PB 5569 – Ravel, Le Tombeau de Couperin

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PB 5569

Breitkopf & Härtel

Partitur-Bibliothek

Ravel

LE TOMBEAU DE COUPERIN

Suite d’Orchestre

Suite für Orchester

Suite for Orchestra

Studienpartitur

Study Score

Partition d’étude

MAURICE RAVEL

1875–1937

LE TOMBEAU DE COUPERIN

Suite d’Orchestre

Suite für Orchester

Suite for Orchestra

herausgegeben von | edited by | éditée par Jean-François Monnard

Studienpartitur | Study Score | Partition d’étude

Partitur-Bibliothek 5569 Printed in Germany

Vorwort

Der Erste Weltkrieg ist für Maurice Ravel ein furchtbarer Schock. Eine Welle des musikalischen Nationalismus hält in Frankreich Einzug. Von Sorgen angetrieben, schafft es Ravel nach zahlreichen Behördengängen im September 1916, als Lastwagenfahrer in der Fuhrpark-Abteilung von Châlonssur-Marne eingeteilt zu werden. Aber er wird krank, und als er am 5. Januar 1917 auf Genesungsurlaub nach Paris zurückkommt, stirbt seine geliebte Mutter. Über ihren Tod ist Ravel untröstlich. Aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert, kehrt er in das zivile Leben zurück und wird von Mme Fernand Dreyfus, seiner Kriegspatin, aufgenommen. Hier im Haus „Frêne“ in Lyons-La-Forêt, komponiert er Le Tombeau de Couperin, dessen Sätze er jeweils einem im Krieg verschollenen Freund widmet. Ravel greift dafür jedoch auf Entwürfe zurück, die er schon im Juli 1914 in St-Jean-de-Luz begonnen hatte. In einem ziemlich lustigen Brief an Cipa Godebski berichtet er tatsächlich von einer Forlana, an der er gerade arbeite; es handele sich dabei um einen von der Kirche als Tango verdammten „lasziven und die Moral beleidigenden Tanz“. „Ich schufte für den Papst [Pius X.]. Sie wissen, dass diese erhabene Persönlichkeit […] gerade einem neuen Tanz zum Erfolg verhilft: der Forlana. Ich übertrage eine von Couperin. Ich werde mich darum kümmern, sie im Vatikan von Mistinguett und Colette Willy als Transvestiten tanzen zu lassen.“1 Wie die Forlanas von Ponchielli in La Gioconda (1876) und von Mascagni in Le Maschere (1901) zeigen, war das Genre keinesfalls tot.

