CDE Working paper: Weniger ist mehr – der dreifache Gewinn einer Reduktion der Erwerbsarbeitszeit

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Weniger Arbeiten als zentraler Bestandteil einer s­ ozial-ökologischen Transformation

1 Weniger Arbeiten als zentraler Bestandteil einer ­sozial-ökologischen Transformation Unser aktuelles Wirtschafts- und Gesellschaftssystem steht vor der grossen Herausforderung eines tiefgreifenden und grundlegenden Wandels. Auch wenn sich aktuell die öffentliche Aufmerksamkeit auf die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie richtet, darf nicht vergessen gehen, dass sich bereits zuvor vielfältige Krisenphänomene ankündigten– insbesondere das Überschreiten der ökologischen Grenzen der Tragfähigkeit des Planeten (u.a. Rockström 2009; Steffen 2018), die steigende Ungleichheit (Wilkinson and Pickett 2010; Atkinson 2015; Hickel 2017), die sich verselbständigte Finanzwirtschaft (Deutschmann 2008; Jackson 2017) sowie das zunehmend beobachtbare Überschreiten von psychischen Grenzen, u.a. durch die Beschleunigung der individuellen Lebenswelt (Rosa 2016), um nur die Wichtigsten zu nennen. Beim Übergang von der vorindustriellen Gesellschaft zur Industriegesellschaft hat sich die Rolle und Bedeutung der Arbeit grundlegend verändert. Wir Autor*innen sind davon überzeugt, dass auch im Übergang von der heutigen nicht-nachhaltigen in eine nachhaltige Gesellschaft eine Neugestaltung der Arbeitswelt und Neugewichtung der Erwerbsarbeit nötig sein wird (Seidl and Zahrnt 2019). Arbeit ist in verschiedenen Hinsichten zentraler Bestandteil menschlichen Lebens. Ein zukünftiges Wirtschafts- und Gesellschaftssystem muss auf der Anerkennung dieser Vielfalt relevanter Funktionen von Arbeit sowie einer besser ausbalancierten Gewichtung von bezahlter und unbezahlter Arbeit aufbauen. Heutzutage wird der Begriff Arbeit üblicherweise immer noch mit bezahlter Erwerbstätigkeit in einem Normalarbeitsverhältnis mit sozialer Absicherung assoziiert. Dieses Verständnis entstand im Übergang von der vorindustriellen häuslichen Familienwirtschaft zur arbeitsteiligen Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert, in der fortan nur ausserhäusliche bezahlte (meist männliche) Arbeit als solche galt (Komlosy 2019). Als Folge wurden andere (meist weiblich ausgeübte) Tätigkeiten wie Eigenarbeit und Sorgetätigkeiten entwertet. Die heutige zentrale Rolle von Erwerbsarbeit beruht auf vier Funktionen: (1) Erwerbsarbeit sichert das individuelle Einkommen, (2) sie verleiht soziale Anerkennung, (3) bildet eine wesentliche Anspruchsgrundlage für Sozialversicherungssysteme und (4) die gleichberechtigte Einbeziehung der Menschen in das Gemeinwesen ist an sie gebunden (Senghass-Knobloch 1998: 11ff.). Inwiefern diese vier Funktionen durch die heutigen Formen bezahlter Erwerbstätigkeit noch sinnvoll erfüllt werden, lässt sich streiten. So plädieren verschiedene Autor*innen dafür, die Beziehung zwischen Arbeit und Privatleben neu zu denken und zu gestalten. Juliet Schor (2016) schlägt beispielsweise einen neuen Rhythmus zwischen Arbeit, Konsum und Alltagsleben vor und plädiert für maximal vier Tage Erwerbsarbeit. Frigga Haug (2011) macht sich für eine «Vier-in-Einem»-Perspektive stark und fordert Gerechtigkeit bei der Verteilung von Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesensarbeit und Entwicklungschancen. Dabei argumentiert Haug, dass wir nicht zu wenig Arbeit haben, sondern darin geradezu ersticken. Die meisten notwendigen Tätigkeiten der Gesellschaft würden nicht oder nur zu wenig wahrgenommen, da sie keinen Profit brächten. Um unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in einen nachhaltigen “safe and just space» für alle zu lenken (Raworth, 2017, S.11), werden international wie auch national verschiedene Lösungswege diskutiert, wobei das Hauptaugenmerk bisher mehrheitlich auf Effizienz- und Konsistenzstrategien lag. Effizienz beschreibt eine ergiebigere Nutzung von Materie und Energie beispielsweise durch verbesserte Technologie, durch Organisation oder durch Wiederverwendung. Konsistenz richtet sich aktuell auf naturverträgliche Technologien, die die Stoffe und die Leistungen der Ökosysteme nutzen, ohne sie zu zerstören beispielsweise durch eine nachhaltige Nutzung erneuerbarer Ressourcen sowie geschlossene Ressourcenkreisläufe. Immer mehr kritische Stimmen bezweifeln jedoch, dass diese beiden Strategien ausreichen werden, um unser Konsumieren und Wirtschaften in nachhaltige Bahnen zu lenken. Nicht zuletzt verhindern Rebound-Effekte, dass das Einsparpotenzial technischer Effizienzsteigerungen vollständig erreicht wird. So gibt es inzwischen fast alle Haushaltsgeräte in energiesparenden A+++-Varianten. Unsere Forschung hat jedoch gezeigt, dass jene Haushalte, die Energiespargeräte besitzen, über eine höhere Anzahl Haushaltsgeräte verfügen und damit das Einsparpotenzial der energiesparenden Geräte durch den Mehrkonsum verpufft (Moser and Kleinhückelkotten 2018). Zudem ist es aufgrund des strukturellen Wachstumszwangs unserer aktuellen Gesellschaft (Binswanger 2019) fragwürdig, ob wir es jemals schaffen, mit Effizienz- und Konsistenzstrategien unsere Wirtschaft aufrecht zu erhalten, während wir gleichzeitig die Belastung der Umwelt senken. Daher ist eines der dringlichsten Ziele einer nachhaltigen Entwicklung eine umfassendere Umgestaltung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, so dass diese innerhalb der planetaren Grenzen funktionieren (Frischknecht et al. 2018;

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