POSITION | GESUNDHEITS- UND WIRTSCHAFTSPOLITIK | IGW
Effizienz durch Innovation: Neue Wege im Gesundheitssystem
Beitrag der Industrie zur Finanzierung des Gesundheitssystems
4. November 2025
Executive Summary
Das deutsche Gesundheitssystem steht vor großen finanziellen Herausforderungen. Die Kombination aus demografischen Veränderungen, steigenden Gesundheitskosten und einer anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation führt dazu, dass die Finanzierungsgrundlage der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bröckelt. Zwischen 2013 und 2023 sind die Gesundheitsausgaben von 314 auf 501 Milliarden Euro gestiegen Gemessen an der Wirtschaftsleistung gibt kein Land innerhalb der Europäischen Union so viel Geld für Gesundheit aus wie Deutschland. Das hat steigende Lohnnebenkosten zur Folge, die nicht nur zulasten von Beschäftigten und Unternehmen gehen, sondern auch das Wirtschaftswachstum in Deutschland dämpfen; davor warnte zuletzt auch der Bundesrechnungshof
Die Bundesregierung hat das Dilemma der steigenden Ausgabendynamik erkannt und eine Expertenkommission eingesetzt, die konkrete Maßnahmenvorschläge für eine nachhaltige Finanzierung der GKV erarbeiten soll Ziel ist es, die strukturelle Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen zu schließen Für den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist entscheidend, dass Reformdebatten nicht auf kurzfristige Einsparungen zielen, sondern den Zusammenhang zwischen Wirtschaftskraft und Innovation, Beschäftigungsniveau und Sozialausgaben berücksichtigen und auch Möglichkeiten zur Steigerung der Produktivität mitbetrachten – gerade im Gesundheitssystem.
Vor diesem Hintergrund hat der BDI das Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos beauftragt, den Beitrag von Gesundheitsinnovationen zu einer nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitssystems zu analysieren Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass die industrielle Gesundheitswirtschaft (iGW) wesentlich zur Lösung beitragen kann. Allein durch bereits heute identifizierbare und konservativ quantifizierte Innovationen der iGW können Einsparungen von mehr als 20 Milliarden Euro pro Jahr erzielt werden. Würden diese Potenziale genutzt, läge der GKV-Beitragssatz im Jahr 2045 um rund 1,4 Prozentpunkte niedriger. Dies verdeutlicht, dass Innovationen aus der iGW sowohl die Versorgungsqualität verbessern und Entlastungen für medizinisches und pflegerisches Personal schaffen als auch den finanziellen Druck auf die gesetzlichen Kassen abmildern können
Gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Nutzen von Gesundheitsinvestitionen
Gesundheitspolitik ist nicht isoliert als Prozess der Heilung von Krankheiten zu verstehen, sondern muss auch in der politischen Steuerung stets den holistischen Zusammenhang zwischen Wirtschaftskraft, Innovation, Beschäftigungsniveau und Sozialausgaben berücksichtigen. Da das deutsche Gesundheitswesen überwiegend aus umverteilten Einkommen finanziert wird, ist seine Stabilität eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung und der Einkommenssituation der Versicherten verknüpft. Eine nachhaltige Finanzierung der Gesundheitsausgaben setzt daher eine starke Wirtschaft voraus.
Gerade die iGW leistet einen Schlüsselbeitrag für die Gesellschaft und zeigt, wie eng wirtschaftliche Stärke und innovative Gesundheitsversorgung zusammenhängen: Mit einer Bruttowertschöpfung von 103 Milliarden Euro und über einer Million Erwerbstätigen liefert sie einen erheblichen Beitrag zum Wirtschaftswachstum und trägt signifikant zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme bei. Darüber hinaus leisten ihre Teilbereiche Pharma, Medizintechnik, Biotechnologie und Health-IT einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des heimischen Gesundheitswesens. Innovationen aus der iGW bieten erhebliche Effizienzpotenziale: Sie können Krankheitsverläufe verkürzen, Folgeerkrankungen und Komplikationen vermeiden und Prozesse entlang der Versorgungskette effizienter organisieren.