Im Juli 1917 macht das Werk große Fortschritte, und Ravel kündigt Jacques Durand ein Menuett und ein Rigaudon an mit der Bemerkung, „der Rest zeichnet sich ab“.2 Letztendlich wird dieses Werk, das letzte, das er für Klavier komponierte, sechs Sätze enthalten: Prélude, Fugue, Forlane, Rigaudon, Menuet, Toccata. Manuel Rosenthal zufolge hatte Ravel zu diesem Zeitpunkt noch darüber nachgedacht, der Suite einen weiteren Satz hinzuzufügen, der Le Rossignol indifférent [Die ungerührte Nachtigall] heißen sollte.3 In einem Gespräch mit Juan del Brezo aus Madrid äußerte Ravel jedoch, er hätte dabei eher an eine gleichgültige Grasmücke gedacht oder, wie er es in seinen Briefen ausdrückt, an „die Vögel, die sich trotz der nahen Schlachten nicht von ihrem melodiösen Gesang abbringen lassen …“4 Der Plan zu diesem Satz, in dem sich Assoziationen an Ravels Kriegserlebnisse im Mai 1916 widerspiegeln, wurde jedoch nie konkretisiert. Das Autograph der originalen Klavierfassung ist am Ende der Toccata mit „Juli 1914 und Juni–November 1917“ datiert. Die Premiere wird immer wieder aufgeschoben. Der Komponist ist beunruhigt und befragt Lucien Garban am 27. Januar 1919: „Darf ich die Hoffnung haben, dass der Tombeau de Couperin eines Tages aufgeführt wird?“5 „Ich werde Mme Long schreiben und sie zur Eile anhalten.“6 Dies tut er am 23. Februar: „Ich muss Ihnen leider zu Last fallen: beeilen Sie sich mit dem Tombeau, wenn es Ihnen Ihre Gesundheit erlaubt! Ich erhielt letztens das Programm eines Schülervorspiels von Mme … ich habe das Papier verlegt: sie hat einen Doppelnamen. Eine der Schülerinnen hat da die Toccata gespielt, was wenig zu sagen hat und nicht als Premiere zählen kann. Aber jetzt schreibt man mir, dass Rissler [sic], den ich gebeten hatte, die Aufführung meiner Suite zu verschieben, dabei ist, sie sich zu erarbeiten. Das ist wirklich bedenklich, denn er wird mich vielleicht nicht einmal mehr um meine Meinung fragen. Beruhigen Sie mich mit einem Wort, ich bitte Sie, wenn es Ihnen möglich ist?“7 Der große französische Pianist Édouard Risler (1873–1929) führte allerdings Le Tombeau de Couperin in seinem Recital im Théâtre des Mathurins offenbar nicht vor Mitte Februar 1920 auf. Die Uraufführung der Klavierfassung des Werks fand bereits am 11. April 1919 statt. Ravels Wunsch entsprechend lag sie in den Händen von Marguerite Long, der Witwe des Widmungsträgers der Toccata, des Kapitäns Joseph de Marliave. Bei diesem 51. Konzert der Société Musicale Indépendante war auch der Komponist anwesend. „Dies war seit dem Krieg der erste Auftritt [Ravels] in der Öffentlichkeit“, schreibt Long, „des Komponisten, der nach Debussys Tod vor kurzem als unbestrittener und ruhmreicher Repräsentant unserer Musik gilt. Im Saal forderte jeder das Stück seiner Wahl als Zugabe. Schließlich habe ich sie alle nochmals gespielt.“8

Im Juni 1919 beginnt Ravel mit der Orchestrierung der Suite, mit Ausnahme von Fugue und Toccata, deren Schreibweise ihm allzu klavieristisch vorkam, zudem ändert er die Reihenfolge der Sätze, die nun mit einem schwungvollen Stück enden: der Rigaudon. Dem Dirigenten Rhené-Baton ist die erste konzertante Aufführung der Orchester-Suite zu verdanken, die am 28. Februar 1920 in den Concerts Pasdeloup stattfindet. In einer Choreografie von Jan Börlin und Rolf de Maré präsentieren die Ballets suédois im Théâtre des Champs-Élysées eine getanzte Version der Forlana, des Menuetts und des Rigaudons. Die Aufführung findet am 8. November 1920 unter der musikalischen Leitung von Désiré-Émile Inghelbrecht statt und enthält noch ein weiteres Ballett, die Maisons de fous von Viking Dall, das aber schlecht ankommt. Dank Ravel wird dieser Ballettabend gleichwohl 167 Mal aufgeführt. Bei der 100. Aufführung am 15. Juni 1921 steht Ravel selbst am Dirigierpult. 1928 hat er noch die Gelegenheit, den Tombeau de Couperin in den USA zu dirigieren, nämlich in Chicago, im Februar 1931 während eines Festivals mit seinen Werken als Leiter des Orchestre symphonique de Paris und dann 1932 im Rahmen einer Europa-Tournee. Le Tombeau de Couperin gehört übrigens zu den Werken, die Ravel oft in seinen eigenen Klavier-Recitals ins Programm nimmt.

Pierre Lalo berichtet in Le Temps über Ravels Ballett und findet „die Orchestrierung charmant, einfach und unaufwändig, gleichzeitig aber auch äußerst geistreich, fein und gekonnt. Jede Klangfarbe, jede Nuance der Instrumente erzielt genau seine Wirkung: man kann es nicht besser machen. Dieser Tombeau de Couperin, mit stellenweisen Anklängen an Chabrier, aber eines spröden Chabriers ohne dessen Klangfülle, wie auch mit Anklängen an Fauré, aber eines Faurés ohne dessen Poesie, hat im Übrigen im Orchester viel mehr Charme als am Klavier: die Raffinesse der Instrumentierung kaschiert dessen Sprödigkeit und verleiht den kleinen, etwas fratzenhaften und erstarrten Grazien, die Ravels Kunst eigentlich nicht ebenbürtig sind, Leben und Beweglichkeit.“ Lalos Bericht endet mit einer bissigen Bemerkung, die bezeichnend ist für die Beziehung des Kritikers zum Komponisten: „Le Tombeau de Couperin von Maurice Ravel, das ist hübsch. Aber wie viel hübscher wäre ein Tombeau de M. Ravel von Couperin!“9 Den Verlagsunterlagen von Durand zufolge erhielt Ravel für das Klavierheft (am 24. Dezember 1917) 6.000 Francs und für die Orchester-Suite (am 18. Juli 1919) 4.000 Francs.

