förderung undBildung.Jebesser ein Kindgefördert werde, so die gängige Meinung,desto grösser seien seine Chancenauf einen sozialen und ökonomischen Aufstieg. DiefrüheSprachförderung für Kinder aus Familien mit Migrationshintergrundsteht dabei exemplarischfür dasvielfältige Bemühen um Chancengerechtigkeit und um möglichst optimale Startbedingungen.

Mehr als nur eine Investition in die Zukunft

Dasist nicht grundsätzlich falsch: Förderunghilft,KindernEntwicklungschancen zu geben undTüren zu öffnen. Doch die Logik, diedahintersteht, istproblematisch. Kinder erscheinen darin als «Humankapital»,indas investiert wird, damit sie als Erwachsene ein möglichst hohes Einkommenerzielen undden

Wohlstandeiner Gesellschaftsichern. Sie sollenproduktive Mitglieder der Gesellschaft werden. Aufdiese Weise wird dieKindheit instrumentalisiert, ja geradezu kapitalisiert. Eine solche Haltung wirddurch den demografischen Wandel noch verstärkt: Die wenigen Kinder,die heute geboren werden, sollen möglichst«perfekt»sein– und in dieses Ziel wird enormvielinvestiert. DiesestarkeAusrichtung auf«Fitmachenfür die Zukunft» hatden Druck auf Kinder undFamilien deutlich erhöht –mit spürbaren Folgen fürdie Entwicklung und die psychische Gesundheit der nachwachsenden Generation. Es gibt Studien, diezeigen,dass heute mindestens jedes dritte Kind darunter leidet. Ursachesind weniger «schwache» Kinderals vielmehr gesellschaftliche Bedingungen mit hohen Erwartungen undBildungsdruck Damit drängt sich eine zentrale Frage auf: Mit welcher Zielsetzung fördern wir Kinder eigentlich? Unbestritten ist, dass Kinder fürdie Entwicklung einer Gesellschaft von grosserBedeutung sind. Während Politik und Ökonomie vor allem auf den künftigen Beitrag zum Wohlstandund die Absicherung des Sozial- und Rentensystems verweisen, sehen dieEntwicklungswissenschaften im Kind einPotenzial, daswachsenund sich entfalten darfund die Gesellschaft immerwiedererneuernsoll. In beiden Sichtweisensteckt derselbe Gedanke: Kinder sind eine Investition in die Zukunft.

Doch dieseZukunftsorientierung wirft eine Reihe von grundlegenden Fragen auf: Wiemessen wir eigentlich denkünftigenErfolg? Reichen ein hohes Einkommen und ein angesehener Berufals Gradmesser? Oder solltedas primäre Ziel einer Gesellschaftnicht vielmehr darin bestehen, dass Menschen zufriedenund erfüllt leben können?

Beziehungen und Vorbilder sind wichtig

Und damit rückt die Lebensphase des Aufwachsens wieder in den Fokus: WelcheErfahrungen in der Kind-

heit sind entscheidend, damit Erwachsenespäter nicht nur erfolgreich sind, sondern ein glückliches Leben führen können? Natürlich spielt die sprachliche und kognitive Förderung für den späteren Erfolg eine gewisse Rolle Langzeitstudien zeigen,dassschulische Kompetenzen wieLesen,Schreiben und Rechnenverlässliche Prädiktoren fürdie künftigeberuflicheStellungund das Einkommen sind. Doch sprachliche und kognitive Grundlagen allein reichen nicht aus.Für ein erfülltes Leben brauchtesauchandere frühe Erfahrungen–vor allemliebevolleBeziehungen, Geborgenheit und eine stabile psychische Gesundheit.

Studien über die gesamte Lebensspanne wie dieNationalChild Development StudyinGrossbritannien, die seit 1958 rund 17 000 Menschen begleitet, oderdie British Cohort Study von 1970, die die Lebensverläufe einerweiteren Generationverfolgt, zeigen klar: Intelligenz, Schulerfolg und formale Qualifikationensind weit wenigerwichtigfür das spätereLebensglückals vertrauensvolle Beziehungenund psychische Gesundheit in derKindheit. Letztere sind der Schlüssel fürein gelingendes Leben bis ins hohe Alter.

