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sozial-ökologische Arbeitszeitpolitik in der Schweiz
from CDE Working paper: Weniger ist mehr – der dreifache Gewinn einer Reduktion der Erwerbsarbeitszeit
4 Erwerbsarbeitszeitreduktion als Transformationsstrategie – Ansatzpunkte für eine sozial-ökologische Arbeitszeitpolitik in der Schweiz
„Die neue Art und Weise zu arbeiten ist nicht loszulösen von einer bestimmten Art zu leben, zu denken, das Leben zu erfahren (und es zu „produzieren“); es lassen sich keine Erfolge auf einem Gebiet erreichen ohne greifbare Ergebnisse auf einem anderen.“
(Gramsci 1990: 2164, zitiert nach; Bechtle and Sauer: 50)
Im vorangehenden Kapitel haben wir aufgezeigt, dass eine Erwerbsarbeitszeitreduktion theoretisch zu einer dreifachen Dividende führen kann: Weniger arbeiten wirkt sich positiv auf die Umwelt aus, kann die Lebenszufriedenheit erhöhen und senkt die Arbeitslosigkeit. Wie Antonio Gramsci im obenstehenden Zitat beschreibt, sind Arbeitsformen und die Formen des gesellschaftlichen Lebens eng miteinander verbunden, so dass bei der Diskussion der Erwerbsarbeit immer auch die kulturelle Dimension betrachtet werden muss. So fordern Verfechter*innen einer Neubewertung des Arbeitsbegriffs einen kulturellen Wandel, bei welchem unter anderem die Sorgearbeit aufgewertet oder generell von «Tätigsein» gesprochen wird (vgl. Seidl and Zahrnt 2019). Andere Akteure fordern konkrete Massnahmen, um die Rolle der Arbeit neu zu definieren, wie beispielsweise kurze Vollzeit, Abbau von Benachteiligungen für Teilzeitarbeitende in der beruflichen Vorsorge oder die Förderung von Jobsharing. Somit können abhängig vom Ziel, welches mit einer Reduktion der Erwerbsarbeitszeit verfolgt wird, die Ansatzpunkte und konkreten Umsetzungsmassnahmen stark divergieren. In diesem Kapitel wollen wir daher verschiedene Ansatzpunkte für eine sozial-ökologische Arbeitspolitik der Schweiz skizzieren, damit sich die dreifache Dividende einer Erwerbsarbeitszeitreduktion auch möglichst manifestiert.
Um eine sozial-ökologische Arbeitszeitpolitik in der Schweiz zu fördern, gibt es verschiedene Instrumente. Massnahmen können mittels direkt wirkender Instrumente schweizweit (d.h. im Arbeitsrecht oder in den Gesamtarbeitsverträgen) oder mittels indirekt wirkender Instrumente freiwillig auf Unternehmensebene eingeführt werden. Zudem können sich marktwirtschaftliche Instrumente wie Steuern, Abgaben, Subventionen oder Zertifikate auf die Kosten-Nutzen-Rechnung der Unternehmen auswirken, was wiederum deren Handeln indirekt beeinflussen kann. Wir Autor*innen sehen eine kurze Vollzeit, das heisst eine generelle Reduktion der Erwerbsarbeitszeit für Alle, als Ziel, welches es zu verfolgen gilt. Einerseits werden dazu gesetzliche und gewerkschaftliche Regelungen nötig sein, da heute die einzelnen Arbeitnehmenden den Arbeitgeber*innen in ihrer Verhandlungsmacht strukturell unterlegen sind. Da sich eine kurze Vollzeit nicht einfach verordnen lässt, benötigt es andererseits indirekt wirkende Instrumente. Die einzelnen Unternehmen sollten genügend Freiraum erhalten, um eine kurze Vollzeit umsetzen zu können. Die Bereitschaft dazu kann mittels indirekt wirkender Instrumente, die versuchen mit Hilfe von Anreizen und Informationen Handeln für bestimmte Akteur*innen attraktiver zu machen, gefördert werden. Beispiele für indirekte Instrumente sind Zielvorgaben, Selbstverpflichtungen, Förderprogramme oder Labeling/Zertifizierung. Nicht zuletzt sehen wir einen wirkungsvollen Weg darin, das Wissen und den Erfahrungsaustausch über konkrete Umsetzungsbeispiele verschiedener Varianten von Teilzeitarbeit zu unterstützen, so dass für Unternehmen soziales Lernen aus guten Beispielen möglich wird.
