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Für Entscheidungsträger*innen – Das Wichtigste in Kürze
from CDE Working paper: Weniger ist mehr – der dreifache Gewinn einer Reduktion der Erwerbsarbeitszeit
Einleitung
Unser ungebremster Bedarf an Rohstoffen und Energie, eine steigende soziale Ungleichheit, eine sich verselbstständigende Finanzwirtschaft sowie die zunehmende Beschleunigung in unserem Alltag bringen unsere Gesellschaft an den Rand von Belastbarkeitsgrenzen: ökologische, soziale und wirtschaftliche. Auch wenn sich beim Erscheinen dieses Working Papers die öffentliche Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie richtet, darf nicht vergessen werden, dass diese vielfältigen Krisenphänomene sich bereits seit längerem ankündigten und miteinander in Zusammenhang stehen. Die Bewältigung dieser multidimensionalen Probleme erfordert einen grundlegenden Wandel unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.
Wir Autor*innen dieses Berichts sind überzeugt, dass eine Neugestaltung der Arbeitswelt sowie eine Neugewichtung von Erwerbsarbeit zentrale Bestandteile einer solchen sozial-ökologischen Transformation sind. Bisherige Bemühungen, den ökologischen Folgen unseres Wirtschaftens zu begegnen, setzten insbesondere auf isolierte technische Lösungen der Effizienzsteigerung und den Ausbau erneuerbarer Energien. Diese Bemühungen werden jedoch nicht ausreichen, um adäquate Lösungen im Hinblick auf die Mehrdimensionalität der aktuellen Krisen zu finden. Vielmehr ist eine suffizienz-orientierte Transformation notwendig. Dies bedeutet nicht nur eine relative Verringerung, sondern eine absolute Entkopplung unseres materiellen Wohlstands vom Verbrauch natürlicher Ressourcen, indem der Ressourcenverbrauch gesamthaft gesenkt wird und neue, immaterielle Auffassungen von Wohlstand hervorgehoben werden.
Dabei wird die Rolle der Erwerbsarbeit aktuell auf verschiedene Weise diskutiert. Einerseits wird Erwerbsarbeit als Problemtreiberin identifiziert und die daraus entstehenden Probleme analysiert. Andererseits wird insbesondere die Reduktion von Erwerbsarbeitszeit als möglicher Lösungsweg von verschiedenen Autor*innen aufgegriffen und untersucht. Wir nehmen diese Debatte auf und streben in diesem Bericht an, mögliche Implikationen daraus für die Schweiz abzuleiten. Wir wurden dabei von der Frage geleitet, inwiefern eine Erwerbsarbeitszeitreduktion für die Schweiz einen Beitrag zu einer suffizienz-orientierten Transformationsstrategie im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung darstellen könnte. Wir untersuchten dazu, basierend auf einer umfassenden Literaturrecherche, in einem ersten Schritt die aus unserer Sicht zentralen Herausforderungen und Trends der Erwerbsarbeitssituation in der Schweiz (Kapitel 2). In einem zweiten Schritt stellen wir den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Debatte zu möglichen Vorteilen verkürzter Erwerbsarbeitszeiten aus ökologischer, sozialer und ökonomischer Perspektive dar (Kapitel 3). Darauf basierend formulieren wir Vorschläge, wie eine mögliche sozial-ökologische Arbeitszeitpolitik für die Schweiz aussehen könnte (Kapitel 4).
Erwerbsarbeit in der Schweiz – aktuelle Herausforderungen
Folgende Merkmale der aktuellen Situation sowie möglicher Trends sind aus unserer Sicht in Hinblick auf eine sozial-ökologische Transformation besonders relevant:
Ungleichverteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern: Die Schweiz verfügt mit knapp 42 Stunden wöchentlicher Normalarbeitszeit über eine der höchsten in Europa. Auch der Anteil von 35% Teilzeitarbeitenden ist eine der höchsten Quoten in Europa. Gleichzeitig zeigt sich jedoch auch eine Spitzenreiterposition der Schweiz in der äusserst starken Ungleichverteilung von Vollzeit und Teilzeitarbeit sowie bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Frauen und Männern: Frauen arbeiten mehrheitlich Teilzeit und leisten den Hauptteil der unbezahlten Sorgearbeit (Haushalt, Betreuung). Diese Diskrepanz widerspiegelt sich nicht nur in geringerer Wertschätzung, sondern auch in niedrigerer sozialer Absicherung. Die Schweiz ist von einer sogenannten Geschlechtergerechtigkeit bei der Verteilung von Arbeit noch weit entfernt.