Eine starke iGW stärkt die soziale Nachhaltigkeit wie keine andere Industriebranche. Investitionen in Gesundheit sind auch immer Investitionen in mehr Wohlstand, Produktivität und eine stabilere Wirtschaft. Gesundheitsausgaben sind daher nicht nur eine Frage der direkten finanziellen Belastung, sondern ermöglichen auch vielfältige gesellschaftliche und ökonomische Effekte Die relevantesten Wirkmechanismen, die auch in der Prognos-Studie dargestellt sind, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
▪ Vermeidung von Folgeerkrankungen und Folgekosten: Früherkennung und Prävention verhindern chronische Erkrankungen und reduzieren daraus resultierende sekundäre Krankheitsbilder wie Depressionen bei chronischen Schmerzen. Dies senkt auf lange Sicht sowohl die Behandlungskosten als auch den Pflegebedarf.
▪ Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivität: Gesündere Erwerbstätige fallen seltener krankheitsbedingt aus und können ihre Arbeitskraft konzentrierter und engagierter einbringen. Präventive Maßnahmen und frühzeitige Interventionen senken nachweislich Fehlzeiten und reduzieren den Bedarf an Vertretungspersonal, was zu weiteren Kosteneinsparungen des Systems führt. Gesundheit zahlt sich also auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive aus.
▪ Verlängerung der Erwerbsbiografie: Durch verbesserte Therapien und präventive Ansätze können vorzeitige Renteneintritte durch Erwerbsminderung insbesondere bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder kardiovaskulären Erkrankungen vermieden oder hinausgezögert werden. Hierdurch können Kosten für Erwerbsminderungsrenten und weitere Sozialleistungen vermieden werden. Eine gesündere Bevölkerung entlastet somit langfristig die sozialen Sicherungssysteme.
▪ Entlastungen bei der informellen Pflege und der Hausarbeit: Eine höhere Selbstständigkeit im Alter verringert die Belastung von Angehörigen und reduziert Erwerbsausfälle durch häusliche Pflegeverpflichtungen.
Zahlreiche Studien belegen die beschriebenen Effekte und den damit verbundenen positiven Einfluss einer gesünderen Gesellschaft auf das wirtschaftliche Wachstum. So konnte nachgewiesen werden, dass höhere Gesundheitsausgaben in OECD-Staaten mit einem Anstieg des BIP pro Kopf korrelieren 1 Eine weitere Analyse bestätigt die volkswirtschaftliche Relevanz strategischer Gesundheitsinvestitionen in Impfprogramme, moderne Gesundheitstechnologien und innovative Therapien.2 Eine Untersuchung aus elf europäischen Ländern zeigt darüber hinaus, dass neue Arzneimittel wesentlich dazu beigetragen haben, dass Menschen trotz schwerer Erkrankungen länger im Arbeitsleben verbleiben konnten und gesundheitliche Einschränkungen insgesamt seltener auftraten. 3 Diese Erkenntnisse zeigen, dass
1 Atilgan, E. et al. (2024): Health-Led Growth: How Investments in Health Drive Economic Performance in OECD Countries
2 Business and Industry Advisory Committee (BIAC) (2025): Health as an Economic Imperative
3 Lichtenberg, F. (2019): The Impact of Pharmaceutical Innovation on Disability in Eleven European Countries, 1982–2015
Investitionen in Gesundheit auch ökonomisch sinnvoll sind und Gesundheitspolitik stets auch unter wirtschaftspolitischen Vorzeichen diskutiert werden muss.