Auch die Zürcher Longitudinalstudien, dieseit über 70 Jahren etwa 1000 Menschen über drei Generationen begleiten, bestätigen dies: In den narrativenInterviews zeichnenTeilnehmende die ihr Leben alsglücklichbeschreiben, nichtinerster Linie ihreberuflichen Karrierewegenach. Vielmehr berichten sie von familiärer Wärme,von zugewandten Lehrpersonen, von ihren Partnerschaften und Freundschaften sowie von der eigenen StärkeimUmgang mitKrisen. So erzählte eine Teilnehmerin, dasssie alsKind von vielen erwachsenen Menschenliebevoll unterstützt wurde,die zugleich hohe Erwartungen an sie stellten –darunterihr Tennislehrer,dersie zu Höchstleistungen ermutigte.Sie schilderte,wie prägend vertraute Bezugspersonen für sie waren. Die Erzählungen machen deutlich, wie entscheidend Beziehungenfür das Leben sind– eineEinsicht, die viele

MenschenamEndeihres Lebens teilen, wenn sie zurückblickenund resümieren, sie hätten lieberetwas wenigergearbeitet undmehrGewicht aufihreBeziehungen gelegt. Im Einklang mit weiteren Untersuchungen der Entwicklungsforschung vermitteln die genanntenLebensspannenstudien einklaresBilddavon, wie frühe Erfahrungen das gesamte Leben eines Menschen prägen. Sie machen dabei klar: Kinder brauchen eine Umgebung,die ihreGrundbedürfnisse ernst nimmt. Fünf davon sind besonders zentral und alle beginnen mit einem G: Geborgenheit in Beziehungen, Gesundheit von Körper und Psyche,Gelegenheiten zum Lernen, Grenzen als Orientierung sowie Gemeinschaften mit anderen. Nehmen wir einesdieserfünfBedürfnisseheraus: die psychische Gesundheit. Zahlreiche Studien belegen, dass Kinder ihreFähigkeit zur Emotionsregulation nur durch die Unterstützung von Bezugspersonen entwickeln: Erwachsenehelfen ihnen, Gefühle wahrzunehmen, auszuhalten und zu steuern. Diese Begleitung stärkt Kinder nicht nur im jeweiligenMoment und fördert ihrepsychische Gesundheit, sondernerhöht langfristig ihreChancen auf Erfolg und einzufriedenesLeben.

Den Blick nichtnur auf die Zukunft richten

Die Grundbedürfnisseder Kinder ernst zu nehmen, bedeutet auch, den Blick nicht immer nur auf die Zukunft zu richten. Die Kindheit istkeine Durchgangsphase,aus der ein Kind möglichstrasch und effizient herausgeführtwerden soll, sondern eingleichwertiger Lebensabschnitt miteinemganzbesonderen Wert. Kindersollten einfach Kindersein dürfen. Sie habenein Recht darauf, ohne Erwartungen an einen späteren Aufstiegaufwachsenzudürfen. Dass eine solcheHaltung –sozusagen als positive Nebenwirkung– langfristigwirkt, haben die Lebensspannenstudieneindrücklich gezeigt

Auch die Schule darfsich nicht allein aufdie Vermittlung vonWissen sowie Sprach- und Rechenkompetenzen beschränken. Sie muss ebensodie Bedürfnisse derKinder im Blick behalten und Räume schaffen, in denendiese Geborgenheit, Gelegenheiten zum Lernen undGemeinschaftenerfahren. Natürlich brauchen Kinder Grenzen und Herausforderungen, aber diese wirken nur in einem Klima mit zugewandter Wertschätzung.Entscheidend ist, dass Kinder sich dabeigesehen,verstanden und getragen fühlen.

Die Kinder dürfen nicht überfordert werden

Gerade weil unsereGesellschaft oftmals perfekteKinder erwartet,sollten wir uns daran erinnern: Kinder brauchen keine perfekten Bezugspersonen, sondernbenötigenvielmehrverlässliche, verfügbareund verständnisvolle Erwachsene.Unsere Aufgabeist es,Bedingungen zu schaffen, die den Bedürfnissender Kinder gerecht werden. Kindern Chancen zu eröffnen, heisst nicht, sie möglichst früh mit möglichst vielen Massnahmen zu fördern unddabei zu überfordern. Es bedeutet,ihnen daszugeben,was sie wirklichnötig haben. Denn dieKindheit ist viel mehr als eine Vorbereitung auf das«echte» Leben in derZukunft. Sieist das Leben selbstimHierund Jetzt.