Man könnte versucht sein, den Tombeau mit der etwa zeitgleich entstandenen Symphonie classique zu vergleichen, in der Prokofjew mit Menuett und Gavotte flirtet oder etwa mit Max Regers 1912 komponiertem Konzert im alten Stil in Form eines Concerto grosso, das sich am Vorbild der Brandenburgischen Konzerte von Bach orientiert. Trotz aller Gemeinsamkeiten zielen Ravels Intentionen jedoch in eine etwas andere Richtung. Le Tombeau de Couperin präsentiert sich als Folge von alten Tänzen und „wendet sich eigentlich weniger an Couperin selbst, als an die französische Musik des 18. Jahrhunderts“, wie es der Komponist in seiner autobiographischen Skizze präzisiert.10

Zur selben Zeit, in der Debussy für die erste Serie der Images (1906) seine Hommage à Rameau komponiert, ein Stück in ziemlich freier Schreibweise „im Stil einer Sarabande“, unterwirft sich Ravel den Regeln der Schule Couperins, den er im Übrigen Rameau vorzieht. Ravel liebt es, sich unterzuordnen und in andere Personen zu schlüpfen. Für einen einfallsreichen Geist wie ihn war es eine Möglichkeit, auf klassische Formen zurückzugreifen und sie neu zu erfinden. Die musikalische Gattung des „Tombeau“ [von le tombeau = Grabmal] hatte ihre Blütezeit in der barocken Epoche; Couperin selbst komponierte „Apotheosen“ zu Ehren Lullys und Corellis. Derartige Gedächtnismusiken bringen eine nostalgische Sehnsucht nach einer fernen und verlorenen Welt zum Ausdruck, ein Gefühl, das Ravel gut kannte. Seine Vorliebe für den Reiz des Archaischen spiegelt sich auch in seiner Musik wider. In der Tat nimmt Ravels Tombeau „Bezug auf ‚modale‘ Seiten, auf das ‚alte Frankreich‘, vergessene Tänze, volkstümliche Themen, naive Lieder, Geschichten, die so traurig sind wie verwelkte Rosen …“11 Vergleichbares findet sich in Le Menuet antique, dem Menuett der Sonatine und dem Menuet sur le nom de Haydn, ebenso in den Trois chansons für Chor a cappella, die die Renaissance direkt anklingen lassen, und in dem hinreißenden Lied Ronsard à son âme, das Ravel als „Tombeau“

zum 400. Geburtstag des französischen Dichters Pierre de Ronsard in der Revue musicale veröffentlichte. Alle diese Stücke haben wenig gemeinsam mit einem solchen Pasticcio wie den beiden zweisätzigen Klavierstücken À la manière de…, in dem Ravel einen slawischen Walzer von Borodin nachahmt und Siebels Lied aus Gounods Faust paraphrasiert, wie es vielleicht Chabrier komponiert hätte. Bemerkenswert auch Ravels Beitrag in einer dem Gedächtnis Debussys gewidmeten Sondernummer der Revue musicale vom Dezember 1920. Unter dem Titel Duo findet sich darin der erste Satz seiner Sonate für Violine und Violoncello.