Effizienzpotenziale im Wirkungsbereich der industriellen Gesundheitswirtschaft
Um dem steigenden Finanzierungsdruck der GKV abzumildern, sollten Effizienzpotenziale identifiziert und genutzt werden. Hier bietet die iGW durch ihre Innovationen erhebliches Potenzial, die Gesundheitsversorgung zu verbessern und in einzelnen Leistungsbereichen Kosten zu senken; das gilt vor allem für die Bereiche Prävention, Diagnostik und der Verbesserung von Therapien und (digitalen) Prozessen. Insgesamt lassen sich allein aus den quantifizierten Beispielen von Prognos Effizienzpotenziale von über 20 Milliarden Euro für das Gesundheitswesen und insbesondere für die GKV ableiten. Von den erwarteten Einsparungen entfallen neun Milliarden Euro auf den Bereich der Medizintechnik, sieben Milliarden Euro auf den Bereich E-Health und weitere vier Milliarden Euro auf Arzneimittel und Biotechnologie Dabei handelt es sich um eine konservativ gerechnete Modellierung, die ausschließlich quantifizierbare Beispiele berücksichtigt. Das tatsächliche Potenzial dürfte – unter Einbeziehung weiterer Innovationsfelder und Digitalisierungsfortschritte – deutlich höher liegen
Darüber hinaus zeigen die Berechnungen, dass Gesundheitsinnovationen auch gesamtwirtschaftliche Wirkung entfalten: Sie fördern Produktivität, verringern krankheitsbedingte Ausfälle und verlängern Erwerbsbiografien. Prognos beziffert diesen zusätzlichen volkswirtschaftlichen Nutzen auf über 17,5 Milliarden Euro jährlich. Damit tragen Innovationen nicht nur zur Stabilisierung der GKV, sondern auch zur Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bei. Im Folgenden werden ausgewählte stabilisierende Effekte von Gesundheitsinnovationen auf Grundlage der Prognos-Studie dargestellt. Diese Beispiele verdeutlichen, dass innovative Gesundheitslösungen sowohl die Versorgungsqualität erhöhen als auch die Finanzierungsbasis des Gesundheitssystems nachhaltig stärken
Humanarzneimittel und Biotechnologie
Im Bereich der Humanarzneimittel und Biotechnologie ergeben sich Effizienzpotenziale vor allem durch Arzneimittelinnovationen und neue Impfstoffe. Darüber hinaus tragen Fortschritte in der gezielten Medikamentenfreisetzung oder bei neuartigen Verabreichungssystemen dazu bei, Therapien wirksamer und kosteneffizienter zu machen Auch in der Genom-Editierung und in bioinformatischen Analysen liegen große Chancen: Sie heben Prävention, Diagnostik und Therapien auf ein neues Niveau und steigern damit die Qualität und Effizienz der Versorgung So kann etwa bei Typ-2-Diabetes ein innovatives Medikament die Gesamtkosten gegenüber herkömmlichen Therapien um bis zu ein Drittel senken, ein jährliches Einsparpotenzial von rund zwei Milliarden Euro Auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen belegen neue cholesterinsenkende Präparate, wie Versorgung und Effizienz gleichermaßen verbessert werden können. Schätzungen zufolge ließen sich innerhalb von zehn Jahren bis zu 55.000 Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindern und Folgekosten von etwa 100 Millionen Euro pro Jahr vermeiden
Medizintechnik
Im Wirkungsbereich der Medizintechnik liegen die Effizienzreserven zum Beispiel in der Entwicklung von technischen Geräten, die in der Diagnostik, Therapie und Chirurgie eingesetzt werden. Das größte Einsparpotenzial ergibt sich aus der Ambulantisierung, die das Gesundheitssystem um bis zu sechs Milliarden Euro jährlich entlasten könnte. Medizintechnische Fortschritte ermöglichen inzwischen, dass viele chirurgische Eingriffe ambulant oder in signifikant geringerer Liegezeit durchgeführt werden und reduzieren den Aufwand der Nachsorge. Laut einer Analyse des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung könnten in Deutschland bis zu 2,7 Millionen stationäre Aufenthalte ambulant behandelt werden. Das entspricht etwa 17 bis 20 Prozent aller Krankenhausaufenthalte und einem Entlastungspotenzial von bis zu sechs Milliarden Euro jährlich. Insbesondere KI-basierte Technologien in der Diagnostik und Bildgebung haben das Potenzial, die Effizienz und Effektivität der Versorgung signifikant zu erhöhen
und dabei dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. So zeigt beispielsweise eine Studie aus dem Bereich der Radiologie, dass KI in der Brustkrebsvorsorge die Bildschirmzeit von Ärztinnen und Ärzten um 44,3 Prozent und in der thorakalen Radiologie um 26 Prozent senken konnte, während die Erkennung von Lungenknoten um bis zu 21 Prozent steigt Eingriffe können präziser geplant und minimalinvasiver durchgeführt werden. KI-gestützte Diagnostik und moderne bildgebende Verfahren steigern darüber hinaus nicht nur die Effizienz der Versorgung, sondern erhöhen die diagnostische Genauigkeit und damit die Versorgungsqualität für Patientinnen und Patienten Auch zeigen Studien, dass robotische Assistenzsysteme Komplikationen, Verweildauern und Revisionsraten bei Knochenchirurgie als auch Weichteilchirurgie reduzieren können.
