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Arbeiten in der Schweiz – aktuelle Herausforderungen
Arbeiten in der Schweiz – aktuelle Herausforderungen
In der Schweiz werden jährlich rund 8 Milliarden Erwerbsarbeitsstunden geleistet. Die wöchentliche Normalarbeitszeit in der Schweiz ist seit 2003 stabil bei knapp 42 Stunden. Damit führt die Schweiz zusammen mit Island die europäische Rangliste für die höchsten Erwerbsarbeitszeiten an. Anders sieht es aus, wenn die wöchentliche Arbeitszeit von allen Erwerbstätigen betrachtet wird (35,5 Stunden), denn der Anteil von Teilzeiterwerbstätigen ist im Vergleich mit anderen Ländern hoch. Eine detaillierte Analyse dieser Erwerbstätigen zeigt auch grosse Unterschiede zwischen den Geschlechtern, Bildungs- und Einkommensklassen. Der bezahlten Arbeit steht die unbezahlte Arbeit (Hausarbeit, Betreuungsarbeit und Freiwilligenarbeit) gegenüber, welche, gemessen in Anzahl geleisteter Stunden, die geleistete Erwerbsarbeit übertrifft. Eine genauere Analyse zeigt, dass die unbezahlte Arbeit mehrheitlich von Frauen geleistet wird. Der folgende Abschnitt präsentiert die aktuelle (Erwerbs)Arbeitssituation und versucht, mögliche Trends zu beschreiben, unter anderem der steigende Wunsch nach weniger Arbeit und mögliche Auswirkungen davon. Beispielsweise sind die Schweizer Sozialwerke aktuell mehrheitlich durch Lohnbeiträge finanziert, was bedeutet daher eine Erwerbsarbeitsreduktion für die Schweizer Sozialwerke?
2.1
Bezahlte Arbeit
In der Schweiz waren im dritten Quartal 2019 etwas mehr als 5 Millionen Personen erwerbstätig. Insgesamt waren 35% der Erwerbstätigen in Teilzeitarbeit beschäftigt. Lediglich die Niederlande weisen eine höhere Teilzeitquote auf (50,1%). Der Durchschnitt der EU28 ist mit 19,2% wesentlich tiefer. Auffällig sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern hinsichtlich Teilzeitarbeit. Während der Anteil bei beiden Geschlechtern in den 26 Jahren zwischen 1991 und 2018 ähnlich gestiegen ist, nämlich um neun bis zehn Prozentpunkte, lassen sich stark ausgeprägte Niveauunterschiede erkennen, denn 2018 waren 60% der Frauen in Teilzeit beschäftigt, während bei den erwerbstätigen Männern nur 15% einer Teilzeitbeschäftigung nachgingen (BFS 2019). In Europa sind nur in den Niederlanden anteilsmässig mehr Frauen in Teilzeit beschäftigt als in der Schweiz (76%). Die Diskrepanz zwischen Männern und Frauen bei der Teilzeitarbeit ist eine der grössten weltweit. Eine Studie der Forschungsstelle Sotomo zum Thema «Wunsch und Wirklichkeit» (2019) ergab zudem, dass die Zahl der Teilzeit arbeitenden Männer bei der Geburt eines Kindes zurückgeht. Dementsprechend wurde die Geschlechterungleichheit in der Schweiz vom britischen Magazin The Economist als eine der grössten Europas eingestuft (The Economist 2018).
2.2
Unbezahlte Arbeit
Mit unbezahlter Arbeit sind Tätigkeiten gemeint, die nicht entlohnt werden, theoretisch jedoch durch eine Drittperson gegen Bezahlung ausgeführt werden könnten. Das Bundesamt für Statistik (BFS) erfasst mit dem Satellitenkonto Haushaltsproduktion (SHHP) die volkswirtschaftliche Bedeutung der unbezahlten Arbeit. So wurden 2016 in der Schweiz 9,2 Milliarden Stunden unbezahlt gearbeitet (vgl. Abbildung 2. 1). Im Vergleich dazu wurden 7,9 Milliarden Stunden von der Gesamtbevölkerung bezahlt gearbeitet. Die Hausund Familienarbeit (ohne Betreuungsaufgaben) machten 7,1 Milliarden Stunden aus (77%). Der fiktive Geldwert der unbezahlten Arbeit, gerechnet mit durchschnittlichen Arbeitskosten nach Berufsgruppen, wird für das Jahr 2016 auf 408 Milliarden Franken geschätzt. Alternative Arbeitskonzepte, oft auf der feministisch orientierten Arbeitsforschung basierend (Littig 2016), kritisieren die geschlechtshierarchische Trennung von produktiver und reproduktiver Sphäre. Während bezahlte Arbeit als produktiv gilt, erfahren unbezahlte Tätigkeiten oft nur wenig Beachtung und Wertschätzung, obwohl diese bezahlte Arbeit in der ökonomischen Sphäre mehrheitlich erst möglich machen. Basierend auf dieser Kritik fordern verschiedene Ansätze, den Arbeitsbegriff so auszuweiten, dass er sich am Erhalt natürlicher Reproduktionsprozesse und der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse orientiert. Für die Schweiz lässt sich somit insgesamt festhalten, dass die Arbeitslosigkeit geringer ist als im europäischen Vergleich, die Normalarbeitszeit verhältnismässig zu den höchsten Europas gehört, aber gleichzeitig ein grosser Anteil insbesondere von Frauen Teilzeit arbeitet, um die hohe Anzahl unbezahlter Arbeitsstunden zu leisten, die im Haushalt sowie in der Betreuung von Kindern und Älteren anfällt. Eine kürzere Normalarbeitszeit könnte somit möglicherweise dazu beitragen, die ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zu mildern und so zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beitragen.
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