Eine sich verändernde Einstellung zu Erwerbsarbeit: Gerade bei jüngeren Arbeitnehmenden gewinnen das eigene Wohlbefinden, die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und die Sinnhaftigkeit der eigenen Tätigkeit an Bedeutung, was sich im zunehmenden Bedürfnis nach Flexibilität und Autonomie in der Erwerbsarbeitszeitgestaltung, wie auch im Wunsch nach Teilzeitarbeit manifestiert.
Neue Arbeitszeitmodelle – Zwischen Flexibilisierung und Autonomieverlust
Auf der Seite des Erwerbsarbeitsangebots zeigen die Trends in die Richtung einer Flexibilisierung. Jedoch muss hier differenziert werden, ob die verschiedenen Formen der Flexibilisierung der Erwerbsarbeit (wie Einteilung der Arbeitszeit, Arbeitsvolumen, Gestaltungsfreiheit vs. Verantwortung, Arbeitsort) eher zu Gunsten der Arbeitgebenden, oder der Arbeitnehmenden gestaltet werden. Gehen Sie eher von den Bedürfnissen der Arbeitgebenden aus, können Sie die finanzielle Sicherheit der Arbeitnehmenden negativ beeinträchtigen und zu Stress führen. Aber auch Formen der Flexibilisierung, die von den Arbeitnehmenden bestimmt werden, können problematisch sein. Die Verantwortungsübertragung auf die Arbeitnehmenden kann zur Aufhebung der Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben beitragen und führt oftmals zu Überstunden.
Eine sinkende Lohnquote: Die Lohnquote, das heisst der Anteil des Volkseinkommens, welcher via Löhne, Renten und Sozialleistungen an die Arbeitnehmenden gezahlt wird, sinkt in der Schweiz seit mehreren Jahren. Es erfolgt also eine stetige Verschiebung der Arbeitsproduktionsgewinne von den Arbeitnehmenden hin zu den Unternehmens- und Vermögenseigner*innen in Form von erhöhtem Kapitaleinkommen. Eine sinkende Lohnquote muss also als Hinweis auf eine sich verschärfende Einkommens- und Vermögensungleichheit gewertet werden. In Bezug auf die Existenzsicherung der Arbeitnehmenden ist dies von zentraler Bedeutung. Bei Forderungen nach einer Reduktion der Erwerbsarbeitszeit muss die Entwicklung der Lohnquote und damit die Verteilung der Arbeitsproduktivitätsgewinne daher zwingend mitberücksichtigt werden.
Die Abhängigkeit der Sozialsysteme von Erwerbsarbeit: Zahlen der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) zeigen, dass rund die Hälfte des Steueraufkommens der öffentlichen Hand auf der Besteuerung von Arbeit basiert, entweder direkt (Einkommenssteuern), oder indirekt (Lohnbeiträge an die Sozialversicherungen). Eine absolute Reduktion der Erwerbsarbeitszeit hätte bei der jetzigen Ausgestaltung der Finanzierung der Sozialsysteme also negative Auswirkungen auf deren Sicherheit. Eine soziale-ökologische Transformation der Erwerbsarbeit muss daher auch zu einer zumindest teilweisen Entkopplung der Erwerbsarbeit von der Existenzsicherung, im Sinne der Abhängigkeit von den Sozialsystemen, führen.