E-Health
Im Bereich E-Health eröffnet die Entwicklung und Integration digitaler Technologien erhebliches Effizienzpotenzial. Hierzu zählen KI-gestützt Labormedizin, telemedizinische Lösungen wie die Implementierung der „elektronischen Patientenakte“ zur besseren Datenverwaltung und -nutzung sowie die Entwicklung von Gesundheits-Apps und Wearables. Darüber hinaus sind Fortschritte in der Vernetzung und Interoperabilität medizinischer Systeme von zentraler Bedeutung, um eine effizientere und personalisierte Patientenversorgung zu ermöglichen. Großes quantifizierbares Potenzial wird dem Einsatz von Telemedizin mit 2,5 Milliarden Euro pro Jahr zugeschrieben Ergänzend dazu zeigt auch der Einsatz von Telemonitoring bei chronischen Erkrankungen wie Herzinsuffizienz große Vorteile. So kann die durchschnittliche Krankenhausaufenthaltsdauer um 0,6 Tage pro Behandlung bzw. um sechs Tage pro Jahr reduziert werden; gleichzeitig verringert sich die Sterblichkeitsrate. Auch Echtzeitbettenmanagementsysteme steigern die Effizienz erheblich, indem sie Kliniken Transparenz über Belegung und Verfügbarkeit bieten, die Planung optimieren und Prozesse wie die Bettenaufbereitung beschleunigen, was 1,13 Milliarden Euro pro Jahr einsparen könnte. Für Patientinnen und Patienten bedeutet dies kürzere Wartezeiten um bis zu 50 Prozent und verkürzte Krankenhausaufenthalte um bis zu 15 Prozent.
Analyse und Szenarien der Gesundheitsausgaben in Deutschland bis 2045
Die Gesundheitsausgaben sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen von 314 Milliarden (2013) auf 501 Milliarden Euro (2023); dies entspricht einem Anstieg von 59 Prozent Auch inflationsbereinigt liegt der Anstieg noch immer bei 27 Prozent. Entsprechend erhöhte sich der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) und lag 2022 bei 12,6 Prozent Damit lagen die Gesundheitsausgaben in Deutschland über dem EU-Durchschnitt von 10,4 Prozent des BIP.4 Trotz dieser hohen Aufwendungen liegt die Lebenserwartung in Deutschland unterhalb des europäischen Mittelwerts 5
Gleichzeitig wächst der finanzielle Druck innerhalb des Gesundheitssystems, insbesondere in der GKV, auf die mit 56 Prozent (2023) der größte Teil dieser Kosten entfällt. Ihre Ausgaben stiegen von 183 Milliarden Euro (2013) auf 289 Milliarden Euro (2023). Dies entspricht einem Zuwachs um 58 Prozent – inflationsbereinigt 26 Prozent. Die steigenden GKV-Ausgaben führten sowohl zu höheren Bundeszuschüssen als auch zu mehrfachen Erhöhungen der Versichertenbeiträge. Der demografische Wandel wird diesen Druck weiter verschärfen: Mit zunehmendem Alter steigt die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, während gleichzeitig der Anteil der beitragszahlenden Erwerbstätigen sinkt 6
Prognosen verdeutlichen die Tragweite dieser Entwicklung: Ohne grundlegende Reformen könnten die Sozialversicherungsbeiträge bis 2035 nahezu die 50-Prozent-Marke erreichen, im ungünstigsten Szenario lägen sie sogar bei 51,2 Prozent.7 Modellrechnungen zeigen, dass der durchschnittliche GKV-
4 Statistisches Bundesamt 2025b und 2025c
5 Statista (2024): Lebenserwartung bei der Geburt in ausgewählten Ländern der europäischen Region im Jahr 2023.
6 Beznoska, Martin / Pimpertz, Jochen / Stockhausen, Maximilian (2023): Wie beeinflusst die Demografie das Solidaritätsprinzip in der GKV? In: Sozialer Fortschritt, 72. Jg., Heft 6, S. 499–517