Prof.Dr. OskarJenni istEntwicklungspädiater am Universitäts-KinderspitalZürichund ordentlicher Professorfür Entwicklungspädiatrieander UniversitätZürich. Prof.Dr. Flavia Wehrle istEntwicklungsforscherin undAssistenzprofessorinfür Lebensspannenforschungander UniversitätZürich.

Fürdie Erfüllung der kindlichen Grundbedürfnisse sind zunächst einmal die Eltern verantwortlich. Der Staatkanndie Familienicht ersetzen, wohl aber die Eltern stärken: durch Elternbildung,psychosoziale Unterstützung,gesellschaftliche Entlastung und Rahmenbedingungen, die den Familien Halt geben.Eltern brauchen Anerkennung und Wertschätzung,damit sie ihreanspruchsvolle und für dieGesellschaft so wichtigeAufgabe erfüllen können.

Achtung Kinder: Symbolisch als Warnungvor demgesellschaftlichen «Überfahren»kindlicher Bedürfnisse ASTRA

«Wer Leidenschaft hatund beisichbleibt, hatdie besten Chancen»

SpitzenköchinTanja Grandits über Freude stattPflicht,Talentsowie Fleiss undwarum dieSchweiz einLandfür Karrierenist: «Inder Gastronomiehat mansehrguteChancen,egalaus welcherFamilie mankommt.»

Frau Grandits, vom Chemiestudium in die Kücheist nicht geradenaheliegend: Wann warklar, dass Kochen IhreWelt ist?

Kochen war vonAnfanganmeine erste Wahl –und das,was mich erfüllthat. Aber allesagten: Mach dasnicht, das ist zu schwer,zuvielArbeit. Also habe ich zuerst Chemie studiert undgemerkt, dasseszutheoretischist. Ich wolltemit den Händen arbeiten, kreativsein.In den USAhabe ich dann als Au-pair jedenTag gekocht– da warklar:Das will ich machen. Mit 23 habe ichdie Lehre als Köchin angefangen.

Sie haben also nie gezweifelt, das Richtige zu machen?

Nein, ich haderenie.Ich entscheide mich und dann bin ich hundertprozentig dabei. Schon in der Lehrehabe ich Harald Wohlfahrt gesehen, den besten Koch Deutschlands. Ich habe mich reingeschlichen, mitgeholfen –das hatmich angefixt. SpäterinLondon habe ich gearbeitet undmeinGeld dafürverwendet, in den bestenRestaurants zu essen.Einfach, um zu sehen, wie andere arbeiten Welche Rolle spielte Ihrschwäbisches Elternhaus für IhreGastronomie?

MeineGeschwister,Elternund ich haben schon immer alle sehr gerne gegessen. Gekocht hatmeine Mutter nicht so gerne.Dafürhat meineGrossmutter extrem gern gekocht. Sie hat sogar für ihreTaube Spätzle gemacht. Bei ihr warich wahnsinnig gerne in der Küche.InmeinemRestaurant habe ich kaum schwäbische Elemente.Hingegen für meine Tochter undmich kocheich sehr gerne Linsen mit Spätzle.

Siescheinen sehr diszipliniertzusein. Sie machen jeden TagYoga und arbeiten viel.Wiewichtig ist Disziplin als Spitzenköchin?

Ich zwinge mich nicht. Alles,was ich mache,will ich aus Freude machen. Mein tägliches Yoga istkeine Pflicht,sondern weil ich es liebe.Auch meine Kochbücher schreibe ich so –manchmalwie im Wahn,wochenlang. Diszipliniert bin ich nichtinallem.Aber im Arbeitsalltag braucht es natürlich Pläne und Abläufe,die hundertprozentigeingehalten werden müssen. Mein Küchenchef und mein Betriebsleiter sind sehr strukturiert –ich bineherdie Cheerleaderin