ö k o l o g i s c h e D i v i d e n d e weniger ressourcenintensiver
Konsum
mehr ressourcenleichte Aktivitäten
tieferer ökologischer Fussabdruck
s o z i a l e D i v i d e n d e
höhere Lebensqualität
Zeit für sinnstiftende Aktivitäten höhere Vereinbarkeit von
Verteilung Arbeit und Privatleben Wohlbenden Ökologischer Fussabdruck Zeit- -Verfügbarkeit Einkommen- -Verfügbarkeit Zeiteekt Erwerbs- und Betreuungsarbeit zwischen den Geschlechtern bessere Verteilung der Arbeit in der Gesellschaft Einkommenseekt ö k o n o m i s c h e D i v i d e n d e Verschiebung der Arbeit in ressourcenleichte Sektoren erhöhte Wachstumsunabhängigkeit -Verwendung -Verwendung
Erwerbsarbeitszeit - selbstbestimmte Zeit
Abbildung 1: Wirkungsmechanismen einer Erwerbsarbeitszeitreduktion und mögliche Effekte (Quelle: Eigene Darstellung)
Erwerbsarbeitszeitreduktion als Transformationsstrategie – drei Perspektiven
Die Debatte um die Erwerbsarbeitszeitreduktion unter Akteur*innen der Transformations- und Nachhaltigkeitswissenschaften erfolgt vielfach aus drei verschiedenen Perspektiven, nämlich in Bezug auf deren ökologischen, sozialen und ökonomischen Beitrag. Im Zusammenspiel dieser drei Argumentationsstränge wird meist von einer «dreifachen Dividende» gesprochen, also möglichen positiven Effekten sowohl für Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft. Veränderungen in diesen drei Bereichen haben ihren Ursprung in Veränderungen auf der individuellen Ebene der Arbeitnehmenden und Konsument*innen. Auf dieser individuellen Ebene sind aus unserer Sicht zwei mögliche Effekte einer Erwerbsarbeitszeitreduktion zentral: Einerseits kann eine Veränderung der Einkommenssituation der Arbeitnehmenden erwartet werden (Einkommenseffekt), andererseits verändert sich für sie die Verfügbarkeit von Zeit (Zeiteffekt). Wir starten unsere Betrachtung deshalb mit Annahmen über Veränderungen auf der individuellen Erlebens- und Verhaltensebene aufgrund einer veränderten Erwerbseinkommenssituation (Einkommenseffekt) und einer veränderten Verfügbarkeit von Zeit (vgl. Abbildung 1).
Reduktion des ökologischen Fussabdrucks (ökologische Dividende): Verschiedene Forschungsgruppen haben Studien vorgelegt, welche zeigen, dass Volkswirtschaften mit geringeren Erwerbsarbeitszeiten auch tiefere ökologische Belastungen aufweisen. Eine verkürzte Regelarbeitszeit verringert gemäss diesen Studien den Stoffdurchfluss der wirtschaftlichen Aktivitäten und damit deren ökologischen Auswirkungen. Relevant für eine Reduktion des ökologischen Fussabdrucks ist jedoch nicht nur die absolute Erwerbsarbeitszeit, sondern vielmehr das Zusammenspiel des Arbeitszeit- und Einkommensniveaus, sowie die Art und Weise, wie Menschen die freiwerdende, nicht durch Erwerbsarbeit gebundene Zeit, nutzen. So zeigen Studien, welche die Umweltbelastung individueller Lebensstile in Zusammenhang mit Einkommen und Zeitnutzung untersucht haben, einerseits, dass Menschen mit tieferem Einkommen auch einen kleineren konsumbedingten ökologischen Fussabdruck aufweisen. Andererseits kann mehr Zeit, die nicht für Erwerbsarbeit aufgewendet wird, dazu führen, dass darin ressourcenintensivere Aktivitäten ausgeführt werden und somit zumindest ein Teil des positiven Einkommenseffekts kompensiert wird. Ein ökologischer Effekt auf der individuellen Ebene wird sich vor allem dann einstellen, wenn die freiwerdende Zeit für ressourcen-leichte Aktivitäten (soziale Beziehungen, Weiterbildung, freiwilliges Engagement) und nicht für ressourcenintensive Freizeitaktivitäten genutzt wird.