Ravel beherrscht die Kunst der Miniatur, er entdeckt die Welt im Kleinen und knüpft gleichzeitig an die Tradition des 18. Jahrhunderts an: die Reinheit der Linien, die Klarheit der Architektur, die Ordnung in der Form, die Transparenz und Anmut des Stils, die Lebhaftigkeit des Ausdrucks, die Zusammenstellung komplementärer Tonarten (Prélude wie auch Toccata in e-moll – Menuett in G-dur). Alles ist wohldosiert, die Proportion ausgewogen. Ravels Kunst ist luzide und klar. Manuel de Falla bewunderte Ravels melodische Phrasierung, er fand sie „vom Gefühl her so französisch mit ihrer speziellen Physionomie und einer Vorliebe für gewisse Intervalle, an denen zu erfreuen uns das Klavier auffordert.“12 „Das Besondere an Ravel“, so Boulez, „ist dessen geniale Fähigkeit zur Konturierung; sie bewirkt, dass man seine Themen nicht vergessen kann.“13 Ravel legt großen Wert auf eine sorgfältig gezeichnete sangliche Melodik. Bezeichnend ist auch seine Vorgehensweise beim Komponieren, er feilt seine Werke bis ins Letzte aus, benutzt häufig Mordente. „Welche technische Einfallsgabe in allen Registern des Klaviers! Welch harmonische Kühnheiten! Akkordgirlanden, die sich chromatisch um einen perfekten Akkord drehen. Nicht zu vergessen die keuschen Gefühle, die Ravel durch neutrale Septen oder Nonen evoziert.“14

Das Prélude kommt als ein kleines Sonaten-Allegro daher, es ist auf einer Dreiklangsfigur aufgebaut und erinnert an „das Drehen der Spindel einer Näherin“.15 Das Anfangsmotiv wiederholt sich achtmal in den ersten 13 Takten! Auf geschickte Art und Weise werden hier die verschiedensten Puzzleteile aneinandergereiht und zueinander in Beziehung gebracht. Der ornamentale Stil der Forlana geht unmittelbar auf Scarlatti zurück, und Cortot hat Recht, wenn er auf ihre Raffinesse, sowohl was die Nonchalance des Rhythmus als auch die Mehrdeutigkeit der Harmonien betrifft, aufmerksam macht.16 Die Forlana nimmt Bezug auf ein existierendes Vorbild, das Concert royal Nr. 4 von Couperin, ohne es jedoch zu zitieren. Ravel hatte dessen Werke am Klavier studiert. Wanda Landowska zufolge scheint er eine besondere Vorliebe für den Arlequine gehabt zu haben. In der Forlana findet sich die ganze harmonische Finesse wieder, die für Ravels Kunst so charakteristisch ist. Schon in den ersten Takten taucht der Pelléas-Akkord mit der Quinte A–e im Bass auf, der in einen Undezimakkord mündet und ein Gefühl von Bitonalität (Gis-dur auf A-dur) vermittelt. Zu erwähnen sind auch die ungewohnten Harmoniefolgen in den Takten 140–148, die mit kühnen Dissonanzen überraschen; wie Marguerite Long berichtet, hielt sich Camille Chevillard bei dieser Passage die Ohren zu!17 Der dritte Satz, ein Menuet, hat Ähnlichkeiten mit dem Menuet sur le nom de Haydn. Olivier Messiaen zufolge klingen im Thema gregorianische Intonationen an, es ist inspiriert von Porrectus-Neumen (einer Dreitongruppe mit der Tonfolge hoch-tief-hoch). Der Satz ist der Menuetform entsprechend dreiteilig. Er gliedert sich in achttaktige Gruppen, deren erste Phrase in der Reprise um eine Oktave hochtransponiert ist und mit dem Thema des Mittelteils, einer Musette, dialogisiert. Die Musette ist von unerwartetem Ernst. Ravel reiht hier raffinierte Dreiklangs-Akkordfolgen aneinander. Die Suite endet in C-dur mit einem etwas schalkhaften dreiteiligen Rigaudon, grundiert von einer Spieldosenmusik, so wie Ravel sie hörte, denn er war verliebt in diese Spielzeuge, die er sammelte. Im Zentrum des Rigaudon steht ein pastorales Dudelsack-Motiv mit dörflichen Charakterzügen. Dieser Tanz, der eine provenzalische Atmosphäre ausstrahlt, stammt aus Südfrankreich. Der Satz weist ebenfalls Bezüge zu Couperin auf, und zwar zu Premier tambourin aus dem Concert royal Nr. 3.