7 IGES (2024): Beitragsentwicklung Analyse 2024 – Studie im Auftrag der DAK-Krankenkasse.
Beitragssatz von heute 16,3 Prozent (2024) bis 2060 auf rund 21,8 Prozent steigen müsste, um die Kosten zu decken 8
Referenzszenario – Was passiert, wenn nichts passiert
Auch die Prognos-Studie bestätigt diesen Ausblick: Im Referenzszenario würde der Beitragssatz bis 2045 auf 20,1 Prozent steigen Davon entfallen rund 5,5 Prozent auf den kassenindividuellen Zusatzbeitrag, der sich damit gegenüber heute mehr als verdoppeln würde
Hinzu kommt ein strukturelles Risiko: Die steigenden Beiträge belasten die Einnahmenseite der GKV, da hohe Abgaben mittelfristig auch die Beschäftigungsdynamik und die Investitionsbereitschaft schwächen Das führt zu einer teuren Abwärtsspirale: Höhere Ausgaben führen zu steigenden Beitragssätzen, die wiederum die wirtschaftliche Basis für stabile Einnahmen untergraben. Ohne Reformen droht so nicht nur eine zunehmende finanzielle Schieflage der GKV, sondern auch eine wachsende Belastung für den gesamten Wirtschaftsstandort Deutschland und im schlimmsten Fall eine verstärkte Abwanderung industrieller Wertschöpfung ins Ausland.
Alternativszenario – Vorfahrt für Innovation und Digitalisierung
Im Gegensatz zum Referenzszenario zeigt das Alternativszenario „Vorfahrt für Innovation und Digitalisierung“, dass sich der Anstieg der Beitragssätze deutlich verlangsamen lässt, wenn die in der Studie identifizierten Effizienzpotenziale der iGW konsequent genutzt werden. Dem Szenario nach würde der Gesamtbeitragssatz der GKV bis 2045 nicht auf 20,1 Prozent steigen, sondern lediglich auf 18,7 Prozent. Das entspricht einer jährlichen Entlastung von rund 47 Milliarden Euro gegenüber dem Referenzszenario im Jahr 2045
Für die Versicherten bedeutet dies eine deutliche Entlastung, für Unternehmen eine Stabilisierung der Lohnnebenkosten und für das Gesundheitssystem wäre es die Chance, Innovationen schneller und breiter in die Versorgung zu bringen. Innovation und Digitalisierung wirken damit nicht nur als Hebel für bessere Behandlungsqualität, sondern auch als zentrale Voraussetzung für eine nachhaltige Finanzierung der GKV.
Handlungsempfehlungen zur Stärkung der Finanzierungsbasis durch die iGW
1. Innovationen in der Versorgung fördern und Gesundheit als Standortfaktor verankern: Gesundheit ist ein zentraler Wachstums- und Beschäftigungsmotor. Investitionen in Prävention, Technologie und innovative Versorgungslösungen steigern die volkswirtschaftliche Produktivität, verlängern Erwerbsbiografien und entlasten die sozialen Sicherungssysteme. Gesundheitsausgaben sollten daher immer als Investition im Sinne ihrer gesamtwirtschaftlichen Effekte bewertet werden. Um diese Effekte nachhaltig zu sichern und auszubauen, braucht es eine Gesamtstrategie für die iGW, die Gesundheits- und Wirtschaftspolitik enger verzahnt und die Resilienz des Gesundheitssystems stärkt. So sollte die iGW im Rahmen von Mitwirkungs- oder Anhörungsrechten z. B. bei Nationalen Strategien oder der FinanzKommission Gesundheit (FKG) stärker berücksichtigt und beteiligt werden, da sie mit ihren Innovationen maßgeblich zur Effizienzsteigerung beitragen und das System entlasten kann
2. Prävention und Früherkennung ausbauen: Präventionsprogramme und Früherkennung tragen dazu bei, Krankheiten rechtzeitig zu verhindern, ihr Fortschreiten zu verlangsamen und Folgekosten zu vermeiden. Sie verlängern die gesunde Lebenszeit und stabilisieren so die Finanzierung der
8 Vandage (2024): Impact-Bewertung ausgewählter Reformvorschläge zur Finanzierung der GKV
Effizienz durch Innovation: Neue Wege im Gesundheitssystem
Sozialversicherung. Im Sinne ihres Beitrags zur Sicherung von Produktivität und Erwerbsfähigkeit sollten Präventionsangebote ausgebaut und ganzheitlich im Sinne eines „Health-in-All-Policies-Ansatzes“ ausgerichtet und regelmäßig an den Stand der medizinischen Erkenntnisse angepasst werden Außerdem braucht es klare Anreize, Präventionsangebote stärker in die Versorgung zu integrieren.
