COLLOQUIA RAURICA 18
Robert Kirstein, Sebastian Schmidt-Hofner (Hg.)
Robert Kirstein, Sebastian Schmidt-Hofner (Hg.)
NARRATOLOGIE UND RECHT
VON DER ANTIKE BIS ZUR GEGENWART
Herausgegeben vom Collegium Rauricum
Jürgen von Ungern-Sternberg ‧ Peter Blome ‧ Lucas Burkart
Stefan Rebenich ‧ Hansjörg Reinau
Band 18
Die Colloquia Raurica werden alle zwei Jahre vom Collegium Rauricum veranstaltet. Sie finden auf Castelen, dem Landgut der Römer-Stiftung Dr. René Clavel in Augst (Augusta Raurica) bei Basel, statt. Jedes Colloquium behandelt eine aktuelle geisteswissenschaftliche Frage von allgemeinem Interesse aus der Perspektive verschiedener Disziplinen. Einen Schwerpunkt bilden dabei Beiträge aus dem Bereich der Altertumswissenschaft. Um möglichst vielseitig abgestützte Erkenntnisse zu gewinnen, erörtern die eingeladenen
Fachvertreter das Tagungsthema im gemeinsamen Gespräch. Die Ergebnisse werden in der Schriftenreihe Colloquia Raurica publiziert.
Robert Kirstein, Sebastian Schmidt-Hofner (Hg.)
Narratologie und Recht von der Antike bis in die Gegenwart
Schwabe Verlag
Publiziert mit Unterstützung von der Römer-Stiftung Dr. René Clavel
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Lektorat: Ricarda Berthold, Freiburg i. B. Umschlaggestaltung: icona basel gmbh, Basel Satz: Textformart, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany
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ISBN Print: 978-3-7965-5171-0
ISBN eBook: 978-3-7965-5172-7
DOI: 10.24894/978-3-7965-5172-7
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Robert Kirstein und Sebastian Schmidt-Hofner
Einleitung: Recht und Erzählung aus altertumswissenschaftlicher und diachroner Perspektive .............................................
I. Erzähldimensionen in Courtroom Narratives
Jeanne Gaakeer
Particularising the Particular in Law: Telling Stories, Making Facts .......... 33
Stephan Dusil
Das hohe Lied der Richter? Verschiedene Erzählungen von der Stellung der Richter im «Pachtinventar-Fall» des Reichsgerichts aus dem Jahr 1922 .... 67
Jonas Grethlein
The Reconfiguration of Law and Narrative in Plato’s Apology 91
II. Narrativität in gesetzesförmigen Rechtstexten
Benjamin Gray
Narrative in Hellenistic Civic Decisions. Persuasion, Legitimacy and «Cultural Democracy» ............................................... 107
Sebastian Schmidt-Hofner
Narrative and the Drama of Government in Late Roman Legislation: A Narratological Approach to the Post-Theodosian Novels .
Clifford Ando
Deeds Undone – The Real, the Imaginary and the Equitable in Roman Law 177
Ulrike Babusiaux
Narrative Elemente in den libri quaestionum des Iulius Paulus ............... 197
Regina Grundmann
«A quaint, but legally irrelevant, meditation»? Narrative und narrative Rahmungen in jüdischen Responsa des 20. und 21. Jahrhunderts 231
Maren R. Niehoff
Roman-Style Jurists in Ancient Judaism. Telling the Story from Philo and Josephus to the Rabbis 253
IV. Rechtserzählung als kulturelle Praxis
Lisa Pilar Eberle
Narrating Entitlement in Ancient Rome. Nomos, Empire, and Political Economy between 100 BCE and 200 CE ........................ 285
Robert Kirstein
Recht und Erzählung in Plinius’ Briefen: Strategische Hybridisierungen zwischen fact and fiction. Mit einem Epilog zu Hannah Arendt 307
Joachim Knape
Theorie des Nuklearnarrativs. Auch beim Bild und bei der Rhetorik von Sebastian Brants Freiheitstafel 339 Autorinnen und Autoren
Der vorliegende Band versammelt die überarbeiteten Vorträge, die beim 18. Colloquium Rauricum zum Thema «Recht als Erzählung. Narratologie und Recht von der Antike bis in die Gegenwart» gehalten wurden. Die Tagung fand vom 26. bis 29. August 2023 auf dem Landgut Castelen bei Basel statt.
Die Idee, Recht und Narratologie miteinander zu verbinden und dabei sowohl theoretische als auch praktische Perspektiven mit einzubeziehen, entstand in Gesprächen über die Erzähldimension spätantiker Rechtstexte im kulturellen Kontext ihrer Zeit. Die Colloquia Raurica boten mit ihrer besonderen Atmosphäre einen idealen Rahmen, um diesem Thema in einem breiteren interdisziplinären Bogen nachzugehen.
Unser Dank gilt allen Referentinnen und Referenten sowie den Mitgliedern des Collegium Rauricum, der Familienstiftung Frey-Clavel und der Römerstiftung Dr. René Clavel, die das Projekt von Beginn an mit grossem Wohlwollen und Engagement gefördert haben. Es ist uns schliesslich eine Freude, Dr. Arlette Neumann und Ruth Vachek vom Verlag Schwabe (Basel) sowie Nora Steigerwald und Ulrike Falkenstein (Tübingen) zu danken; ihre Unterstützung, Geduld und professionelle Begleitung haben den Publikationsprozess entscheidend befördert.
Tübingen, im Dezember 2024
Robert Kirstein und Sebastian Schmidt-Hofner
Recht und Erzählung aus altertumswissenschaftlicher und diachroner Perspektive
Robert Kirstein und Sebastian Schmidt-Hofner
Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die sich unter dem Titel «Recht als Erzählung» zum Ziel gesetzt hatte, zwei aktuelle Forschungsfelder interdisziplinär und epochenübergreifend miteinander ins Gespräch zu bringen. Ein zentraler Ausgangspunkt war dabei die Beobachtung, dass Rechtsthemen in literarischen Texten der Antike nicht nur eine bedeutende Rolle spielten, sondern auch gezielt mit narrativen Mitteln gestaltet und kommuniziert wurden. Vor allem aber zeichnen sich zahlreiche antike Textgattungen aus dem Bereich des Rechts selbst – wie beispielsweise gesetzgeberische Massnahmen, Petitionen oder Gerichtsreden – durch eine bemerkenswert elaborierte Narrativität aus. Die sich daraus ergebenden Fragestellungen sollten durch den fächerübergreifenden Austausch zwischen Altertums- und Rechtswissenschaften sowie den angrenzenden Disziplinen Rhetorik und Judaistik in diachroner Perspektive, wie sie die Tagungsreihe der ‹Colloquia Raurica› kennzeichnet, präzisiert und weitergedacht werden. Die impulsgebenden Altertumswissenschaften sind bewusst breit konzipiert und integrieren, um der kulturellen, religiösen und sprachlichen Vielfalt der Antike gerecht zu werden, auch die jüdische Rechtstradition aus der Zeit des 1. bis 5. Jahrhunderts n. Chr. Dasselbe gilt für die nachantike Perspektivierung, die hier mit einem theoretischen Beitrag zur Narratologie an einem frühneuzeitlichen Beispiel, zwei juristischen Beiträgen aus unterschiedlichen Rechtskreisen sowie einer Untersuchung zu den jüdischen Responsa des 20. und 21. Jahrhunderts vertreten ist.