Erhöhung der Lebensqualität (soziale Dividende): Auch verstärkt hinterfragt wurde in letzter Zeit, in welchem Ausmass Erwerbsarbeit und das damit verbundene Einkommen wirklich die Hauptquelle individuellen Wohlbefindens und damit subjektiv empfundener Lebensqualität ist. Studien zeigen, dass ab einem bestimmten Einkommensniveau zusätzliches Einkommen nur bedingt zu einer Steigerung des individuellen Wohlbefindens führt. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine leichte Einkommenseinbusse bei mittleren und oberen Lohnklassen durch eine Reduktion der Erwerbsarbeitszeit kaum zu Zufriedenheitseinbussen führen würde, solange eine grundlegende Bedürfnisbefriedigung gewährleistet ist. Arbeitslosigkeit, wie auch sehr lange Arbeitszeiten können einen negativen Einfluss auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Betroffenen haben. Jenseits dieser beiden Extreme finden Studien jedoch keinen unmittelbaren Einfluss der Höhe der Erwerbsarbeitszeit auf die Zufriedenheit. Wichtiger sind hier Faktoren wie die Selbstbestimmung über Höhe und Ausgestaltung der Arbeitspensen durch die Arbeitnehmenden, um eine bessere Übereinstimmung von Beruf und Privatleben herzustellen. Die würde zudem eine ausgeglichenere Verteilung der Erwerbs- und Nichterwerbsarbeit zwischen den Geschlechtern ermöglichen. Nicht zuletzt ist für das Wohlbefinden zentral, für welche Aktivitäten die Zeit jenseits der Erwerbsarbeit genutzt wird. Insbesondere das Pflegen romantischer und sozialer Beziehungen, Entspannung und aktive Freizeitgestaltung sind hier zentral. Zeit, welche für den Arbeitsweg aufgewendet werden muss, ist der Zufriedenheit hingegen abträglich. Hier besteht somit eine Wechselwirkung mit der ökologischen Dividende. Während viele zufriedenheitsstiftende Aktivitäten gleichzeitig auch eine geringe ökologische Intensität aufweisen können, ist Pendeln ein Beispiel für eine Aktivität, welche weder der Umwelt noch dem Wohlbefinden zuträglich ist.
Abschwächung des Wachstumsdrucks (ökonomische Dividende): Auch wenn das Ausbleiben von Wachstum aus einer ökologischen Perspektive als positiv bewertet werden kann, stellt es für unser aktuelles Wirtschaftssystem, welches strukturell auf ein ständiges Wachstum ausgerichtet ist, ein Problem dar. Unabhängig von der ökologischen Frage zeigen die letzten Jahre, dass zumindest in den westlichen Ländern nicht mehr mit hohen Wachstumsraten zu rechnen ist und sich die Ära des Wachstums daher dem Ende zuneigen könnte. Das Ausbleiben von Wachstum ist aus heutiger Sicht insbesondere problematisch, da aktuell und zukünftig bei gleichzeitig stetiger Steigerung der Arbeitsproduktivität aufgrund technologischer Weiterent-
wicklung Arbeitsplätze überflüssig werden. Diese werden durch eine stetige Nachfragesteigerung – d.h. Wachstum – erhalten, oder aber durch eine zunehmende staatliche und private Verschuldung. Eine Abkehr von der Wachstumsorientierung und damit einhergehend der Vollbeschäftigung hätte ihrerseits Implikationen für die Finanzierung der Sozialsysteme in ihrer aktuellen Form, wie wir bereits weiter oben dargestellt haben. Vor diesem Hintergrund argumentieren verschiedene Autor*innen, dass eine Erwerbsarbeitszeitverkürzung einen möglichen Beitrag zur Lösung des drohenden Anstiegs der Arbeitslosigkeit aufgrund ausbleibender Wachstumsraten darstellen könnte. Denn eine solche würde eine bessere Verteilung der verbleibenden Arbeit in der Gesellschaft ermöglichen und somit nicht zuletzt den Druck auf die ökologischen Ressourcen verringern. Simulationsmodelle mit kürzeren Arbeitszeiten und strukturellen Anpassungen der Wirtschaft zeigen, dass bei einer Kombination von Treibhausgasreduktionsmassnahmen mit einer Erwerbsarbeitszeitreduktion eine Volkswirtschaft selbst bei tiefem Wirtschaftswachstum funktionieren kann und zugleich innerhalb der planetaren Grenzen verbleibt. In Kombination mit einer aufgrund der Klimaziele notwendigen drastischen Abkehr von fossilen Energieträgern und einer veränderten Besteuerung von Arbeit könnte sich Erwerbsarbeit wieder vermehrt in sogenannte arbeitsintensive jedoch ressourcenleichte Sektoren verlagern, wie die «Service- und Careökonomie», Bildung, Handwerk, biologische Landwirtschaft oder Kultur.