4.1 Kurze Vollzeit für Alle als Leitbild
Verfechter*innen der Idee einer kurzen Vollzeit greifen die dreifache Dividende einer Erwerbsarbeitszeitverkürzung auf und beschreiben die kurze Vollzeit als einen Weg zur Überwindung der Erwerbslosigkeit, zur Schaffung von Geschlechter- und Verteilungsgerechtigkeit sowie für Klima- und Ressourcenschutz. Der Begriff der kurzen Vollzeit wurde vom Ökonomen Helmut Spitzley (2006) geprägt und beschreibt heute eine 30-Stunden-Woche, mit welcher sich zumindest rechnerisch am Beispiel Deutschland die Arbeitslosigkeit abschaffen liesse (Holtrup and Spitzley 2008). Die Idee ist somit nicht neu und wurde in der Vergangenheit auch immer wieder thematisiert. Durch die Ankündigung einer kurzen Vollzeit der IG-Metall in Deutschland im Jahr 2017 und deren späterer Umsetzung gelangte das Thema wieder auf die politische Agenda. Meist stand die Forderung einer kurzen Vollzeit in Verbindung mit einem vollen Lohnausgleich. Genau diese Koppelung ist möglicherweise der Grund, warum die Umsetzung bisher erfolglos blieb – denn wer soll die Kosten einer kurzen Vollzeit tragen?
Grundsätzlich gibt es vier Möglichkeiten der Finanzierung. Die erste Möglichkeit belastet die Arbeitnehmenden, indem der Lohn proportional zur Reduktion der Erwerbsarbeitszeit zurückgeht (kein Lohnausgleich). Stattdessen kann aber in einer zweiten Variante die kurze Vollzeit auch von den Arbeitgebenden getragen werden, dies, indem die Löhne gleichbleiben, aber die Arbeitszeit sinkt (voller Lohnausgleich). Dadurch steigen die Produktionskosten und die Gewinne sinken. Diese Variante würde dem bisherigen Trend entgegenwirken, dass Produktivitätsfortschritte eher die Kapitaleigner*innen als die Arbeitnehmenden begünstigten (siehe die Ausführungen zur Lohnquote in Kapitel 2). Reagierten die Arbeitgeber*innen jedoch mit höheren Preisen auf ihre Produkte, würden die Kosten der kurzen Vollzeit zumindest teilweise wieder auf die Arbeitnehmenden (in dem Fall als Konsument*innen) zurückfallen. Weiter könnte ein voller Lohnausgleich dazu führen, dass menschliche Arbeitskraft noch schneller durch Maschinen ersetzt wird, da sie so teurer wird. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, dass der Staat, und damit die Steuerzahlenden, die Kosten einer kurzen Vollzeit übernimmt, beispielsweise indem eine Verlagerung der Besteuerung weg von der Arbeit hinzu einer vermehrten Besteuerung von Kapital und/oder Umweltauswirkungen stattfindet (Quersubvention durch alternative Einnahmequellen). Bei Diskussionen rund um die Verlagerung der Besteuerung weg von Arbeit und hin zu Kapital und/oder Umweltauswirkungen muss stets mit einbezogen werden, dass die heutigen Sozialsysteme grösstenteils durch die Besteuerung von Arbeit finanziert werden. Die vierte und gleichzeitig die attraktivste Möglichkeit besteht darin, dass niemand Kosten übernehmen muss, da diese gar nicht anfallen oder mit Einsparungen verrechnet werden können (Sektorübergreifende Kostenvollrechnung). Eine Möglichkeit, warum dies geschehen könnte ist, dass arbeitsbezogene Krankheiten wie Stress, Burnout und Boreout zurückgehen und so die Gesundheitsausgaben sinken könnten und weniger Arbeitslosen- und Sozialhilfeausgaben nötig wären, weil die Arbeit gleichmässiger verteilt würde. Dass dies keine unrealistische Möglichkeit ist, argumentierte kürzlich der Luzerner Gesundheitspolitiker und Präsident der Gesundheitsförderung Schweiz Guido Graf (Blumer 2020). Einerseits ist der sogenannte Job-Stress-Index, welcher den Anteil der von ihren Anforderungen Überforderten zeigt, auf knapp über 27 Prozent im Jahr 2019 gestiegen. Andererseits verweist Graf auf die gestiegenen Gesundheitskosten in Zusammenhang mit der Belastung am Arbeitsplatz. So stiegen beispielsweise im Kanton Luzern die Kosten in der Psychiatrie von 2012 bis 2019 um 63 Prozent und damit mehr als doppelt so stark wie jene für nicht psychiatrische Spitalbehandlungen. Schliesslich zeigt der Job-Stress-Index auch den Anteil von emotional erschöpften Menschen in der Schweiz. Auch dieser Anteil zeigt einen ansteigenden Trend: Heutzutage sind rund ein Drittel der 5 Millionen Erwerbstätigen in der Schweiz emotional erschöpft. Die Möglichkeit, dass eine Erwerbsarbeitszeitreduktion in der Schweiz keine Netto-Kosten verursachen, da sie Gesundheitskosten und Kosten der Arbeitslosenversicherung senken könnte, müsste eingehender untersucht und ein (wahrscheinlich staatlich organisierter) Transfermechanismus zwischen Gesundheits- und Lohnkosten eingerichtet werden.