Das erste der beiden genannten Forschungsfelder widmet sich einem neu erwachten Interesse am antiken Recht, das nicht nur als Quelle, sondern zunehmend auch als eigenständiges Thema historischer, insbesondere sozial- und kulturgeschichtlicher Analysen betrachtet wird. Recht wird hierbei nicht mehr allein als Instrument zur Konfliktlösung oder als Ordnungselement von Institutionen und Verfahren in Staat, Gesellschaft, religiösen Gemeinschaften oder anderen Organisationen verstanden, sondern darüber hinaus als Gegenstand und Medium kulturellen Wissens und sozialer Praxis analysiert. Wie – so lässt sich fragen – sind politische, religiöse und kulturelle Ordnungsvorstellungen,
Robert Kirstein und Sebastian Schmidt-Hofner
Überzeugungen und Lebensentwürfe einer Gesellschaft im Recht eingeschrieben, und wie trägt das Recht dazu bei, diese zu reproduzieren, zu modifizieren oder zu transformieren? Welche Funktion erfüllt das Recht als Medium, das kulturelle Wissensbestände und soziale Praktiken in Schrift und Sprache vermittelt, erklärt und legitimiert? In welcher Weise reflektiert und beeinflusst es politische Machtverhältnisse, soziale Strukturen und die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen? Welche Akteure können sich das Recht auf welche Weise nutzbar machen? Und mit welchen narrativen Mitteln geschieht dies im Einzelnen in den unterschiedlichen Texten, die mit Recht zu tun haben?
Damit ist das zweite Feld benannt, das dieser Band aufgreift: der für die Beantwortung dieser Fragen relevante Begriff der Erzählung. Ursprünglich im Strukturalismus des 20. Jahrhunderts entstanden, hat die inzwischen zum ‹Megatrend› avancierte Narratologie durch die Begriffsprägung Todorovs und die nachfolgenden Grundlagenarbeiten von Gérard Genette, Mieke Bal und anderen eine Fülle neuer Analysemodelle und Interpretationshorizonte hinzugewonnen.1 Ihre aktuelle Relevanz verdankt die Narratologie vor allem zwei Entwicklungen: zum einen der Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes über die ursprünglich im Zentrum stehenden ‹klassischen› Erzählwerke der europäischen Literatur hinaus auf andere Textsorten und Medien, auf Drama und Film, Historiographie und Lyrik, aber auch auf Werke der bildenden Kunst mit ihren intermedialen Bild-Text-Relationen – diesen letztgenannten Aspekt illustriert in diesem Band der Beitrag von Joachim Knape; 2 und zum anderen einem wachsenden Interesse auch in solchen Disziplinen, die sich vormodernen Epochen widmen, wie der Klassischen Philologie, der Alten Geschichte, der Judaistik oder der Mediävistik. 3 Mit dieser gattungs-, medien- und epochenübergreifenden Erweiterung der Narratologie zu einem umfassenden Analyseinstrument rücken zunehmend auch
1 Einen Überblick über die Geschichte der Narratologie von ihren Anfängen bis zu jüngeren poststrukturalistischen Ansätzen bietet Meister (2014) im Living Handbook of Narratology; s. weiter Prince (1995), Nünning / Nünning (2002a), Fludernik (2005), Herman (2005), McHale (2005), Phelan / Rabinowitz (2005), Nünning (2013a). – Zur Antike s. Anm. 3 und 28.
2 Zu dieser Ausweitung der Narratologie vgl. Nünning / Nünning (2002b), Meister (2014) [3.5] und Ryan (2014), sowie die Beiträge zur Medialität des Erzählens bei Martínez (2011); s. ferner Wolf (2004) und (2005), Ryan (2005), Nünning / Sommer (2008). Zum Menschen als homo narrans und zur Universalität des Erzählens s. Barthes (1988), 102 und Koschorke (2018), 1–9.
3 Zum Projekt einer diachronen bzw. historischen Narratologie s. die Handbücher von Contzen / Tilg (2019) und Hühn / Pier / Schmid (2023), sowie Nünning (2000), Fludernik (2003). – Mit Blick auf Antike und Vormoderne s. de Jong (2014b), Grethlein (2023), 7–9, Sternberg (41992) zur Narrativität biblischer Texte, Liss / Oeming (2010) zu jüdischen und anderen Texten der Antike, Cordoni / Langer (2014) zu jüdischen und patristischen Texten, von Contzen (2018) aus mediävistischer Perspektive sowie die einschlägigen Beiträge in von Contzen / Tilg (2019). Zur Unterscheidung zwischen ‹diachroner› und ‹historischer› Narratologie s. von Contzen / Tilg (2023), 5: «Diachronic narratologists would typically examine the development of narratological categories such as ‹narrator› or ‹focalization› through time, from antiquity to postmodernism, for example. […] Historical narratologists, by contrast, would typically be interested in how the historical and cultural setting of a given narrative relates to its principles of construction». Für eine «diachrone Narratologie des Strafprozesses» s. Schäfer (2020).
‹faktuale› Texte und mit ihm das Recht in den Fokus.4 Damit ist ein aktuell sich dynamisch entwickelndes Feld benannt, das gerade für die Antike noch weitgehend unerschlossen ist. Anstelle einer synthetisierenden Modellbildung steht im vorliegenden Band daher die Präsentation von Fallbeispielen im Vordergrund, die zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema einladen und zur Weiterentwicklung der im Folgenden näher zu beschreibenden Fragestellungen anregen mögen. Der diachrone Bogen dieses Bandes von Platons Apologie bis zu Gerichtsurteilen des 19. bis 21. Jahrhunderts reflektiert jenen explorativen Charakter.