Es bleibt die Frage, wie wir als Gesellschaft eine derartige Transformation gestalten könnten. Wir skizzieren im Folgenden mögliche Ansatzpunkte für eine sozial-ökologische Arbeitspolitik der Schweiz, welche die dreifache Dividende einer Erwerbsarbeitszeitreduktion nutzen könnte:
Kurze Vollzeit für Alle mit abgestuftem Lohnausgleich als Leitbild: Die postulierten positiven Effekte einer Erwerbsarbeitszeitverkürzung basieren grossmehrheitlich auf der Annahme, dass diese Reduktion in Form einer generellen Verkürzung der Regelarbeitszeit für alle umgesetzt wird. Denn nur so könnten sich die dreifachen positiven Effekte nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene vollumfänglich auswirken. Die Forderung nach einer solchen kurzen Vollzeit für alle ist nicht neu, hat aber beispielsweise durch die Umsetzung der IG Metall im Jahr 2019 in Deutschland neuen Aufwind erhalten. Eine breitere Umsetzung in weiteren Branchen scheiterte bisher jedoch zumeist an unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie eine solche finanziert werden könnte.
Wir Autor*innen möchten hier den Kompromiss einer Erwerbsarbeitszeitreduktion mit abgestuftem Lohnausgleich vorschlagen. Gemäss unseren Analysen nimmt ab dem Medianeinkommen 11 die Zufriedenheit mit zusätzlichem Einkommen nicht weiter zu. Gleichzeitig steigt ab dem Medianeinkommen der ökologische Fussabdruck markant an. Basierend auf diesen Erkenntnissen argumentieren wir für eine Arbeitszeitverkürzung mit abgestuftem Lohnausgleich (vgl. Abbildung 2). Arbeitnehmende, die jetzt Vollzeit arbeiten und dabei weniger als den Medianlohn verdienen, könnten einen vollen Lohnausgleich bei geringerer Arbeitszeit erhalten. Sie hätten so zwar das gleiche Einkommen wie zuvor, gleichzeitig jedoch mehr Zeit zur Verfügung, die sie für zeitintensive aber ressourcenleichte Tätigkeiten einsetzen könnten. Arbeitnehmende, deren Einkommen leicht über dem Medianlohn liegt, erhielten einen abgestuften Lohnausgleich, während diejenigen mit den höchsten Einkommen keinen Lohnausgleich erhielten. Auch letztere hätten somit mehr Zeit, gleichzeitig jedoch weniger Geld zur Verfügung, was die ökologischen Kosten ihres Lebensstils beschränken könnte. Ein mögliches Instrument zur Umsetzung und Finanzierung eines abgestuften Lohnausgleichs wäre eine negative Einkommenssteuer, bei welcher Haushalte mit tiefem Einkommen eine Transferzahlung erhielten (negative Steuer). Mit steigendem Einkommen nehmen die Transferleistungen bis zu einem zu bestimmenden Schwellenwert ab. Wer darüber liegt, muss Einkommenssteuern zahlen. Dies funktioniert allerdings nur, wenn genügend bezahlte und existenzsichernde Arbeitsstellen verfügbar sind.
1 Das Medianeinkommen bezeichnet das Einkommen, bei welchem es genauso viele Menschen mit einem höheren wie mit einem niedrigeren Einkommen gibt. Würde die Bevölkerung nach der Höhe ihres Einkommens sortiert und dann zwei gleich grosse Gruppen gebildet, würde die Person, die genau in der Mitte dieser Verteilung steht das Medianeinkommen beziehen.
Treibhausgasemissionen [kg CO2 eq.]
8000
6000
4000
2000
voller Lohnausgleich abgestufter Lohnausgleich
0 40‘000
100‘000 Haushaltsäquivalenzeinkommen
10
9
8
7 Lebenszufriedenheit
6
kein Lohnausgleich
200‘000 5
Abbildung 1: Partieller Lohnausgleich (Quelle: Eigene Darstellung basierend aus Daten aus Bruderer Enzler & Diekmann, 2019, sowie SHP, 2020)
Unterstützende Massnahmen auf dem Weg zu einer kurzen Vollzeit: Wir Autor*innen sehen eine kurze Vollzeit, das heisst eine generelle Reduktion der Erwerbsarbeitszeit für alle, als langfristig sinnvolles Ziel einer sozial-ökologischen Arbeitszeitpolitik. Für deren Umsetzung werden gesetzliche und gewerkschaftliche Regelungen unumgänglich sein, da heute die einzelnen Arbeitnehmenden den Arbeitgeber*innen in ihrer Verhandlungsmacht strukturell unterlegen sind. Der Weg hin zu einer kurzen Vollzeit muss gut vorbereitet werden und alle beteiligten Akteure einbeziehen. Verschiedene Massnahmen, welche wir im Folgenden skizzieren, könnten die aktuell vorherrschenden Arbeitszeitregimes in eine solche Richtung umgestalten und die Bereitschaft für eine kurze Vollzeit erhöhen:
Elternzeit: Der Ausbau des aktuellen Mutterschaftsurlaubs zu einer längeren Elternzeit in Anlehnung an Modelle, wie sie die skandinavischen Länder kennen, stellt eine Form einer bedingungsvollen, befristeten Erwerbsarbeitszeitreduktion bei anteiligem Lohnausgleich dar. Vor dem Hintergrund der Geschlechtergerechtigkeit empfiehlt sich eine gleichwertige Verteilung auf beide Elternteile.