Abgestufter Lohnausgleich bei Erwerbsarbeitszeitreduktion
Auf der Grundlage von den empirischen Erkenntnissen zu den Zusammenhängen zwischen Einkommen und Lebenszufriedenheit (vgl. Abschnitt 3.2 Soziale Dividende) und den Zusammenhängen zwischen Einkommen und ökologischer Belastung (vgl. Abschnitt 3.1 ökologische Dividende) sowie den oben dargestellten Möglichkeiten zur Finanzierung einer kurzen Vollzeit möchten wir Autor*innen in Abbildung 4.1 einen möglichen Mittelweg zwischen einer Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich und ohne Lohnausgleich skizzieren.
Die schwarze Kurve in Abbildung 4.1 zeigt den Zusammenhang zwischen Einkommen und Treibhausgasemissionen, basierend auf der Studie von Bruderer-Enzler und Diekmann (2019). Gemäss diesen Daten zeigt sich, dass Umweltkosten in Form von Treibhausgasemissionen bei steigendem Einkommen ab dem 5. Dezil, d.h. dem Medianeinkommen, deutlich zunehmen. Die grüne Kurve in Abbildung 4.1 stellt den Zusammenhang zwischen Einkommen und Zufriedenheit dar (nach eigenen Berechnungen, basierend auf Daten des Jahres 2015, SHP 2020). Die grüne Kurve zeigt, dass der Nutzen von steigendem Einkommen für das Wohlbefinden ab dem 5. Dezil nur noch marginal zunimmt und für die höchsten Einkommen sogar sinkt. Wir können somit festhalten, dass hohe Einkommen schädlich für die Umwelt sind und für die Zufriedenheit nur einen begrenzten Mehrwert bringen. Basierend auf diesen Erkenntnissen argumentieren wir für eine Arbeitszeitverkürzung mit abgestuftem Lohnausgleich. Arbeitnehmende, die jetzt Vollzeit arbeiten und dabei weniger als den Medianlohn verdienen, könnten einen vollen Lohnausgleich bei geringerer Arbeitszeit erhalten. Ihnen stünde so das gleiche Einkommen wie zuvor zur Verfügung, sie hätten jedoch mehr Zeit, die sie zufriedenheitsstiftend einsetzen könnten. Arbeitnehmende mit Einkommen über dem Medianlohn erhielten nur einen abgestuften Lohnausgleich, während jene mit den höchsten Einkommen keinen Lohnausgleich mehr erhielten. Auch letztere hätten somit mehr Zeit, gleichzeitig jedoch weniger Geld zur
Verfügung. Eine Erwerbsarbeitszeitreduktion mit abgestuftem Lohnausgleich wird auch von Schumacher et al. (2019) vorgeschlagen und für Deutschland modelliert. Aus heutiger Sicht würde sich eine negative Einkommenssteuer, bei welcher Haushalte mit tiefem Einkommen eine Transferzahlung erhielten (negative Steuer), als Instrument zur Umsetzung und Finanzierung anbieten. Mit steigendem Einkommen nehmen die Transferleistungen bis zu einem zu bestimmenden Schwellenwert ab. Oberhalb des Schwellenwerts müssten Einkommenssteuern an den Staat gezahlt werden.