Die Liste der Klavierwerke, die Ravel nachträglich orchestrierte, ist lang. Das Anfertigen von Transkriptionen für Orchester schätzte er sehr; es eröffnete ihm die Möglichkeit, erneut in einen

schöpferischen Prozess zu treten, vor allem, wenn die Instrumentierung viel später erfolgte, wie bei dem Menuet antique, der Pavane und Alborada del gracioso. Andere Werke dagegen orchestrierte er unmittelbar nach der Komposition der Klavierfassung, wie Une barque sur l’océan, Ma mère l’Oye, Valses nobles und Tombeau de Couperin. Émile Vuillermoz betont, es sei „das Privileg von Ravel, uns immer den Eindruck zu geben, spontan fürs Orchester zu schreiben. Über einen anderen Autor könnte man sagen, er habe Ma mère l’Oye, Valses nobles oder Tombeau ‚instrumentiert‘. Aber beim Hören dieser drei Werke hat man ganz klar den Eindruck, dass sie schon auf 32 Systemen notiert Ravels Kopf entsprungen sind. Nirgends ist zu spüren, dass es sich um eine Adaptation oder Bearbeitung handelt: die Note wird Klang.“18 Für André Suarès bedeutet das umgekehrt: „Ravel schreibt immer den Ton, nie die Note.“19

Ohne Zweifel ist Ravel, wie auch Strawinsky, ein großer Orchestrator, der neben eigenen Werken auch zahlreiche Werke anderer Komponisten orchestriert hat. Zu nennen wären hier eine verschollene Bühnenmusik aus Rimskij-Korsakows Antar (Monte Carlo 1910), Auszüge aus Mussorgskijs Chowanschtschina (1913 in Zusammenarbeit mit Strawinsky für die Ballets russes) und Saties Prélude pour le fils des étoiles (1911). Auf Anfrage von Nijinsky orchestrierte Ravel außerdem Les Sylphides nach Musik von Chopin sowie vier Stücke aus Schumanns Carnaval (London 1914), etwas später auf Ersuchen Diaghilevs das Menuet pompeux von Chabrier (London 1919) und 1922 waren es schließlich Debussys Sarabande und Danse (steirische Tarantella), die Ravel zu einer Orchestrierung anregten. Als vorbildlichste seiner Bearbeitungen muss natürlich die Orchestrierung von Mussorgskijs Bilder einer Ausstellung (Paris 1922) genannt werden.

Durch die Orchestrierung gewinnen die vier Sätze des Tombeau sicherlich an Gefühl, die schillernden Pastelltöne der Holzbläser und ihre gleitenden Dissonanzen lassen die harmonische Struktur durchsichtig erscheinen. Bewunderung verdienen auch der Reichtum an Klangfarben und ihre subtile Verbindung. Das von Ravel genutzte Instrumentarium entspricht in etwa einer Mozart-Besetzung. „Durch extreme Strenge und Schlichtheit erzielt Ravel hier eine Transparenz, eine Farbenvielfalt innerhalb der Einheit, also mithin eine Geschlossenheit, die den brillantesten Erfolgen seiner Virtuosität als Orchestrator ebenbürtig ist, diese vielleicht sogar übertrifft.“20

