The Red Bulletin AT 05/21

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Künstliche Intelligenz

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eien wir doch ehrlich: Die Menschheit hat keine Chance! Maschinen besiegen uns bereits in Brettspielen wie Schach, sie können sicherer Auto fahren als wir, um Längen schneller rechnen und stellen Zusammenhänge her, von denen wir nicht einmal wussten, dass sie existieren. Es kann nicht mehr lange dauern, dann überwacht Big Brother unser Leben, ein Computer bestimmt über unseren Alltag. Gesichtserkennung und Sprach­ assistenten sind nur die Vorstufen zur Machtübernahme der Maschinen. So oder so ähnlich klingen die üblichen Reflexe auf technischen Fortschritt – ­besonders beim Thema künstliche Intel­ ligenz (KI) zeichnen wir gern Horror­ szenarien. Nur: Ist es wirklich so schlimm, oder gibt es auch Per­spektiven, die uns ­erlauben, einer Zukunft mit KI positiver ent­gegenzublicken? Richard Socher, bis 2020 ForschungsChef für künstliche Intelligenz beim USSoftware-Unternehmen Salesforce, wählt den optimistischen Ansatz. Der gebürtige Dresdner hat an der US-Elite-Uni Stan­ ford promoviert – und dabei übrigens im sagenumwobenen Büro 221 gearbeitet, in dem einst auch die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin forschten. Im Jahr 2014 gründete er das Sprach­ erkennungs-Start-up „Metamind“ und verkaufte es zwei Jahre später an Sales­ force. Heute wendet Socher als CEO des Start-up-Unternehmens „SuSea“ KI in der Praxis an. Zeit für einen Reality Check mit einem, der das Thema in allen Details kennt.

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the red bulletin: Herr Socher, Sie haben den schönen Satz gesagt: „Künstliche Intelligenz zeigt uns, wer wir wirklich sind.“ Also: Wer sind wir? richard socher: Grundsätzlich müssen wir uns fragen: Was macht den Menschen aus? Ein Punkt, durch den wir uns gern von anderen Arten abgrenzen, ist Intelligenz: Das klingt sehr spezifisch, aber da schließen sich viele Fragen an, was das überhaupt ist. Da verhilft uns die künstliche Intelligenz zu interessanten Erkenntnissen. Welchen zum Beispiel? Wir stellen plötzlich fest, dass Auf­gaben, die wir für simpel halten, sehr kompli­ ziert sein können und dass vermeintlich komplizierte Tätigkeiten relativ einfach sind. Nehmen wir Schachspielen: Das ist für Computer eher leicht zu lernen. Der Job von Putzpersonal dagegen ist unglaublich schwierig zu automatisieren. Da steckt viel abstraktes und konkretes Wissen drin, das miteinander verknüpft werden muss: Wie schafft man so Ord­ nung, dass es Sinn ergibt? Was kann eine Maschine heute schon besser als wir Menschen? Aufgaben, die sich wiederholen, zum Beispiel die Analyse von Bildern in der Radiologie. Und die Auswertung sehr großer Datensätze. Es gibt bei Salesforce ein sogenanntes Lead & Opportunity Scoring: Das hilft Vertrieblern, die eine lange Liste von Kunden haben. Wen sollen sie als Erstes anrufen? Wenn eine künstliche Intelligenz die Nachrichten aus der Branche verfolgt – ob es zum Bei­ spiel einen neuen Abteilungsleiter gibt –, bereits gesendete E-Mails überprüft und externe Daten einbezieht, dann kann sie voraussagen: Das sind heute die zehn Leute, die am meisten daran interessiert sind, das Produkt zu kaufen. Diese In­ formation führt dazu, dass die Verkäufer um 30 Prozent effizienter sind. Das verletzt aber womöglich den Stolz des Verkäufers. Klar, es ist wichtig, ihm schlüssig zu erklären, warum er diese Leute anrufen sollte, nur dann vertraut er der Analyse.

Meilensteine in künstlicher Intelligenz haben oft mit Spielen zu tun: Schach, Pokern, das Strategie-Brettspiel Go. Wäre es nicht inter­essanter, mehr Aufmerksamkeit auf ihre Anwendungen im Alltag zu richten? Das ist genau mein Ansatz. Klar war das ein Riesending, als der Computer in Go gewonnen hat, und es hat auch die Art und Weise beeinflusst, wie die Leute spielen. Außerhalb der Spielewelt hat sich durch diese Applikation allerdings eher wenig verändert. Algorithmen in Spielen sind selten hilfreich in der echten Welt, wo nicht alles so schön angeordnet ist wie auf einem Spielbrett. Es gibt sehr viele Unsicher­heiten, der Zufall spielt eine genauso gewaltige Rolle wie das ­Berechnen von Wahrscheinlichkeiten. Und kaum gewinnt eine Maschine gegen den Menschen, heißt es: „Jetzt THE RED BULLETIN


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