Treibhausgasemissionen [kg CO2 eq.]
8000
6000
4000
2000
voller Lohnausgleich abgestufter Lohnausgleich
0 40‘000
100‘000 Haushaltsäquivalenzeinkommen
10
9
8
7 Lebenszufriedenheit
6
kein Lohnausgleich
200‘000 5
Abbildung 4.1: Partieller Lohnausgleich (Quelle: Eigene Darstellung basierend aus Daten aus Bruderer Enzler and Diekmann, 2019, sowie SHP, 2020)
Das Instrument einer negativen Einkommenssteuer setzt jedoch immer noch eine Erwerbsarbeitsstelle voraus, um in der Gesellschaft würdig teilhaben zu können. Falls sich in Zukunft die Anzahl hinreichend bezahlter Berufe erheblich verknappen sollte, würde eine negative Einkommenssteuer nur noch bedingt funktionieren und müsste durch eine Besteuerung anderer Produktionsfaktoren ergänzt werden. Deshalb bevorzugen wir Instrumente, welche eine zumindest teilweise Entkoppelung von Arbeit und Existenzsicherung vorschlagen (Seidl and Zahrnt 2012; Jaeggi and Mäder 2015), beispielsweise durch eine Verlagerung der Besteuerung hin zu Kapital, Finanzflüssen und Ressourcen. Solche Instrumente würden zudem die heutige Abhängigkeit der Sozialsysteme vom Vorhandensein von immer mehr Arbeit, was heutzutage mehr Wachstum in Form von Konsum und Produktion bedingt (vgl. Abbildung 4. 1), abschwächen.
Gegenwärtig stellt der Vorschlag einer kurzen Vollzeit für alle noch eine Utopie dar, welche sich in einer zu führenden gesellschaftlichen Debatte hinsichtlich von Machbarkeit und Akzeptanz bewähren muss. Es ist weder sinnvoll noch politisch machbar, aktuell eine kurze Vollzeit mittels gesetzlicher oder gewerkschaftlicher Regulierungen durchzusetzen. Wir diskutieren im Folgenden indirekt wirkende Instrumente, welche die Debatte und den Weg zu einer kurzen Vollzeit ebnen könnten. Diese können von Unternehmen freiwillig umgesetzt werden, um die Arbeits- und Lebenszufriedenheit der Arbeitnehmenden zu erhöhen.
Elternzeit
Gekoppelt an Elternschaft garantieren alle OECD Länder Reduktionen der Erwerbsarbeitszeit, dies jedoch mit grossen Unterschieden in der jeweiligen Ausprägung für Mütter und Väter, und meist verbunden mit einem zumindest anteiligen Lohnausgleich (OECD 2017b). Während die Schweiz eine 14-wöchige Auszeit für die Mütter kennt, bietet Schweden beispielsweise 16 Monate bezahlte Elternzeit, wobei je 90 Tage als Minimum für beide Eltern gelten und die restlichen 150 Tage im gegenseitigen Einverständnis zwischen beiden Elternteilen aufgeteilt werden können. Eine neue Studie zeigt, dass dieser flexible Teil meist von den Müttern in Anspruch genommen wird (Lindahl, 2018). Gemäss der Studie gibt es dafür zwei Gründe: traditionelle Genderdynamiken bei den Paaren sowie Erwartungen der Arbeitgebenden, dass die Väter nur die Pflichtanteile der Elternzeit beanspruchen.
Die Einführung einer Elternzeit in der Schweiz könnte eine Massnahme auf dem Weg zu einer kurzen Vollzeit sein. Mit Anspruch an Geschlechter- und Verteilungsgerechtigkeit müsste jedoch gewährleistet werden, dass beide Elternteile die Elternzeit zu gleichen Teilen beziehen. Die Möglichkeit eines Transfers (wie ihn das schwedische Modell kennt) sollte gemäss Anne Lise Ellingsaeter, Professorin für Soziologie und Geschlechtergerechtigkeit, abgeschafft oder stark eingeschränkt werden (Gnewski 2019). Die Kehrseite eines solchen Elternzeitmodells wäre die Einschränkung der Flexibilität durch Wahlmöglichkeit und damit der optimalen Anpassung an die individuelle Situation.