Wie häufig bei Ravel, bringt die Orchestrierung kleine Unterschiede mit sich. Dies ist besonders in der Forlana der Fall, wo die Artikulation des Refrains in den ersten Violinen „hüpfender“ als in der Klavierfassung ist, in der Ravel keinen einzigen Staccato-Punkt gesetzt hat und sich mit einer gebundenen Phrasierung zufriedengab. Im Menuett ändert Ravel in Takt 22 die Dynamik: In der Partitur notiert er zur dritten Zählzeit p, während die Klavierfassung ein durchgehendes Crescendo suggeriert. In den ersten Takten des Rigaudon verstärkt er die Basslinie, in der Klavierfassung meistens im Hintergrund, durch Pizzicati. Auch bei den Tempi gibt es Änderungen. Überraschend seine Korrektur des Tempos im Menuett (Allegro moderato), von 5 = 92 auf 5 = 120. Zum Rigaudon (Assez vif), das im Original keine Metronomangaben aufweist, notiert er 5 = 120. Innerhalb der Suite lassen sich die vier Sätze dadurch vom Tempo her in zwei Gruppen gliedern. Was die Interpretation betrifft, sind die wertvollen Kommentare Vlado Perlemuters unverzichtbar, der noch das Privileg hatte, mit Ravel zu arbeiten. Daraus geht hervor, dass der Beginn des Prélude „äußerst deutlich und klar“ sein soll, „sehr lebhaft, aber, wie immer bei Ravel, ohne Hast.“ Seine Anmerkung zur punktierten Achtelnote im ersten Takt der Forlana, die seiner Meinung nach keine Schwerfälligkeit duldet, findet leider nicht immer die nötige Beachtung: „nur ein leichtes Zögern vor der zweiten Zählzeit.“ Zur Forlana merkt Perlemuter an, Ravel habe „Wert auf alle Wiederholungen gelegt“. Das Menuett sollte „in flüssiger Bewegung“ gespielt werden, „ohne jegliche Schwere und immer mit den Vorschlagsnoten auf der Zählzeit … die Musette im gleichen Tempo und die folgende Episode [T. 49ff.] mit weit ausholender Bewegung.“ Die Oboenmelodie im Rigaudon müsse „ohne Nuancen“ gespielt werden, da Ravel der Ansicht gewesen sei, die Kontinuität der Melodie genüge sich selbst.21

Wenn Dirigenten sich zum ersten Mal mit dem Tombeau de Couperin auseinandersetzen, stolpern sie häufig über die Tempobezeichnung, die zu Beginn für die Oboe vorgeschrieben ist. Dazu bemerkte Ravel ironisierend: „Selbst wenn ich überhaupt nichts hingeschrieben hätte, würde es auf das Gleiche hinauslaufen: Der Oboist kann es nicht anders spielen. Wenn er zu langsam ist, fehlt ihm der Atem, und er kommt nicht durch. Infolgedessen nimmt er das einzige Tempo, in dem er diese Sintflut an Noten überhaupt spielen kann. Es ist an ihm, die kleinen Klangnuancen hinzuzufügen, die diesen Beginn leichter spielbar machen, aber man kann ihnen nichts anderes sagen: sie müssen halt anfangen und so spielen, wie sie können, das ist alles.“22 Etienne Baudo, ehemaliger Solooboist und Englischhornist an der Pariser Oper und im Orchestre Lamoureux, räumte ein, dass das Werk in den 30er-Jahren als „unspielbar galt“.23 Inzwischen hat die Musik von Ravel zweifellos die instrumentale Technik vorangebracht.

Le Tombeau de Couperin erfordert vom Spieler die Fähigkeit, fantasievoll mit der nur angedeuteten Gliederung umzugehen, um fade Gleichförmigkeit zu vermeiden. Es kommt darauf an, die Verzierungen zur Geltung zu bringen, den Ornamenten all ihren Reiz zu geben, ohne den Fluss zu unterbrechen. In dieser Hinsicht sind die historischen Aufnahmen von Vlado Perlemuter (1955 und 1977) an erster Stelle zu nennen. Ihnen ebenbürtig sind die Aufnahmen von Jacques Février (1971), dessen feiner Anschlag und beinahe cembalohaft kultivierter Stil fast einem Wunder gleicht. Marguerite Long hat den Tombeau leider nicht aufgenommen, und von Ricardo Viñes existiert überhaupt keine Ravel-Aufnahme. Aber es gibt andere Pianisten, deren Zeugnis wichtig ist, weil sie die Chance hatten, vom Komponisten im Belvédère empfangen zu werden und Ratschläge von ihm zu erhalten: Marcelle Meyer (1954), die die zeitgenössischen Werke ihrer Generation spielte und sich gleichzeitig für die Wiederbelebung der Cembalowerke von Rameau, Couperin und Scarlatti am Klavier einsetzte, Henriette Faure (1959), die am 12. Januar 1923 im Théâtre des Champs-Élysées das erste Recital ausschließlich mit Klavierwerken von Ravel gab, sowie Yvonne Lefébure (1975), nach Marguerite Long die zweite Interpretin des Konzerts in G, die ab 1974 die Gelegenheit hatte, seine wichtigsten Repertoirewerke aufzunehmen. Diese Liste wäre nicht vollständig ohne die Namen von Robert Casadesus (1951) und Samson François (1967) hinzuzufügen, beides legendäre Ravel-Interpreten.