Aktuelle Forschungskontexte einer Narratologie des Rechts
In narratologischen Forschungszusammenhängen haben Rechtstexte (und Texte über das Recht) lange Zeit eine untergeordnete Rolle gespielt. Unser Unternehmen kann jedoch an neuere Forschungsansätze anknüpfen, die narratologische Fragestellungen und Methoden auf faktuale Texte ausdehnen und sich dabei auch vermehrt Rechtstexten zuwenden. Exemplarisch für diese Entwicklung steht der von Christian Klein und Matías Martínez herausgegebene Tagungsband Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens (2009). 5 In einem breiten interdisziplinären Rahmen kommen hier so unterschiedliche Fächer wie Medizin und Psychologie, Politik und Ökonomie, Historiographie und Journalistik und nicht zuletzt das Recht zur Sprache. Letzteres wird darin in einem Beitrag von Andreas von Arnauld mit Fokus auf Rechtstexten der Moderne ausführlich und mit einem ergänzenden Überblick über die Forschungsgeschichte behandelt.6 Weitere wichtige Impulse verdankt das Feld des faktualen Erzählens dem Freiburger Graduiertenkolleg Factual and Fictional Narration (2012–2022), das zahlreiche bisher nicht oder kaum narratologisch behandelte Texte und Textsorten in den Blick genommen hat, auch im Bereich des Rechts. Ganz dem Thema Recht gewidmet ist der in diesem Kontext von Monika Fludernik und Frank Schäfer initiierte Tagungsband Erzählen und
4 S. dazu den nachfolgenden Teil dieser Einleitung.
5 Diese Modellierung und weitere Literatur zum Thema faktualer Texte wird in Robert Kirsteins Beitrag zu diesem Band aufgegriffen und in Bezug auf antike Texte diskutiert. Ein gesondertes Forschungsfeld stellen ‹Fiktionen› in der Rechtswissenschaft dar; zu diesen legal fictions s. Del Mar / Twining (2015), Ando (2015), sowie den Beitrag von Ando in diesem Band.
6 Insbesondere die Geschichtsschreibung hat spätestens mit Hayden Whites Arbeiten wichtige narratologische Impulse erhalten, s. White (1973) und (1981); dazu Roberts (2001), Jäger (2009), Haas (2014), 520–522. Rechtstexte als Wirklichkeitserzählungen: von Arnauld (2009), vgl. ders. (2017). Zum Thema Recht im interdisziplinären Kontext s. Meuter (2014), hier bes. 459. Eine wichtige Rolle im Spannungsfeld von Recht, Literatur und Narrativik spielt zudem die Rhetorik, vgl. Brooks / Gewirtz (1996), Reichmann (2010), Schneck (2011), Wagner-Egelhaaf et al. (2023). Bis heute einflussreich für Literatur und Rhetorik ist Booths Klassiker The Rhetoric of Fiction von 1961. Vgl. dazu auch Phelan (2007), 207–209, Zymner (2015), hier bes. 12–13. Vgl. hier insbesondere die Beiträge von Grethlein und Knape.
Robert Kirstein und Sebastian Schmidt-Hofner 12
Recht = Narrative and Law (2022).7 Die Einleitung zeichnet eingehend nach, wie sich das Forschungsfeld law and narrative aus und parallel zu dem schon länger etablierten Feld von law and literature herausgebildet hat, eine Genese, die im vorliegenden Band Jeanne Gaakeer in ihrem Beitrag weiter bespricht.8 Law and literature hat sich schon früh als ein vielgestaltiges Feld erwiesen, das sich in zwei zentrale Teilbereiche gliedert: law in literature und law as literature. 9 Ersterer analysiert primär Rechtsthemen als Gegenstand literarischer Darstellung in Romanen, Dramen und anderen literarischen Textsorten – klassische Beispiele sind Kleists Der zerbrochene Krug, Kafkas Das Schloß , Musils Der Mann ohne Eigenschaften oder Dürrenmatts Der Richter und sein Henker ; für die Antike ist etwa an Aischylos’ Orestie, Apuleius’ Metamorphosen oder an Ammianus Marcellinus’ literarisiertes Geschichtswerk zu denken. Der zweite Bereich – law as literature – rückt dagegen die literarischen Qualitäten von Rechtstexten wie Gerichtsurteilen, Fallgeschichten in Zeugenaussagen und Plädoyers – den court room narratives – oder Präambeln zu Gesetzes- oder Verfassungstexten in den Mittelpunkt des Interesses. James Whites grundlegende Monographie The Legal Imagination (1973/1985), Robert Covers Essay Nomos and Narrative (1983) sowie Brooks’ und Gerwitz’ Law’s Stories (1996) gehören hier zu den häufig zitierten Referenzwerken.10 Zugleich erfasst das Begriffspaar law and literature mitsamt seinen Binnendifferenzierungen (in / as) wiederum nur einen Teilbereich eines übergreifenden Interesses an Erzählung und Recht. Zum übergeordneten Bereich von law and
7 Vgl. bes. Fludernik / Falkenhayner / Steiner (2015) und weitere Bände der Freiburger Reihe Faktuales und fiktionales Erzählen, sowie, speziell zu Recht und Erzählen, Fludernik (2014) und Fludernik / Schäfer (2022a).
8 Fludernik / Schäfer (2022b). Zu law and literature vgl. weiter Weisberg (1984), (1989) und (1993), Binder / Weisberg (2000), Dolin (2007) und (2018), Olsen / Kayman (2007), Müller-Dietz (2007) und (2016), Sarat et al. (2010a), sowie Greiner / Thums / Vitzthum (2010), mit umfangreicher Bibliografie v. a. deutschsprachiger Beiträge zu law in literature in der Einleitung; Weitin (2010); Anker / Meyler (2017), Christ / Mueller (2017), Höcker (2020), Gaakeer (2022); Fludernik / Schäfer (2022b), 16–17, mit zahlreichen Beiträgen in demselben Band; Zander / Kramp-Seidel (2023); zur Antike s. unten Anm. 28. Dem Thema Recht und Literatur ist der SFB / CRC 1385 gewidmet, vgl. die Reihen Law & Literature (hg. v. K. Stierstorfer u. D. Carpi), Literatur und Recht (hg. v. K. Stierstorfer) und Recht in der Kunst – Kunst im Recht (hg. v. A. Schiemann u. G. Reiß).