Fusst Ihre Kochkunst eher auf Talent oder auf Fleissund Erfahrung? Es ist beides.Nach allden Jahren weiss ich, wie Dinge zusammen schmecken, welche Säureoder Frischees braucht Aber vielleicht ist mein grösseres Talent, dass ich weiss,wie Menschen zusammen funktionieren –und dass ich Menschen begeistern kann

Sie leitenein grosses Team. Wiewürden Sie die Hierarchien in IhrerKüche beschreiben? Es gibt klareHierarchien:Jederist für seinen Posten verantwortlich.Aber auch der Lehrling oder derTellerwäscher verdient denselben Respekt.Die Arbeit jedes Einzelnen ist wichtig.Freundlichkeit und Respekt sind fürmichzentral

Besteht Ihr Team hauptsächlichaus Schweizern oder habenSie eininternationales Team?

Beides.Ich finde es schön, wenn Schweizer dabei sind –gerade auch Lehrlinge aus Basel. Aber natürlich haben wir auch Franzoseninder Patisserie oder Deutsche in der Küche Beides gehört dazu.

Und wie einfachist es,neues Personalzu finden –gerade auchineiner Generation, die einen grösserenWert aufWork-LifeBalance legt?

Bis jetzt hatte ich immer viele Bewerbungen,oft auchBlindbewerbungen. In der Küche habe ich gar kein Problem, Leute zu finden. Schwieriger ist es im Service –Schichtdienste sind weniger populär. Aber insgesamt habe ichtolle Leute. Wenn MitarbeitendeEltern werden, finden wir Lösungen:andere Arbeitszeiten, andere Aufgaben.Das funktioniertgut

Sie haben in verschiedenenLändern gearbeitet.Gibt es kulturelle Unterschiede in der Arbeitsmoral? Innerhalb Europas nicht. In England, Deutschland, Frankreich,der Schweiz habe ich keine Unterschiedegespürt. Aber auf den Malediven habe ich erlebt, dass die Crew nach einer Partynacht einfachnicht kam –damussteich drei Tage lang allein kochen. Dassind andere Mentalitäten

Würden Sie sagen, die Schweiz ist ein Chancenland? Ja,definitiv. In derGastronomie hat man sehr gute Chancen, egal aus welcher Familie man kommt. In der Schweiz gehört die gehobene Gastronomie zur Kultur –wie ins Theater oder Konzert zu gehen. Und es gibt Initiativen wie die Uccelin-Stiftung von Andreas Caminada, die jungen Talenten tolleMöglichkeiten bietet. Zweimeiner Souschefs kamen über diese Stiftungzumir

Wieerleben Sie die Situation fürFrauen in Ihrer Branche? In meiner eigenen Karriere hat Geschlecht nieeine Rolle gespielt.Aber dann habe ich bei einem Michelin-Event gemerkt, dassviele Köchinnen keine Vorbilderhaben. Dasnehmeich ernst. Ich möchte Vorbild sein und jungen Frauen zeigen: Es geht. Ich habe viele

«Ich habe meinen eigenen Weg gewählt –und das soll meine Tochter auch tun.»

junge Frauen in der Küche,auch auf dem zweitenBildungsweg

Hat sich da etwasverändert?

Es gibt Fortschritte,aber viele Frauen verlassen denBeruf nach einpaar Jahren. Männer bleibeneher.Ich hoffe, dass sich das noch ändert.

Nach17Jahren im Restaurant Stucki, zwei Michelin-Sternen und 19 GaultMillau-Punkten: Wird es einfacheroder bleibt derDruck?

Konkurrenzkampf interessiert mich nicht. Wirhaben unser eigenesUniversum. Seit 17 Jahren wiederholenwir kein Gericht. DasMenüwechselt alle zwei Monate,esmuss immer neu sein. Aber weil mein Team seit Jahren zusammen ist, wirdvieles einfacher

Verursacht solche Anerkennung durch Michelin und Gault-Millaumehr Druck oder Gelassenheit?

Ich habekeine Angst, etwas zu verlieren

Wirarbeitenauf höchstemNiveauund wir verbessernuns ständig Hat sich IhreKundschaft verändert?

Ja.Früherwaren es eher Gäste 60 plus, heute haben wir viele Junge undviele Frauen.Meine Kochbücher sindein wichtiges Marketinginstrument –viele kochen daraus und kommen dann zu uns

Es ist ihr Leben, und sie soll ihren Weg gehen.