Die erste Aufnahme der Orchesterfassung mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter der Leitung von Piero Coppola wurde 1932 mit dem Grand Prix du Disque ausgezeichnet. Manuel Rosenthals Aufnahme mit dem Orchestre du Théâtre National de Paris im Jahre 1959 überzeugt durch ihre Expressivität, große lyrische Qualitäten, Leichtigkeit und Transparenz. Ernest Ansermet (1953 und 1960) weiß perfekte Nuancierung mit rhythmischer Strenge zu verbinden. Auch die Ravel-Interpretationen von Paul Paray (1959), André Cluytens (1962) und Jean Martinon (1974) haben nichts von ihrer Überzeugungskraft eingebüßt.

Die ästhetische Auseinandersetzung mit Ravel bleibt ein aktuelles Thema. Die Leichtigkeit, mit der er die unterschiedlichsten Strömungen und Idiome assimiliert, hat manchmal dazu geführt, ihn als akademischen oder sogar rückwärtsgewandten Musiker anzusehen. Aber das ist nicht richtig. Dieser Sichtweise sollte man entgegensetzen: „Er ist ein Klassiker, der sich einer modernen Sprache bedient.“24

Epalinges, Frühjahr 2015 Jean-François Monnard

1 Marcel Marnat, Maurice Ravel, Paris 1986 [= Marnat Ravel], S. 387.

2 Brief Ravels an Jacques Durand vom 7. Juli 1917, René Chalupt, Ravel au miroir de ses lettres, Paris 1956, S. 150.

3 Manuel Rosenthal, Ravel: Souvenirs de Manuel Rosenthal, zusammengestellt von Marcel Marnat, Paris 1995 [= Rosenthal Souvenirs], S. 178.

4 Manuel Cornejo, Deux interviews espagnoles de Maurice Ravel inédites en France (1924), in: Cahiers Maurice Ravel, Fondation Maurice Ravel [= CMR], Nr. 14 (2011).

5 Brief Ravels an Lucien Garban vom 27. Januar 1919, CMR, Nr. 8 (2004).

6 Brief Ravels an Lucien Garban vom 22. Februar 1919, CMR, Nr. 8 (2004).

7 Brief Ravels an Marguerite Long vom 23. Februar 1919, CMR, Nr. 12 (2009).

8 Marguerite Long, Au piano avec Maurice Ravel, Paris 1971 [= Long Au piano], S. 142.

9 Le Temps, 16. November 1920.

10 Roland-Manuel, Esquisse autobiographique, in: La Revue musicale, Dezember 1938, S. 22.

11 Olivier Messiaen / Yvonne Loriod-Messiaen, Analyse des œuvres pour piano de Maurice Ravel, Paris 2003 [= Messiaen Analyse], S. 85.