Freistellung für Ehrenamt
In der Schweiz gibt es die Möglichkeit, für ehrenamtliche Tätigkeiten von der Erwerbsarbeit freigestellt zu werden. Namentlich können Arbeitnehmende bis zum 30. Altersjahr jährlich bis zu 5 Tagen unbezahlten Urlaub (sogenannten Jugendurlaub 9 ) in kulturellen und sozialen Institutionen der Jugendarbeit beziehen. Darunter fallen vielfältige Aktivitäten wie das Leiten von Lagern, Animationsarbeit in Jugendtreffs sowie die eigene Aus- und Weiterbildung zum «Jugend und Sport»- Leitenden. Die Einsätze sind unentgeltlich, für entsprechende Kaderkurse kann jedoch eine Erwerbsausfallentschädigung von 80% des Lohnes geltend gemacht werden, welche via AHV-Ausgleichskasse ausbezahlt wird.
Auch viele grössere und kleinere Betriebe in der Schweiz kennen kürzere und längere «Corporate Volunteering»-Programme auf betrieblicher Ebene. Dies teilweise in selbstgewählten Projekten, teilweise in durch den Betrieb eingegangenen Kooperationen mit Einsatzprogrammen, welche, je nach Einsatzdauer, bei vollem Lohnausgleich oder aber unentgeltlich geleistet werden können (Lorenz et al. 2016). Ein nicht zuletzt interessantes, wenn auch bisher auf die Zeit nach dem Erwerbsleben beschränktes Projekt hat die Stadt St.Gallen ins Leben gerufen. Freiwillige Rentner*innen können Arbeitseinsätze in der Betreuung und Begleitung von Senior*innen leisten, welche dann ihrem «Zeitkonto» gutgeschrieben werden. Die Stadt St.Gallen garantiert für die Einlösbarkeit der angesparten «Zeitstunden» (Trageser et al. 2017). Dies ist ein Versuch, mit ehrenamtlicher Tätigkeit zur eigenen Altersvorsorge beizutragen und gleichzeitig das Vorsorgesystem zu entlasten.
Diese Ansätze liessen sich im Sinne einer sozial-ökologischen Arbeitszeitpolitik weiterentwickeln. Eine an entsprechende Bedingungen gekoppelte Bewilligung zur Reduktion der Erwerbsarbeit könnte dazu führen, dass die neue erwerbsarbeitsfreie Zeit in soziale und ökologische Aktivitäten fliesst, welche «ressourcenleichter» sind als allfällige Freizeitaktivitäten und somit einem möglichen Zeit-Rebound-Effekt entgegengewirkt wird (Hanbury et al., 2019). Neben der Erwerbsarbeit geleistete Freiwilligenarbeit hat zudem positive Effekte auf Burnout- und Stresssymptome, die mentale Gesundheit sowie die Work-Life-Balance (Ramos et al. 2015). Nicht zuletzt würden Formen der «Freistellung für Ehrenamt» ein Signal der Anerkennung solch sozialen und ökologischen Engagements aussenden und damit auch die gesellschaftliche Wertschätzung von Teilzeitarbeit erhöhen.
Auf betrieblicher Ebene liessen sich Volunteer-Programme, bedingungsvolle unbezahlte Urlaube und Sabbaticals in diese Richtung weiterentwickeln, bis hin zu einer Kombination von Zeitvorsorgeeinsätzen die in sogenannten Zeitkonten über die gesamte Lebenszeit hinweg festgehalten werden. Auf nationaler Ebene könnten Programme, ähnlich dem oben geschilderten Jugend und Sport Programm, auf weitere Altersgruppen und sozial-ökologische Aktivitäten ausgedehnt werden, wie z.B. auf durch NGOs vermittelte Umwelteinsätze oder Freiwilligeneinsätze von BENEVOL. (Abgestufte) Entschädigung könnten wie beim Jugendurlaub über die Erwerbsersatzordnung festgelegt werden.