Freistellung für Ehrenamt: Eine andere Variante einer bedingungsvollen Erwerbsarbeitszeitreduktion stellt die Weiterentwicklung von unbezahlten Urlaubstagen, Volunteer-Programmen und Sabbaticals dar, welche an einen bestimmten gemeinwohlorientierten Zweck gekoppelt sind (in Anlehnung an die bereits bestehenden J+S Jugendurlaube). Die Zweckgebundenheit würde die Wahrscheinlichkeit verringern, dass freiwerdende Zeit für unökologische Konsum- und Freizeitaktivitäten genutzt wird. Gemeinwohlorientierte Aktivitäten bergen zudem ein grosses zufriedenheitsstiftendes Potential.
Fokus auf Win-Win Situationen: Mit Win-Win Situationen bezeichnen wir Ansätze, welche sowohl dem persönlichen Wohlbefinden als auch der Umwelt dienen. Hier drängen sich insbesondere Massnahmen der Reduktion der Zeit für Arbeitswege auf, welche meist der Umwelt und dem Wohlbefinden abträglich sind. D.h., Teilzeitregime sollten insbesondere auch zu weniger Arbeitswegen führen. Ähnliche positive Effekte sind von einer Flexibilität zugunsten der Arbeitnehmenden zu erwarten, so dass Arbeitnehmende berufliche und private Anforderungen besser vereinen und koordinieren können.
Lebensqualität und Zeitwohlstand als leitende Indikatoren: Verschiedene Länder verwenden bereits Wohlstandsindizes, welche nicht mehr den rein materiellen Wohlstand, wie er durch das Bruttoinlandprodukt BIP gemessen wird, sondern immaterielle Aspekte der Lebensqualität in den Vordergrund rücken. Ansätze wie in Bhutan und Ecuador verwendet 2 , berücksichtigen explizit auch die Verfügbarkeit von Zeit. Die Einführung der Betrachtung von Zeitpraktiken, also des alltäglichen Umgangs mit der Zeit, in einen Wohlstandsindex kann die Stellung von Teilzeitarbeit in einer Gesellschaft neu beleuchten und den Diskurs über die Bewertung verschiedener Formen von Arbeit befruchten.
2 Bhutan misst seinen Wohlstand anhand von 33 Indikatoren als sogenanntes „Bruttonationalglück“ (http://www.grossnationalhappiness.com/). Ecuador hat, ebenso wie Bolivien, das „Gute Leben“ als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen (Wikipedia: „Buen Vivir“).
Sozialversicherungen und Steuersystem: Auch wenn durch eine kurze Vollzeit Arbeit gerechter in der Gesellschaft verteilt werden kann und somit theoretisch mehr Personen am Arbeitsmarkt teilnehmen, muss davon ausgegangen werden, dass das Gesamtarbeitsvolumen sinkt und damit die Besteuerung von Arbeit weniger Steuereinnahmen für den öffentlichen Sektor erbringt. Ein zukünftiges Steuersystem sollte sich deshalb weg von der Besteuerung von Arbeit hin zu der von Kapital und Ressourcen orientieren. Insbesondere treibhausgasemissionsintensive Luxusgüter und Dienstleitungen sowie bspw. Nitrateinträge müssten höher besteuert werden, um so den Ausfall bei der Besteuerung von Arbeit zu kompensieren. Dadurch würden nicht zuletzt arbeitsintensive aber ressourcenleichte Tätigkeiten (bspw. biologische Landwirtschaft und Reparaturarbeiten) konkurrenzfähiger.
