CDE Working paper: Weniger ist mehr – der dreifache Gewinn einer Reduktion der Erwerbsarbeitszeit

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Erwerbsarbeitszeitreduktion als Transformationsstrategie – AnsatzpunkteErwerbsarbeitszeitreduktion für eine sozial-ökologische Arbeitszeit­ politik in der Schweiz als Transformationsstrategie

4 Erwerbsarbeitszeitreduktion als Transformationsstrategie – Ansatzpunkte für eine sozial-ökologische Arbeitszeit­ politik in der Schweiz

„ Die neue Art und Weise zu arbeiten ist nicht loszulösen von einer bestimmten Art zu leben, zu denken, das Leben zu erfahren (und es zu „produzieren“); es lassen sich keine Erfolge auf einem Gebiet erreichen ohne greifbare Ergebnisse auf einem anderen.“ (Gramsci 1990: 2164, zitiert nach; Bechtle and Sauer: 50)

Im vorangehenden Kapitel haben wir aufgezeigt, dass eine Erwerbsarbeitszeitreduktion theoretisch zu einer dreifachen Dividende führen kann: Weniger arbeiten wirkt sich positiv auf die Umwelt aus, kann die Lebenszufriedenheit erhöhen und senkt die Arbeitslosigkeit. Wie Antonio Gramsci im obenstehenden Zitat beschreibt, sind Arbeitsformen und die Formen des gesellschaftlichen Lebens eng miteinander verbunden, so dass bei der Diskussion der Erwerbsarbeit immer auch die kulturelle Dimension betrachtet werden muss. So fordern Verfechter*innen einer Neubewertung des Arbeitsbegriffs einen kulturellen Wandel, bei welchem unter anderem die Sorgearbeit aufgewertet oder generell von «Tätigsein» gesprochen wird (vgl. Seidl and Zahrnt 2019). Andere Akteure fordern konkrete Massnahmen, um die Rolle der Arbeit neu zu definieren, wie beispielsweise kurze Vollzeit, Abbau von Benachteiligungen für Teilzeitarbeitende in der beruflichen Vorsorge oder die Förderung von Jobsharing. Somit können abhängig vom Ziel, welches mit einer Reduktion der Erwerbsarbeitszeit verfolgt wird, die Ansatzpunkte und konkreten Umsetzungsmassnahmen stark divergieren. In diesem Kapitel wollen wir daher verschiedene Ansatzpunkte für eine sozial-ökologische Arbeitspolitik der Schweiz skizzieren, damit sich die dreifache Dividende einer Erwerbsarbeitszeitreduktion auch möglichst manifestiert. Um eine sozial-ökologische Arbeitszeitpolitik in der Schweiz zu fördern, gibt es verschiedene Instrumente. Massnahmen können mittels direkt wirkender Instrumente schweizweit (d.h. im Arbeitsrecht oder in den Gesamtarbeitsverträgen) oder mittels indirekt wirkender Instrumente freiwillig auf Unternehmensebene eingeführt werden. Zudem können sich marktwirtschaftliche Instrumente wie Steuern, Abgaben, Subventionen oder Zertifikate auf die Kosten-Nutzen-Rechnung der Unternehmen auswirken, was wiederum deren Handeln indirekt beeinflussen kann. Wir Autor*innen sehen eine kurze Vollzeit, das heisst eine generelle Reduktion der Erwerbsarbeitszeit für Alle, als Ziel, welches es zu verfolgen gilt. Einerseits werden dazu gesetzliche und gewerkschaftliche Regelungen nötig sein, da heute die einzelnen Arbeitnehmenden den Arbeitgeber*innen in ihrer Verhandlungsmacht strukturell unterlegen sind. Da sich eine kurze Vollzeit nicht einfach verordnen lässt, benötigt es andererseits indirekt wirkende Instrumente. Die einzelnen Unternehmen sollten genügend Freiraum erhalten, um eine kurze Vollzeit umsetzen zu können. Die Bereitschaft dazu kann mittels indirekt wirkender Instrumente, die versuchen mit Hilfe von Anreizen und Informationen Handeln für bestimmte Akteur*innen attraktiver zu machen, gefördert werden. Beispiele für indirekte Instrumente sind Zielvorgaben, Selbstverpflichtungen, Förderprogramme oder Labeling/Zertifizierung. Nicht zuletzt sehen wir einen wirkungsvollen Weg darin, das Wissen und den Erfahrungsaustausch über konkrete Umsetzungsbeispiele verschiedener Varianten von Teilzeitarbeit zu unterstützen, so dass für Unternehmen soziales Lernen aus guten Beispielen möglich wird.

4.1

Kurze Vollzeit für Alle als Leitbild

Verfechter*innen der Idee einer kurzen Vollzeit greifen die dreifache Dividende einer Erwerbsarbeitszeitverkürzung auf und beschreiben die kurze Vollzeit als einen Weg zur Überwindung der Erwerbslosigkeit, zur Schaffung von Geschlechter- und Verteilungsgerechtigkeit sowie für Klima- und Ressourcenschutz. Der Begriff der kurzen Vollzeit wurde vom Ökonomen Helmut Spitzley (2006) geprägt und beschreibt heute eine 30-Stunden-Woche, mit welcher sich zumindest rechnerisch am Beispiel Deutschland die Arbeitslosigkeit abschaffen liesse (Holtrup and Spitzley 2008). Die Idee ist somit nicht neu und wurde in der Vergangenheit auch immer wieder thematisiert. Durch die Ankündigung einer kurzen Vollzeit der IG-Metall in Deutschland im Jahr 2017 und deren späterer Umsetzung gelangte das Thema wieder auf die politische Agenda. Meist stand die Forderung einer kurzen Vollzeit in Verbindung mit einem vollen Lohnausgleich. Genau diese Koppelung ist möglicherweise der Grund, warum die Umsetzung bisher erfolglos blieb – denn wer soll die Kosten einer kurzen Vollzeit tragen?

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