Fokus auf Win-Win Situationen
Wie in Kapitel 3 dargestellt, haben verschiedene Aktivitäten sowohl in Bezug auf das individuelle Wohlbefinden als auch für die Umwelt unterschiedliche Effekte. Das Pflegen romantischer und sozialer Beziehungen sowie kreative, spirituelle und sportliche Tätigkeiten stellen (wenn nicht mit motorisierten Anfahrtswegen verbunden) sogenannte Win-Win Situationen dar (Isham et al. 2019); sie fördern das Wohlbefinden und sind gleichzeitig ressourcenleicht. Eine Lose-Lose Situation stellt hingegen die Zeit dar, welche für den Arbeitsweg aufgewendet wird. Insbesondere, wenn diese im Auto oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt wird, wirkt sie sowohl fürs Wohlbefinden als auch für die Umwelt nachteilhaft (Ettema et al. 2016). Teilzeitarbeitsmodelle sollten also so ausgerichtet werden, dass sie auch weniger Pendlerwege generieren. Aus dieser Sicht wären also Modelle, welche die Anzahl der Wochenarbeitstage verkürzen,
9 Der Jugendurlaub ist im Obligationenrecht in Artikel 329e gesetzlich geregelt.
solchen, welche die Anzahl der Arbeitsstunden pro Tag verkürzen, vorzuziehen, wie eine Simulationsstudie unterschiedlicher Arbeitszeitmodelle aus Grossbritannien berechnete (King and van den Bergh 2017). Nicht zuletzt liesse sich das Potential der Vermeidung von Lose-Lose-Situationen natürlich auch unabhängig von einer Reduktion der Erwerbsarbeitszeit ausschöpfen, etwa durch die Förderung von Home Office.
Win-Win Situationen zu schaffen liegt hauptsächlich in der Eigenverantwortung der Arbeitnehmenden. Arbeitszeitregime können hier unterstützend gestaltet werden, indem sie eine Flexibilisierung zugunsten der Arbeitnehmenden und damit eine bessere Work-Life-Balance erlauben, welche neben Sorgearbeit auch noch zeitliche Freiräume für persönliche Interessen (selbstbestimmt gestaltete Zeit) ermöglichen. Ein möglicher Beitrag liegt in höherer Arbeits(zeit)autonomie, ohne dass diese mit zunehmender Arbeitsintensität einhergeht (von Jorck and Schrader 2019). Dies mit dem Ziel, dass Menschen die Erwerbsarbeitszeit besser mit den Zeiten des öffentlichen Lebens (wie Öffnungszeiten von Geschäften und Verwaltung, Stundenpläne der Schulen), sowie der Mitmenschen (Partner*in, Kinder) koordinieren können. In diese Richtung gehen auch Ideen für eine verbesserte Synchronisierung der Zeiten (z.B. in einer Stadt), d.h. eine Zeitpolitik, welche durch die öffentliche Hand koordiniert werden könnte (Reisch and Bietz 2014).
Neue Indikatoren: Lebensqualität und Zeitwohlstand
Seit 250 Jahren und dem berühmten Werk von Adam Smith - The Wealth of Nations (1776) - beschränkt sich insbesondere in westlich geprägten Gesellschaften das Verständnis von Wohlstand im Wesentlichen auf das Wachstum von Gütern und Dienstleistungen, welches mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen wird. Dieser Fokus hat unter anderem dazu geführt, dass unsere moderne Gesellschaft zwar über eine historisch einmalige Gütermenge verfügt, jedoch über wenig Zeit. So legt beispielsweise der Soziologe Hartmut Rosa dar, dass das Übermass an Produkten, Konsum und Ereignissen uns daran hindert, genügend Zeit für Dinge einzusetzen, welche wir für ein gutes Leben als wichtig erachten, bspw. für entspannende und kreative Musse, freie Persönlichkeitsentfaltung oder Freundschaften (Rosa 2016). Diese Überlegungen nimmt auch die Debatte rund um Zeitwohlstand auf und hinterfragt den Begriff Wohlstand im Hinblick auf seine Adäquatheit bezüglich unserer Vorstellungen von einem guten Leben bzw. Lebensqualität. Zeitwohlstand weist verschiedene Facetten auf, welche sich in vier Komponenten unterscheiden lassen: 1.) rein quantitativ über mehr Zeit verfügen, 2.) bei Bedarf ausreichend gemeinsame Zeit miteinander verbringen, 3.) in möglichst hohem Ausmass selbstbestimmte Zeit realisieren können sowie 4.) nach Bedarf über genügend entschleunigte 10 , entdichtete Zeit verfügen (Rinderspacher 2012: 21).