12 Manuel de Falla, Notes sur Ravel, in: La Revue musicale, März 1939, S. 85.

13 Pierre Boulez, Un naïf guindé, in: Le Figaro, 20. Februar 1987.

14 Messiaen Analyse, S. 86.

15 Henriette Faure, Mon Maître Maurice Ravel, Paris 1978, S. 88.

16 Alfred Cortot, La musique française de piano, Deuxième série, Paris 1932, S. 52.

17 Long Au piano, S. 145.

18 Siehe Marnat Ravel, S. 154.

19 André Suarès, Ravel: Esquisse, in: La Revue musicale, Dezember 1938, S. 51.

20 Roland-Manuel, À la gloire de… Ravel, Paris 1938, S. 137.

21 Vlado Perlemuter / Hélène Jourdan-Morhange, Ravel d’après Ravel, Lausanne 1953.

22 Rosenthal Souvenirs, S. 148.

23 Le Figaro, 20. Februar 1987.

24 Claude Rostand, in: Dictionnaire de la musique contemporaine, Paris 1970.

Preface

The First World War was a terrible shock for Maurice Ravel. Driven by concern and anxiety over the wave of musical nationalism sweeping through France, Ravel, after numerous visits to the authorities, succeeded in being assigned as a truck driver in the vehicle fleet of Châlons-sur-Marne in September 1916. Then he fell ill and, upon arriving in Paris on sick leave on 5 January 1917, his beloved mother passed away. Ravel was inconsolable. Discharged from service for reasons of health, he returned to civilian life and was given lodgings by Madame Fernand Dreyfus, his “war godmother.” It was in Frêne, in Lyons-La-Forêt, that he wrote Le Tombeau de Couperin, each movement of which was dedicated to a friend he had lost in the war. He had already made some sketches for this project back in July 1914 in St-Jean-de-Luz. In an often light-hearted letter to Cipa Godebski, we learn that Ravel was writing a forlana just as the Church was damning the tango as a “lascivious and morally offensive dance.” Facetiously, he added: “I am working for the Pope [Pius X]. You know that this exalted personage [...] happens to be helping a new dance achieve success: the forlana. I am transcribing one of Couperin’s. I shall then take it upon myself to have it danced in the Vatican by Mistinguett and Colette Willy in drag.”1 The genre was far from dead, as can be proved by the forlanas of Ponchielli in La Gioconda (1876) and of Mascagni in Le Maschere (1901).

By July 1917, the work was making great progress and Ravel wrote to Jacques Durand announcing a minuet and a rigaudon, noting: “The rest is coming soon.”2 In the end, this work – the last he wrote for piano – contained six movements: Prélude, Fugue, Forlane, Rigaudon, Menuet, Toccata. According to Manuel Rosenthal, Ravel was still considering adding a further movement, Le Rossi­

Besetzung

2 Flöten (II auch Piccolo)

2 Oboen (II auch Englischhorn)

2 Klarinetten in A, B

2 Fagotte

2 Hörner in F Trompete in C

Harfe

Streicher (6 Kontrabässe erforderlich)

Aufführungsdauer

etwa 17 Minuten

Scoring

2 Flutes (II also Piccolo)

2 Oboes (II also English horn)

2 Clarinets in A, Bj

2 Bassoons

2 Horns in F Trumpet in C

Harp

Strings (6 Double basses required)

Distribution

2 Flûtes (II aussi Petite Flûte)

2 Hautbois (II aussi Cor anglais)

2 Clarinettes en La, Sij

2 Bassons

2 Cors en Fa Trompette en Do

Harpe

Cordes (6 Contrebasses requises)

Performing Time

Durée

Dazu käuflich lieferbar:

Partitur mit Revisionsbericht PB 5540 Orchesterstimmen OB 5540

Der Revisionsbericht, auf den im Notenteil Bezug genommen wird, befindet sich in der Dirigierpartitur PB 5540.

approx. 17 minutes Available for sale:

Score with “Revisionsbericht” PB 5540 Orchestral parts OB 5540

The “Revisionsbericht” (Critical Commentary), which is referred to in the music text, is found in the full score PB 5540.

environ 17 minutes

Disponible en vente:

Partition avec « Revisionsbericht » PB 5540 Parties d’orchestre OB 5540

Le « Revisionsbericht » (Rapport de révision), auquel il est fait référence dans le texte musical, se trouve dans le conducteur PB 5540.

Le Tombeau de Couperin

Suite d’Orchestre

I

(II aussi Petite Flûte)

HautboisI

Cor anglais

(aussi Hautbois II)

Trompette (Do) Cor

Violoncelle

Contrebasse

Maurice Ravel

Prélude herausgegeben von Jean-François Monnard

* Les petites notes, dans toute cette Suite, doivent être attaquées sur le temps. /Die Vorschlagsnoten sind in dieser Suite jeweils auf die Zeit zu spielen. /

grace-notes in this Suite are to be played on the beat.

Cb.
Vc.
At.
arco unis
Cl. (La)
Cb.
Vc.
Breitkopf

Leseprobe

Leseprobe

Leseprobe Sample page

Leseprobe Sample page

Leseprobe Sample page

Leseprobe Sample

Leseprobe Sample page

Cb. T. 58 siehe Revisionsbericht.

Vc.

Leseprobe Sample page

Leseprobe

Leseprobe Sample page

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