Reale Utopien: Innovative Unternehmen, Organisationen und Branchen experimentieren bereits heute mit zukunftsfähigen Arbeitszeitmodellen. Mit dem Experiment von 6-Stunden Tagen im städtischen Altersheim in Göteborg oder der kollektivvertraglich vereinbarten Freizeitoption in verschiedenen Branchen in Österreich seien hier nur zwei erwähnt. Aus unserer Sicht sind solche Versuche zentral auf dem Weg zu einer sozial-ökologischen Arbeitszeitpolitik. Ihr Potential kann dann optimal genutzt werden, wenn die Erfahrungen evaluiert, reflektiert und zur Verfügung gestellt werden, so dass andere die Ideen aufgreifen und auf ihre Bedürfnisse angepasst adaptieren können.
Schlussfolgerungen
Angesichts der erwähnten zunehmenden ökologischen, sozialen und ökonomischen Probleme erscheint es immer wahrscheinlicher, dass eine Reduktion der gesamtgesellschaftlichen und individuellen Erwerbsarbeitszeit nicht nur einen optionalen, sondern einen notwendigen Teil einer suffizienz-orientierten Transformationsstrategie hin zu einer Nachhaltigen Entwicklung darstellen wird. Die Argumente bezüglich möglicher positiver Effekte einer Erwerbsarbeitszeitreduktion, wie bspw. die Verringerung der Umweltbelastung, die Steigerung des Wohlbefindens, die gleichmässigere Verteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern sowie die Reduzierung des Wachstumsdruckes in der Wirtschaft, liegen vor. Doch während diese positiven Effekte immer besser empirisch belegt werden, besteht ein Forschungs- und Erfahrungsbedarf, wie diese Effekte mittels gesamtgesellschaftlicher Massnahmen umgesetzt werden können. Verschiedenste Formen der Umsetzung einer Erwerbsarbeitszeitreduktion sind denkbar, und in vielen gesellschaftlichen Bereichen würde damit Neuland betreten werden. Vor allem hinsichtlich des Zusammenspiels der angenommenen positiven Effekte besteht Erkenntnis- und Erfahrungsbedarf, um Trade-Offs zwischen den angenommenen positiven Effekten abzuschwächen oder einen konstruktiven Umgang zu finden (siehe Abbildung 3).
soziale Dividende
gerechte Gesellschaft
ökonomische Dividende
funktionierende Wirtschaft klimaneutrale Gesellschaft ökologische Dividende
Abbildung 1: Gestaltungsrahmen einer sozial-ökologischen Arbeitszeitpolitik im Spannungsfeld ökologischer, sozialer und ökonomischer Ziele (Quelle: Eigene Darstellung)
So müssen die Sozialverträglichkeit einerseits und die Reichweite des ökologischen Effekts einer Erwerbsarbeitszeitreduktion andererseits aufeinander abgestimmt werden, damit der eine positive Effekt nicht auf Kosten des anderen geht. Die oben aufgelisteten begleitenden Massnahmen einer Erwerbsarbeitszeitreduktion sind vor diesem Hintergrund essenziell, um zu gewährleisten, dass ein solches Unterfangen sowohl ökologisch, sozial, als auch ökonomisch positive Wirkungen entfaltet. Ob eine Reduktion der Erwerbsarbeitszeit tatsächlich den erwünschten Effekt erzielt und gesellschaftlich akzeptiert wird, hängt also massgeblich von
der konkreten Ausgestaltung ab. Die Erkenntnis, welche Umsetzungsformen die Richtigen sind, bedingt jedoch nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern vor allem einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess.
Bei aller Tragik verdeutlicht die gegenwärtige Corona Pandemie aber auch in eindrücklicher Weise, dass wir als Gesellschaft die Fähigkeit besitzen, in umfassender Weise auf Krisen zu reagieren und radikale Veränderungen in kurzer Zeit umzusetzen. Die Corona Krise könnte ein Gelegenheitsfenster für eine tiefgehende sozial-ökologische Transformation unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems bieten. Wir hoffen mit dem vorliegenden Arbeitspapier, einen Beitrag zur Debatte eines Alternativentwurfs einer funktionierenden Wirtschaft in einer gerechten und klimaneutralen zu leisten.