Doch wie lassen sich solche Gedanken zu Lebensqualität in die Realpolitik übersetzen? Einst sagte Joseph Stiglitz im Nachgang der Präsentation des Berichtes «Measurement of Economic Performance and Social Progress» (Fitoussi et al. 2011): «What we measure, is what we do». Demzufolge könnten neue Messmethoden zur Bestimmung von Wohlstand und Lebensqualität als Brückenschlag zwischen Forderungen nach mehr Zeitwohlstand und der Realpolitik dienen. Verschiedene Länder kennen teilweise bereits seit Längerem alternative Wohlstandsindikatoren, welche den nichtmateriellen Wohlstand ins Zentrum rücken. Besonders interessant sind dabei die Ansätze von Bhutan und Ecuador, welche auch die Verfügbarkeit von Zeit berücksichtigen. In dem von Ecuador erstellten Index des Vida Saludable y Bien Vivir (IVSBN) wurde nicht Geld, sondern Zeit als zentraler Wohlstandsindikator eingeführt (Burchardt 2017). Die Einführung der Integration von Zeitpraktiken, also des alltäglichen Umgangs mit der Zeit, in einen Wohlstandsindex kann die aktuellen Debatten um eine Neubewertung und -definition des Wohlstandsbegriffes anregen und gleichzeitig die Stellung von Teilzeitarbeit in einer Gesellschaft neu beleuchten. Des Weiteren können Diskurse über die Frage wie Wert geschaffen wird, wer diesen schöpft und wer diesen abschöpft (siehe bspw. Mazzucato 2019) möglicherweise entscheidend für die in Abschnitt 3.3 (ökonomische Dividende) dargestellte Notwendigkeit einer Verschiebung der Wirtschaftsleistung hin zu arbeitsintensiven und gleichzeitig ressourcenschonenden Sektoren sein.
Sozialversicherungen und Steuersystem
Wie in Kapitel 2 dargelegt, entfällt schätzungsweise rund die Hälfte der Steuereinnahmen des öffentlichen Sektors auf die Besteuerung von Arbeit. Werden weitere obligatorische Lohnbeiträge wie die berufliche Vorsorge, die Unfallversicherung und Familienzulagen dazugezählt, erreicht der Anteil der Einnahmen aus der Besteuerung von Erwerbsarbeit rund 63 Prozent. Soll eine kurze Vollzeit für alle umgesetzt werden, drängt sich somit eine Umstrukturierung des Sozial- und Steuersystems auf und insbesondere die Frage nach einer
10 Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt in seinem Buch Beschleunigung (2016) die Entschleunigung als Gegenkonzept zu einem auf Wachstum getrimmten Kapitalismus. Dabei beschreibt er einen entschleunigten Alltag als Möglichkeit, um zur Besinnung zu kommen, in Resonanz zu unserer Mit- und Umwelt zu treten und zu bemerken, was wirklich wichtig ist im Leben; etwa soziale Beziehungen und sinnvolle Tätigkeiten.
zumindest teilweisen Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Existenzsicherung (Jaeggi and Mäder 2015). Auch wenn mithilfe einer kurzen Vollzeit für alle die Arbeit gerechter in der Gesellschaft verteilt werden kann und somit theoretisch mehr Personen am Arbeitsmarkt teilnehmen können, muss davon ausgegangen werden, dass die Besteuerung von Arbeit weniger Steuereinnahmen für den öffentlichen Sektor generieren wird. Deshalb sollte sich ein zukünftiges Steuersystem weg von der Besteuerung von Arbeit hin zu der von Kapital und Ressourcen orientieren.
Insbesondere treibhausgasemissionsintensive Luxusgüter und Dienstleitungen sowie beispielsweise Nitrateinträge müssten höher besteuert werden, um so den Ausfall bei der Besteuerung von Arbeit zu kompensieren. Dies würde unter anderem dazu führen, dass Güter und Dienstleistungen konkurrenzfähiger werden, zu deren Produktion viel Zeit bei gleichzeitig verhältnismässig geringem Einsatz nichterneuerbarer Ressourcen benötigt werden (bspw. biologische Landwirtschaft und Reparaturarbeiten). So könnte, was heute bereits in Nischen wie solidarischer Vertragslandwirtschaft oder Repair Cafés stattfindet, auch in der Gesellschaft als Ganzes eine ökonomisch tragfähige Option werden.