9 Für diese Differenzierung vgl. zum Beispiel Sarat et al. (2010), 2 Anm. 5; Fludernik / Schäfer (2022b), 16; Gaakeer (2022) und Gaakeer in diesem Band (S. 37–38), die darauf hinweist, dass die Dichotomie inzwischen bereits wieder überholt erscheint. Eine dritte Kategorie ‹law of literature› behandeln Anker / Meyler (2017), 8: «‹Law of› scholarship typically investigates the dynamics of laws that regulate the production and circulation of literature, whether obscenity laws or copyright restrictions». Zeidler / Plata (2024) benennen nicht weniger als sechs Spielarten des Spannungsfeldes law and literature
10 Überblicke über Genese und aktuelle Forschungsperspektiven bei Lachenmaier (2008) und Blufarb (2017); knapp, aber anregend Joachimsthaler (2008). Zu Whites Legal Imagination s. Sarat et al (2010a), 2–8. Zu Cover und White s. Gaakeer (2019), 29: «In Law and Literature, the ineradicable topic in legal theory of the interconnection of language and violence is highlighted in the opposing views of the late Robert Cover and James Boyd White on the violence of the judicial word versus the view on law as a culture of argument»; vgl. auch in diesem Band Gaakeer, S. 39; Grethlein, S. 101; Gray, S. 108; Grundmann, S. 232, 242 und 247.
literature gehört auch die These, dass Literatur und die in ihr praktizierte literarische Imagination einen wesentlichen Einfluss auf moralische Überzeugungen und damit auf gesellschaftliche Verhältnisse ausüben. Literatur, so Martha Nussbaum, kann durch die Verbindung von ästhetischer Erfahrung und lebensweltlicher Praxis vorgefasste Meinungen infrage stellen, Empathie kultivieren und so insgesamt eine gerechtere Gesellschaft ermöglichen, indem sie alternative Perspektiven und Einblicke in menschliche Erfahrungen vermittelt:11
[W]e are invited to concern ourselves with the fates of others like ourselves […] to do unto ordinary men and women as to ourselves, viewing the poorest as one who we might be, and seeing in the most ordinary and even squalid circumstances a place where we have made in fancy our dwelling.
Hinzu kommen noch, mit Adam Geary, die generellen Einflüsse philosophisch geprägter (literarischer und nicht-literarischer) Narrative auf rechtswissenschaftliche Texte, sowie die vielfältigen narrativen Konstruktionen zentraler gesellschaftlicher Begriffe und Konzepte wie «identity» oder «critical race theory».12 Auch die Multiperspektivität, wie sie etwa in Bezug auf die courtroom narratives herausgestellt wird, und damit verbunden die Frage nach der Verlässlichkeit oder Unzuverlässigkeit von Erzählungen und Erzählinstanzen bieten für die übergreifende narratologische Theoriebildung ein spannendes Untersuchungsgebiet.13 In dieser dynamischen Forschungslandschaft ist eine Vielzahl von Studien entstanden, die sich mit der Narrativität von Rechtstexten unterschiedlicher Art befassen und dabei zunehmend auch die sie umgebenden kulturellen und historischen Manifestationen mit in den Blick nehmen.14 In der angelsächsischen Rechtskultur liegt ein solches Interesse wegen der zentralen Bedeutung, die dem Fallrecht (case law) und der Methode der Kasuistik für die Rechtsfindung zu-
11 Nussbaum (1995), 35. Nussbaum spitzt das Argument mit der These zu, dass Literatur (und andere künstlerische Ausdrucksformen) eine notwendige Ergänzung zu abstrakten Texten darstellen: «It is for this reason that Proust’s narrator comes to believe that certain truths about the human being can be told only in literary form.» (2001, 3). Zu Nussbaum und dem Verhältnis von Fiktion und Erkenntnis s. Müller-Dietz (2007), 205–223, hier bes. 207; Kaul (2011), 99–100, Gaakeer (2019), 207 und 100; Kirstein in diesem Band (S. 329). Zum Satisfaktionsschema in Narrationen («Die Guten werden belohnt, die Schlechten bestraft») s. Breithaupt (2022), 154–159
12 Gearey (2005), 271. Von Arnauld (2009, vgl. 2017) differenziert vier relevante Textsorten: «Rechtstexte im weiteren Sinne», «Äußerungen vor Gericht», «Rechtswissenschaftliche Texte», «Fallgeschichten in der Juristenausbildung».
13 Zu unzuverlässigem Erzählen als Thema und Forschungsfrage im vorliegenden Kontext s. Olson (2014), 380; von Arnauld / Martini (2015); Margolin (2015), 38; zu unzuverlässigem Erzählen und Multiperspektivität in der Antike s. Kirstein (2023) mit weiterer Lit.
14 Vgl. z. B. Jackson (1988), Brooks / Gewirtz (1996), Brooks (2005), Schönert (2015a), sowie die Überblicke bei von Arnauld (2009), bes. 43–50, Olson (2014), Fludernik / Schäfer (2022b), hier bes. 16–17. Zu Gesetzes- und Verfassungstexten s. Sternberg (2008), Sarti (2013); Blufarb (2017), 259–265 und 439–451; von Arnauld (2017). Forschungsdesiderate und -perspektiven besprechen Olson (2014), 380, Brooks (2017), 93, Fludernik / Schäfer (2022b). Zur Metapher s. Hanne / Weisberg (2018), Gaakeer (2019), 117–136.
Robert Kirstein und Sebastian Schmidt-Hofner 14
kommt, besonders nahe, es beschränkt sich jedoch nicht auf diese.15 Die Analyse der unterschiedlichen Versionen, mit denen die an einem Gerichtsverfahren beteiligten Parteien Ereignisse aus ihrer Sicht schildern, bietet nur ein beispielhaftes Szenario, in dem eine rechtspraktische ‹narrative› Kompetenz, etwa von Richtern, Geschworenen und anderen Entscheidungsträgern zum Tragen kommt und das man sich – bei allen Unterschieden – in Antike und Moderne gleichermassen vorstellen kann.16 Erzählung spielt, so Greta Olson,17
a central role in legal discourse and permits law to be communicated, adjudicative acts to be justified, and their principles to be explained […] […] Since the advent of ‹legal studies after the cultural turn› (Moran 2012), law has been regarded as narratively based and culturally embedded, suggesting the benefits of a narratologically literate approach to legal discourse.