3. Potenziale von Digitalisierung für eine effizientere Versorgung nutzen: Der Schlüssel zur Effizienzsteigerung liegt im Aufbau eines interoperablen und leistungsfähigen Gesundheitsdatenökosystems, das Prävention, Diagnostik, Versorgung und Forschung besser verzahnt und Innovationen schneller in die Praxis bringt Das entlastet knappes medizinisches Personal unmittelbar. Dafür braucht es eine Dateninfrastruktur mit transparenten, sicheren Zugangsregeln und einheitlichen Datenstandards und Schnittstellen Doppelstrukturen sollten konsequent abgebaut und Ressourcen gezielt gebündelt werden. So können digitale Lösungen in die Regelversorgung integriert und Effizienzpotenziale zur finanziellen Entlastung des Gesundheitssystems genutzt werden.
4. Steuerzuschuss für versicherungsfremde Leistungen erhöhen: Versicherungsfremde Leistungen dürfen nicht zulasten der Beitragszahlenden gehen. So ist z B. die gesundheitliche Versorgung der Beziehenden von Bürgergeld keine originäre Aufgabe der Sozialversicherung sowie der Beitragszahlerinnen und -zahler und muss daher vollständig aus Steuermitteln finanziert werden.
5. Ambulante Versorgung als Hebel zur Kosteneffizienz stärken: Ein erheblicher Teil der heute stationär erbrachten Leistungen könnten auch ambulant erfolgen. Fortschritte in Medizintechnik, Diagnostik und digitalen Verfahren machen solche Verlagerungen medizinisch möglich und wirtschaftlich sinnvoll. Um dieses Effizienzpotenzial zu heben, braucht es ein modernes Vergütungssystem, das ambulante und stationäre Leistungen fair zusammenführt sowie klare Rahmenbedingungen für Investitionen in den Ausbau ambulanter Versorgungsstrukturen. Die aktuelle Krankenhausreform und kommende Strukturreformen sollten dafür genutzt werden, um die sektorübergreifende Versorgung zu stärken und Ressourcen effizienter einzusetzen.
6. Innovationsfreundliche Erstattungsregelungen verbessern: Im Bereich der Arzneimittel sollte das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) so weiterentwickelt werden, dass es die nutzenbasierte Preisfindung auf vorhandener Evidenz basiert und flexible Modelle wie Pay-for-Performance für besonders hochpreisige Therapien ermöglicht. Auch für Medizintechnik und Diagnostik braucht es einfachere, praxisnahe Vergütungsregelungen, die Investitionen in neue Verfahren fördern. Hier bietet beispielsweise der Transformationsfonds der Krankenhausreform Chancen, technische und medizinische Innovationen schneller in die Versorgung zu bringen. Zudem sollten Effizienz und Innovation bei der Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden eine zulassungsrelevante Rolle spielen.
7. Bewertungs- und Zulassungsverfahren beschleunigen: Geschwindigkeit ist für die iGW von großer Bedeutung. Auch wenn die neue Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses Chancen eröffnet, das Potenzial innovativer Medizinprodukte besser auszuschöpfen, bleiben viele Evidenzanforderungen weiterhin kaum erfüllbar. Für den Nutzennachweis in der Versorgung braucht es Studien, die den Patientenvorteil belegen und für Hersteller realistisch durchführbar sind. Dafür braucht es planbare Evidenzpfade mit klaren Vorgaben und Fristen, weniger bürokratische Hürden bei Studien sowie eine schnellere Aufnahme neuer Methoden ins DRG-System (Fallpauschalen) Schnellere Bewertungs- und Zulassungsverfahren würden nicht nur den Patientenzugang zu Innovationen verbessern, sondern auch leitliniengerechte Behandlungsformen früher in die Regelversorgung bringen So können wirksame Produkte und Verfahren früher eingesetzt und Effizienzpotenziale im Gesundheitswesen besser genutzt werden.
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Die Erstellung der Studie wurde unterstützt durch: AstraZeneca GmbH, Boehringer Ingelheim Corporate Center GmbH, AG, Bristol Meyers Squibb GmbH & Co. KGaA, Johnson & Johnson Innovative Medicine (Janssen-Cilag GmbH), Lilly Deutschland GmbH, Merck Healthcare Germany GmbH, Pfizer Pharma GmbH, Roche Pharma AG, SanofiAventis Deutschland GmbH, Siemens Healthineers AG, Stryker GmbH & Co KG, Takeda Pharma Vertrieb GmbH & Co. KG, Thermo Fisher Scientific BV und Co KG