Zudem müssten für die Umsetzung einer kurzen Vollzeit für alle die bestehenden Hürden abgebaut und die Teilzeitarbeit als Ganzes gestärkt werden, so dass sich Teilzeitarbeitende weder in prekären Arbeitsverhältnissen wiederfinden, noch die Teilzeitarbeit sich mehrheitlich auf Frauen konzentriert. Für Letzteres müssten also auch die Hürden für Teilzeitarbeit bei Männern abgeschafft werden.
Eine weitere Hürde für Teilzeitarbeit ist die Altersvorsorge, wobei insbesondere das Vorsorgereglement der Pensionskassen teilweise problematisch ist. Der Koordinationsabzug gilt meistens bei Vollzeit und Teilzeit. Das ist ein Grund, warum die berufliche Vorsorge vieler Teilzeitarbeitenden ungenügend ist. Löhne von Teilzeitarbeitenden sollten gleichermassen wie jene der Vollzeitbeschäftigen versichert sein, indem der Koordinationsabzug dem Beschäftigungsabzug angepasst wird. Heute ist diese Anpassung den Pensionskassen selbst überlassen.
Reale Utopien
Was wäre, wenn wir infolge einer Verringerung der Erwerbsarbeitszeit mehr freie Zeit zur Verfügung hätten? Es gab schon immer Unternehmen, welche innovative Arbeitszeitmodelle umgesetzt haben und sich von den damaligen praktizierten Arbeitszeitmodellen unterschieden. Eine aus heutiger Sicht sehr progressive Massnahme wurde bereits 1931 beim US-amerikanischen Lebensmittelproduzenten Kellogg’s als Reaktion auf die grosse Rezession umgesetzt. W. K. Kellogg reduzierte die tägliche Arbeitszeit auf sechs Stunden und bezahlte dabei denselben Lohn wie vorher für acht Stunden. Dieses Modell galt für Teile der Belegschaft bis in die 1970er Jahre (Hunnicutt 1992; Bregman 2017).
Toyota hat seit 2002 in den schwedischen Betriebsstätten den 6-Stunden Tag eingeführt (Bhattacharya 2015). Und Göteborgs Stadtregierung hat im Februar 2015 einem 18-monatigen Experiment eines 6-Stunden Tages im städtischen Altersheim zugestimmt. Die ersten Evaluationsberichte zeigen positive Effekte auf mehreren Ebenen. So empfanden die Mitarbeitenden unter anderem, dass mit einem 6-Stunden Tag eine bessere Balance zwischen Arbeit und Privatleben und auch eine bessere Betreuung möglich seien, mehr Energie für die Arbeit zur Verfügung stehe sowie allgemein ein besseres Arbeitsklima herrsche (Gyllensten et al. 2017; Lorentzon 2019).
Seit 2014 gibt es für vier Branchen (Elektro-, Fahrzeug-, Stahl- und Papierindustrie) in Österreich eine kollektivvertraglich vereinbarte Freizeitoption. Diese eröffnet den Arbeitnehmenden die Möglichkeit, anstelle einer Lohnerhöhung zusätzliche Freizeit zu erhalten. Den Arbeitnehmenden stehen verschiedene Wahlmöglichkeiten für den Verbrauch zur Verfügung: Sie können damit ihre wöchentliche Arbeitszeit reduzieren, ihren Urlaub verlängern oder aber die zusätzliche freie Zeit für längere Freizeitphasen ansparen. Wissenschaftliche Studien (Gerold et al. 2017; Gerold and Nocker 2018 forthcoming) sowie Untersuchungen der Arbeiterkammer zeigen, dass die Freizeitoption positive Effekte auf die Beschäftigung hat: Neben den beschäftigungspolitischen Chancen hat sie auch positive gesellschaftliche und gesundheitliche Auswirkungen, etwa auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder auf eine Umverteilung der Lebensarbeitszeit.
Aus diesen und weiteren innovativen Versuchen lassen sich Lehren ziehen, welche Effekte unterschiedliche Ausgestaltungen kurzer Vollzeit haben können. Wenn diese Erfahrungen evaluiert, diskutiert und Entscheidungsträger*innen zugänglich gemacht werden, können sie zum Nachahmen und Adaptieren einladen, weitere Unternehmen zu neuen Schritten in Richtung zukunftsfähiger Arbeitszeitmodelle inspirieren und so nicht zuletzt umfassendere arbeitszeit-politische Veränderungen anstossen.