Mit diesem Ansatz, Rechtserzählungen als kulturelle Narrative aufzufassen, folgt Olson im Kern der einflussreichen These Covers, der Recht gleichermassen narrativ kommuniziert und ausgehandelt wie in die jeweils herrschenden Kulturnarrative eingebettet sieht.18 Damit rücken Fragestellungen ins Zentrum, die über die rein strukturalistisch analysierbaren Texteigenschaften hinausgehen und nach der gesellschaftlichen und historischen Rolle dieser Texte und der mit ihnen verbundenen funktionalen Gruppen (Rechtsexperten, Amtsträgern, Politikern, etc.) fragen. Diese kulturwissenschaftliche und interdisziplinäre Öffnung spiegelt sich prominent im Konzept von Law and Humanities wider, in dem Recht, Erzählung und andere kulturelle Ausdrucksformen zusammen gedacht und untersucht werden.19
Die Literaturwissenschaften und die in ihnen verankerte Narratologie sind von einem solchen übergreifenden cultural turn tiefgreifend geprägt. In einer oft als poststrukturalistisch oder postklassisch charakterisierten Strömung hat sich eine Reihe von Ansätzen herausgebildet, die gerade auch die soziale, politische und historische Kontextualisierung von Erzähltexten in den Mittelpunkt ihres
15 Meuter (2014), 459: «All laws can be understood as abstractions of individual cases. Individual cases, in turn, enter the legal system by way of narrations». Vgl. Gaakeer (2019), 3, sowie in diesem Band Ando (S. 178) und Gaakeer (S. 44 u. 50) zu common-law und civil law.
16 Zur Rolle des Richters unter dem Aspekt von law and literature / narrative s. insbesondere Gaakeer (2019). Sie spricht (ebd., 25–27 und öfter) von «narrative intelligence» und betont mit Bezug auf Ricœur (1987) den praxisbezogenen Charakter dieser Fähigkeit im Sinne aristotelischer φρόνησις / phrónesis (Gaakeer [2019], 104–116). Vgl. dazu auch ihren Beitrag in diesem Band. Grenzen des narratologischen Ansatzes für die juristische Praxis betont dagegen Posner (32009).
17 Olson (2014), 371; vgl. Fludernik / Schäfer (2022b), 20.
18 S. oben Anm. 10, und Olson (2014), 378–379.
19 So die Titel der beiden Handbücher von Sarat et al. (2010a) und Stern et al. (2020); s. auch Fludernik / Schäfer (2022b), 19; Gaakeer (2022). Stierstorfer (2018) verweist auf die antiken Ursprünge einer konzeptionellen Verknüpfung von law und humanities in der griechisch-römischen und in der hebräischen Tradition, woran Ziogas / Bexley (2022a), 17 programmatisch anknüpfen. Vgl. auch den im Erscheinen begriffenen Sammelband von Köhler/Gaderer/Schmidt (2024).
Interesses rücken. 20 Auch die ihrem Wesen nach transmediale und die soziale Wirklichkeiten mit berücksichtigende kognitive Narratologie gehört zu diesen jüngeren Ansätzen. 21 Sie ist für das Thema ‹Erzählen und Recht› etwa dann bedeutsam, wenn es um die narrative Darstellung von Emotionen in Rechtskontexten und die Rezeption dieser Repräsentationen geht. Gaakeer zählt Empathie zu den zentralen Elementen dessen, was sie aus rechtspraktischer Perspektive als «narrative intelligence» charakterisiert. 22 Mit Empathie verbindet sich in aktuellen (und primär rechtspraktischen) Diskussionen auch die Frage nach der sozialen Dimension von Erzählung. Narrative, so Olson, vermögen gerade auch denjenigen eine Stimme zu verleihen, die im jeweiligen Herrschaftsdiskurs Benachteiligungen erfahren.23 Freilich kann Erzählung auch das Gegenteil bewirken und – beispielsweise in (Auto-)Biographie und Geschichtsschreibung – Eliten, die den jeweiligen Herrschaftsdiskurs bestimmen, zu narrativer Aufwertung und Stabilisierung verhelfen. 24
Entstanden ist so eine Narratologie, die als cultural oder contextual narratology nicht zuletzt an dem eingangs skizzierten Trend zur Wahrnehmung und Analyse gerade auch faktualer Texte im Sinne dessen teilhat, was Klein und Martínez mit dem Begriff der Wirklichkeitserzählungen charakterisiert haben. 25 Auf die
20 Vgl. Bal (42017), xx: «[…] narrative is a cultural attitude; hence, narratology is a perspective on culture»; Koschorke (2018), 6 mit Bezug auf Huizinga (1971), 10: «There is as much ‹play› in politics and courtroom as on the stock exchange […]»; Prince (1995); Nünning (2009); Meister (2014).
21 Vgl. Herman (2013): «[…] a focus on the way the mind works with and through stories need not entail a cognitivist separation between mental representations and the social and material environments that help shape – indeed, partly constitute – the mind itself. Instead, research on storytelling and the mind can investigate how a culture’s narrative practices are geared on to humans’ always-situated mental states, capacities, and proclivities». Vgl. in diesem Band insbesondere den Beitrag von Knape.
22 S. oben Anm. 16. Zur Relevanz des cognitive turn für Recht und Erzählung vgl. Gaakeer (2019), 221–223, und 7: «Because narratives can trigger empathic and emotional responses in various ways, it asks what the cognitive turn in narratology means for the judge who deals with the emotions and narratives of others». Gaakeer (2019), 216 schliesst dabei u. a. an Martha Nussbaums Konzept einer «narrative imagination» (Nussbaum [2016], 95; vgl. dies. [1996]) an. – Zur «narrativen Empathie» s. Breithaupt 2009, 170–175, hier bes. 172: «Die am besten legitimierbare Entscheidung zur Parteinahme setzt sich tendenziell durch (sofern man annimmt, dass äußere Faktoren eliminiert sind) und bleibt über den Augenblick hinaus bestehen. Dies kann die Parteinahme für denjenigen sein, dessen Geschichte man erzählen kann. Dieses Verstehen / Erzählen impliziert eine temporale Konstruktion. Es geht in derartigen Legitimationen etwa um die narrative Zuordnung von ursächlicher Verschuldung des Konflikts (judikative Parteinahme) oder um narratives Erraten der Konsequenzen des Konflikts und der Parteinahme (strategische Parteinahme) beziehungsweise der Darstellung der einen Seite als Opfer der anderen, […]». Zum Thema der Emotionen vgl. in diesem Band insbesondere die Beiträge von Gaakeer, Gray und Grundmann.
23 Olson (2014), 376; vgl. Delgado (1989), Gaakeer (2019), 137–158 und 207–228, sowie hier Gaakeer (S. 50) und Grethlein (S. 101–102).