Und es istfür Sie auchkein Problem, wenn Ihr Lokal später nicht in der Familie bleibt?

Nein,überhaupt nicht. Ich habe dasja auch nicht vonmeiner Familie übernommen, sondern meineneigenen Weg gewählt –und das soll meine Tochter auch tun. Sicher wirdestolle Nachfolger geben. Dass manden Betriebunbedingt in der Familiehaltenwill, ist wohl eher der Fall, wenn es schon die dritte oder vierte Generationist.Aber ichbin die erste –und kann auch gut dieletzte bleiben.

SieprägenauchIhreMitarbeiterinnen und Mitarbeiter.Erkennen Sie Ihre Handschrift in Restaurantsvon ehemaligenTeammitgliedern?

Ja,klar. Mein ehemaligerLehrling Nicolai hat heuteein eigenes Sternerestaurant. Wenn ich dort esse,erkenne ich sofort meinen Einfluss.Aber oft höre ich auch, dass es weniger um das Kochen geht, sondernummeinen Führungsstil –Respekt, Freude,Motivation. Dasgeben viele weiter.

Und wasgeben Sie jungen Köchinnen undKöchenmit auf den Weg? Sie sollendie Freude bewahren, sich nicht vergleichen. Gutes Selbstvertrauen ist wichtig –ohne Arroganz.Wer Leidenschaft hat und bei sich bleibt, hat die besten Chancen

Siebauen gerade eine Manufakturund haben ein zweites Restaurant übernommen. Warum dieser Schritt? Es hatsich durchUmbauten ergeben. Wirwollten dasnutzen, um Neues zu schaffen. Die Manufaktur ermöglicht eigene Produkte, darüber hinaus gibt es eine Mitarbeiterkantine –einen Mehrwert fürs Team. Undimzweiten Restaurant machen wir eine einfache, abertolleKüche. Solche Projekte geben mir Energie

Siesindjetzt 55: Welche ZielehabenSie noch, und denken Sie schon ans Aufhören?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe nicht vor, in zehn Jahren aufzuhören –ganzund gar nicht. DasRestaurant ist mein Leben undmeine Aufgabe, und ichmachedas unglaublich gerne.Natürlich wirdes irgendwanneineNachfolge geben,aber bisdahin will ichweiterNeues schaffen, Projekte entwickeln und mit meinem Team noch vieleIdeen umsetzen

Interview: Melanie Häner-Müller und Christoph A. Schaltegger

ZurPerson

Spitzenköchin Tanja Grandits (55) hat sich 2001 im Restaurant Stucki in Basel ihre Welt geschaffen –ein Mikrokosmos des Lächelns,der Aromen und der Freude am Essen. Mittlerweile führt die gebürtige Deutsche ein kleines Unternehmen mit über 40 Angestellten.2014 erstmals als «Koch des Jahres» ausgezeichnet, folgte 2020 die zweite Auszeichnung zum «Koch des Jahres» des Gault-Millau, mit 19 Punkten undzwei Sternen zeichnen sie die beiden wichtigsten Guides aus.Seit kurzem betreibt Tanja Grandits mit dem«Schlüssel» in Oberwil (BL) ihr zweites Lokal:Ausder befristeten Lösung während desgeplanten Umbaus des «Stucki» istein zweites gastronomischesKonzept geworden –eines,das nicht auf Fine Dining setzt, sondernauf Einfachheit und Zugänglichkeit,auf Nachbarschaftund Alltag Kreisverkehr: Dieses Verkehrsschild steht wie

Ihre Tochterist Ihnensehrnah, schlägt aber selbst nicht denWeg in dieGastronomieein.Macht Ihnendas etwasaus?

Überhaupt nicht.Sie hatimSommer die Matur gemachtund lebt ganz in der Pferdewelt: Sie reitet Dressur, macht ein Onlinestudium in Stable Management und ist damit sehr glücklich. Ich freue mich über ihreBegeisterung,die ist genauso stark wie meine fürs Kochen.

In gutenHänden.

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JürgStaub,Christofund Remy Reichmuth (v.l.), unbeschränkt haftende Gesellschafter

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