24 Vgl. für die antike Biografie das Beispiel von Suetons Kaiserviten, in denen eingebettete «Mikronarrative» die (positive wie negative) tellability mitformen. Kirstein (2020).
25 Klein / Martínez (2009a); vgl. Nünning (2013c), 90, Nünning (2013a). Zu den wichtigen Ideengebern dieser Richtung der Narratologie gehört der Kulturpsychologe Jerome Bruner (1991), (2002) und (2005);
Robert Kirstein und Sebastian Schmidt-Hofner
Interdependenz zwischen der Erforschung des Rechts und der Erforschung der das Recht umgebenden soziokulturellen Umwelt mitsamt ihren kulturstiftenden Narrativen weisen Sarat et al. mit Bezug auf das Gründungsheft des Yale Journal of Law and the Humanities (1988) hin:26
As they put it: ‹The study of law must be informed by an examination of the socio-cultural narratives that shape legal meaning and empower legal norms; conversely, the study of culture requires an understanding of the law as a normative edifice and coercive system.› In other words, the layperson’s conception of law and, more importantly, the average person’s affective attachment to and support of the idea of law is generated through culturally specific narratives that can become more apparent and be better understood when approached from the perspective of the humanities.
Die hier versammelten Beiträge schliessen sich unter dem Titel Recht als Erzählung an diese narratologische Forschungsrichtung an und rücken sowohl die Frage, wie Recht erzählt wird, als auch in welchen Kontexten solche Erzählungen stehen, ins Zentrum ihres Erkenntnisinteresses. In Ergänzung zu bisherigen Forschungen legen sie jedoch den Schwerpunkt nicht auf die Moderne, sondern auf die antiken Kulturen des Mittelmeerraumes, die griechische, römische und jüdische Rechtstraditionen in ihrer ganzen Breite umfassen, eine Antike, die insgesamt ein signifikantes und die spätere europäische Tradition prägendes Interesse am Recht aufweist. Damit zielt der Band darauf ab, den interdisziplinären Spannungsbogen zwischen Recht und Erzählung durch eine historische und transepochale Perspektivierung weiter auszudehnen und dem bislang vor allem gegenwartsorientierten Forschungsfeld zusätzliche historische Tiefenschärfe zu verleihen. 27
zu Bruner vgl. den Beitrag von Kirstein in diesem Band, S. 325–326. Hierauf aufbauend Nünning / Nünning / Neumann (2010): Cultural Ways of Worldmaking. Media and Narratives. Herman (2009), 1 bezieht sich auf Nelson Goodmans konstruktivistischen Worldmaking-Ansatz (1978): «This essay begins from the assumption that mapping words onto worlds is a fundamental – perhaps the fundamental – requirement for narrative sense making. To explore how people use storytelling practices to build, update, and modify narrative worlds, the essay extends Goodman’s (1978) account of ‹ways of worldmaking.› Narrative worldmaking, I argue, involves specific, identifiable procedures set off against a larger set of background conditions for world-creation – irrespective of the medium in which the narrative practices are being conducted». Für die Verbindung von Kulturtheorie und Erzähltheorie vgl. auch die grundlegende Arbeit von Koschorke (2018), dort 50 u. 151 zu courtroom narratives.
26 Sarat et al. (2010b), 9; note from the editors, Yale Journal of Law and the Humanities 1 (1988), vi.
27 Die hier vorgenommene Engführung ergibt sich aus dem Kompetenzspektrum der in diesem Band vertretenen Disziplinen. Zu Chancen und Grenzen der Interdisziplinarität in law and literature s. z. B. Künzel (2007), 129–132, Schönert (2015b), Gaakeer (2019), 54–62, und ihren Beitrag in diesem Band (passim), vgl. auch die kritische Bestandsaufnahme bei Anker / Meyler (2017), 12–14. Für die interdisziplinäre Vernetzung von Philologie und Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert vgl. Künzel (2007), bes. 116–117, sowie Lieb / Strosetzki (2013) und Lieb (2022). Lieb verweist auf den Wandel der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert und ihren Einfluss auf Philologie und Jurisprudenz, ebd., 193–194 mit Bezug auf Koselleck (1985). Vgl. auch Barsch (2013), 642 zur Methodennähe von Philologie und Rechtswissenschaft.
Antike Perspektiven auf Recht als Erzählung im Kontext
Während insbesondere die strukturalistisch ausgerichtete Narratologie als Methode in der Klassischen Philologie mittlerweile etabliert und auch in anderen altertumswissenschaftlichen Disziplinen wie der Alten Geschichte oder der Judaistik präsent ist, 28 sind Anwendungen auf Rechts- oder rechtsnahe Texte der Antike – etwa Gesetze, Gerichtsreden oder Petitionen – bisher begrenzt und vereinzelt geblieben; dabei können sie gleich an mehrere Forschungsrichtungen und aktuelle altertumswissenschaftliche Fragestellungen anknüpfen.
Bereits auf längere Tradition können altertumswissenschaftliche Studien zurückblicken, die sich unter dem Schlagwort law in literature zusammenfassen lassen. Sie untersuchen, wie sich literarische Texte der Antike mit dem Recht, mit Rechtsverfahren und Rechtsnormen (auch ungeschriebenen) sowie dem juristischen Denken auseinandersetzen. Besonders das griechische Drama sowie die griechische und römische Historiographie, aber auch andere zentrale Gattungen wie das Epos oder die spätantike Hagiographie (inklusive der viel diskutierten Märtyrerakten) stehen dort im Mittelpunkt. Nur beispielhaft für diese Richtung seien hier aus der Reihe Law and Literature eine rezente Monographie zu Erzählungen vom Recht bei Homer und der jüngst erschienene Sammelband Roman Law and Latin Literature genannt, der mit programmatischem Anspruch zahlreiche einschlägige Studien versammelt und nicht nur law in literature, sondern auch Aspekte von literature in law mitberücksichtigt.29 Die antike Überlieferung erweist sich dabei zugleich als materialreiche und differenzierte Fundgrube für Fragestellungen der cultural oder contextual narratology, die, wie oben skizziert, den Blick auf jene Erzählungen richtet, in denen sich soziale und politische Semantiken (oder ‹Narrative›) von Rechtsnormierung und Rechtspraxis manifestieren. Hier kann an eine wachsende Zahl einschlägiger Studien angeknüpft werden. 30
28 Exemplarisch genannt seien hier Schmitz (2007), 43–62; Grethlein / Rengakos (2009); de Jong (2014a), hier bes. 3–6; Abele / Kirstein / Nill (2019); Liveley (2019), hier bes. 1–9; Grethlein (2017) und (2023), hier bes. 1–19; Feddern (2021). Für (alt)historische Perspektiven s. zum Beispiel Hornblower (1996), Rood (1998), Gagarin (2003).
29 Almog (2022); Ziogas / Bexley (2022a), mit der Einleitung (2022b) zu literature in law. Ein breites Tableau der Beziehungen zwischen law and literature präsentieren Lowrie (2016) und Diliberto (2022) für das republikanische und (so Letzterer) das frühkaiserzeitliche Rom, Laclau (2024) für das antike Griechenland von Hesiod bis Aristoteles; bei Diliberto auch umfangreiche weitere Literaturangaben für Studien zu law in literature in Rom. Für den griechischen Bereich wären hier insbesondere Studien zum Recht im Drama zu nennen, s. überblicksweise Allen (2005) und Harris / Leão / Rhodes (2010). Nur hingewiesen sei hier auf die kurz vor Druck des vorliegenden Bandes in einer neuen Reihe International Studies in Law and Literature erschienene Monographie von Laclau (2024).
30 Diese Forschungslandschaft ist zu breit, um hier auch nur annähernd angemessen dokumentiert zu werden; Abhandlungen finden sich aber z. B. in den neueren Sammelwerken von Cohen / Gagarin (2005) und du Plessis / Ando / Tuori (2016). In jüngster Zeit verfolgen den Ansatz der cultural narratology explizit Liveley / Shaw (2020); darauf aufbauend Shaw (2023) und (2024), v. a. zur augusteischen Ehegesetzgebung. Ein ähnliches Verständnis von Narratologie bei Walter (2022), die spätrömische jüdische Gemeinschaften betreffende Gesetze in ‹Narrative› über gute
Robert Kirstein und Sebastian Schmidt-Hofner 18
In diesem Band sind solche kulturwissenschaftlich orientierten Studien in der letzten Sektion IV Rechtserzählung als kulturelle Praxis versammelt. Lisa Pilar Eberle vergleicht in ihrem Beitrag Empfehlungsschreiben an römische Magistrate aus der späten Republik und der Hohen Kaiserzeit unter der Frage, wie darin strittige Besitzansprüche erzählt werden; sie vertritt die These, dass die dabei zutage tretenden Unterschiede in einem Wandel der moral economy in dieser Zeit zu suchen sind, die sich auch in den Erzählungen niederschlugen, mit denen man vor dem Richter Besitz rechtfertigen konnte. Im selben historischen Kontext liest der Beitrag von Robert Kirstein die Briefsammlung des jüngeren Plinius als eine Erzählung über Recht und Rechtspraxis seiner Zeit, die sich ihrerseits in eine Renarrativierung des Verhältnisses von Kaiser und Reichselite nach der Überwindung der Rupturen unter Kaiser Domitian einordnen lässt. Ergänzt werden die beiden altertumswissenschaftlichen Fallbeispiele durch einen Beitrag von Joachim Knape, der mit einem informations- und medientheoretischen Ansatz eine «Minimaltheorie» des Erzählens unter dem Begriff des «Nuklearnarrativs» entwickelt. Unter anderem am Beispiel der Freiheitstafel Sebastian Brants (1517) wird gezeigt, wie sich politische Normen und Werte des republikanischen Strassburger Stadtregiments in textlich-bildlichen Mikronarrativen widerspiegeln.
Die Beschäftigung mit den literarischen Qualitäten und der Gestaltung von Rechtstexten – also law as literature, um diesen zweiten klassischen Zugang zum Thema mit dem geläufigen Schlagwort zu kennzeichnen – kann in den Altertumswissenschaften insofern auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken, als die forensische Rhetorik in der jahrhundertelangen Auseinandersetzung mit der antiken Rhetoriktheorie und -praxis stets bedeutenden Raum eingenommen hat. Gerichtsreden, deren Analyse als courtroom narratives der Entwicklung des Feldes ausserhalb der Altertumswissenschaft wie erwähnt einen wesentlichen Anstoss gaben, waren dort seit jeher Gegenstand der Forschung.31 Die Anwendung narratologischer Fragestellungen und Methoden auf diese Gattung steht jedoch auch hier noch am Anfang. 32 Ihr Potenzial zeigt Jonas Grethlein in diesem Band am Beispiel von Platons Apologie des Sokrates auf, indem er darlegt, wie dieser viel zitierte Text mit den narrativen Konventionen der Gattung bricht und damit auch eine kritische Metareflexion über das Verfahren des Sokrates im Besonderen und das Gerichtswesen im Athen des beginnenden 4. Jahrhunderts v. Chr. im Allgemeinen anregt. Die Bedeutung von Gerichtserzählungen wird durch zwei weitere Studien zu gegenwartsbezogenen Beispielen unterstrichen. Stephan Dusil lotet am Beispiel eines aufsehenerregenden Prozesses vor dem deutschen Reichsgericht im Jahr 1922 Erkenntnisgewinn und -grenzen narratologischer Analysen
Herrschaft einordnet. Vgl. auch Almog (2022), 15–16. Auch der rezente Sammelband The Past through Narratology (Fafinski / Riemenschneider [2022]) verwenden ‹narratology›, nicht im Sinne von ‹Erzähltechnik›, sondern von ‹Narrativen› im genannten Sinne.
31 Vgl. z. B. Cooper (2007), Gunderson (2009), Kennedy (22010), Wohl (2010) (mit weiterer Lit. zum klassischen Athen: 5), Hohmann (2013).
32 Einschlägige Studien etwa bei Gagarin (2003) und Edwards / Spatharas (2019).
von Erzählungen vor einem und um ein Gerichtsverfahren aus. Und zwei familienrechtliche Verfahren der jüngsten Vergangenheit sind die Fallbeispiele, an denen Jeanne Gaakeer in ihrem Beitrag exemplifiziert, warum die Narratologie für das Recht insgesamt und besonders für Gerichtsprozesse praktische Relevanz besitzt und welche Elemente «narrativer Intelligenz» die richterliche Entscheidungsfindung und Urteilsbegründung beachten sollte.
Das Zusammenspiel von Recht und Literatur im Sinne von law as literature hat in jüngerer Zeit aber auch in anderen Bereichen der antiken Rechtsgeschichte Impulse erfahren. Besonders dynamisch entwickeln sich dabei Forschungen zum Einfluss rhetorischer und literarischer Techniken auf das juristische Denken und die Sprache des Rechts bei den römischen Juristen. 33 Ausgehend von ihren Untersuchungen zur rhetorischen Gestaltung römischer Juristenschriften hat Ulrike Babusiaux jüngst auch die Frage nach ihren narrativen Strukturen in den Blick genommen, 34 eine Perspektive, der ihr Beitrag zu diesem Band detailliert nachgeht. Die Rhetorik des Rechts ist auch im Hinblick auf Sprache und Stil des Gesetzesrechts vor allem für die römische Zeit in verschiedenen Einzelstudien untersucht worden. Neben der Analyse rhetorischer Techniken (Sprachebenen, Stilmittel, Tropen) geht es dabei immer auch um deren Einbettung in die jeweiligen kulturellen, sozialen und politischen Kontexte.35 Narratologische Fragestellungen und Analysen dieser Gattung von Rechtstexten sind jedoch, soweit wir sehen, bisher kaum entwickelt worden. 36 Die in der Sektion II dieses Bandes, «Narrativität in Rechtstexten», versammelten Fallstudien illustrieren, dass gerade die antiken Rechtstexte hierfür reiches Material bieten – mehr als die überwiegend unpersönliche, wenig erzählerische Sprache moderner Gesetze dies üblicherweise zulässt. Benjamin Gray demonstriert dies an hellenistischen Polisdekreten, Sebastian Schmidt-Hofner an spätrömischen Kaisergesetzen; beide Textsorten zeigen, wie eng ihre Erzählstile mit der politischen Kultur ihrer jeweiligen Epoche verbunden sind. Clifford Andos Aufsatz wendet sich einer besonderen Figur des Rechtsdiskurses mit inhärent narrativem Charakter zu, den sogenannten ‹Rechtsfiktionen›; am Beispiel republikanischer und prinzipatszeitlicher Rechtsetzungen geht er den Funktionen dieses rechtlichen Instruments nach und zeigt, dass sein besonderer Vorzug in der hohen Flexibilität lag, die es der Rechtsentwicklung verlieh.
33 Humfress (2007), 62–132; Leesen (2010); Babusiaux (2011) und öfter; Tellegen-Couperus / Tellegen (2013); Kacprzak (2016); Mantovani (2018); Lendon (2022). Vgl. epochen- und kulturübergreifend Wagner-Egelhaaf et al. (2023).
34 Babusiaux (2016).
35 Zum römischen Gesetzesrecht ist einschlägige Literatur im Aufsatz von Sebastian Schmidt-Hofner in diesem Band, Anm. 3, zusammengestellt. Grundlegende Beiträge zu diesem Feld sind Voß (1982) und Eich / Eich (2004).
36 Zum «narratological approach to the Augustan marriage laws» bei Liveley / Shaw (2020), Shaw (2023) u. (2024), sowie Walter (2022) s. oben Anm. 30.
Robert Kirstein und Sebastian Schmidt-Hofner
Das Verhältnis von Recht und Erzählung ist schliesslich auch jenseits des griechischen und römischen Kulturraums zum Gegenstand neuerer Forschungen zur europäischen Antike und ihrem Umfeld geworden. Methodisch stehen dabei bislang der law in literature -Ansatz sowie das Interesse an rechtsrahmenden Erzählungen im Vordergrund; exemplarisch sei hier ein jüngerer Band zu Law and Narrative in the Bible and in Neighbouring Ancient Cultures genannt, der Studien zum Alten und Neuen Testament sowie zum rabbinischen Judentum mit solchen zum griechischen Drama und zu Cicero zusammenführt. 37 Als eine neuere Studie, die law as literature, Recht als Literatur, in den Blick nimmt und unter Einbeziehung im engeren Sinne narratologischer Ansätze sowohl stories about the law als auch stories in the law behandelt, sei aber auf Moshe Simon-Shoshans Untersuchung Stories of the Law. Narrative Discourse and the Construction of Authority in the Mishnah von 2012 verwiesen, die ebenfalls mit einem vergleichenden Blick auf narrative Elemente (spät)römischer Gesetzgebung arbeitet. 38 Diese über Hellas und Rom hinausgehende, integrierende Perspektive auf die Rechtskulturen der Antike wird im vorliegenden Band durch den Beitrag von Maren Niehoff vertreten. Sie argumentiert, dass die Ursprünge des rabbinischen Rechtsgelehrtentums weit früher als üblicherweise in der Forschung angenommen in der Begegnung jüdischer Intellektueller (wie Philon von Alexandrien oder Flavius Josephus) mit der römischen Jurisprudenz zu suchen sind, was sich etwa in Erzählungen zeigt, die die jüdische Synagoge als Ort der Rechtsprechung und als Rechtsschule umdeuten. Regina Grundmann führt diese Analyse gewissermassen in die longue durée, indem sie in ihrem Beitrag die narrative Gestaltung und Rahmung in den Responsa jüdischer Rechtsgelehrter der Moderne untersucht. Zusammen mit dem Aufsatz von Ulrike Babusiaux finden sich diese Beiträge in der Sektion III, «Narrativität im Juristenrecht».
Narratologische Untersuchungen antiker Texte, die der Sphäre des Rechts im engeren Sinne zuzurechnen sind oder sich mit ihr auseinandersetzen, können –so lässt sich resümieren – an eine Vielzahl sowohl etablierter als auch neuerer Forschungsfelder der Altertumswissenschaften anknüpfen und diese um neue Methoden und Fragestellungen ergänzen. Besonders gewinnbringend erscheint hierfür der diachrone und interdisziplinäre Dialog mit Studien zu modernen Rechtsthematiken. Aus Sicht der Herausgeber sind in diesem Kontext vier Bereiche besonders vielversprechend, die hier in vier Sektionen vorgestellt werden: Die narratologische Analyse von courtroom narratives (Sektion I), zu denen in der Antike neben dem reichen Material der Gerichtsreden auch verwandte Texte wie zum Beispiel Petitionen – Zeugen einer in vielen antiken Gesellschaften eminent wichtigen sozialen Praxis – zählen; die narrative Gestaltung von gesetzesförmigen Rechtstexten (Sektion II); die juristische Textproduktion, von Traktaten bis zu
37 Adam et al. (2012). An der Universität Tübingen ist im Jahr 2023 ein Projekt zur «Ästhetik narrativer Rechtskommunikation im Koran und im vormodernen Islam» angelaufen: SFB 1391 Andere Ästhetik, Projekt B8.
38 Simon-Shoshan (2012).