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Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser, sicher kennen mich viele von Ihnen als Autorin historischer und zeitgenössischer Romane. Nun habe ich eigens ein „Weihnachts-Büchle“ für Sie zusammengestellt, denn ich liebe diese ganz besondere Zeit im Jahr, wenn Kerzenlicht die dunklen Tage erhellt und Schneeflocken vom Himmel fallen. Einige der Geschichten habe ich schon vor Jahren verfasst, andere sind eigens für dieses Buch entstanden.

Lesen Sie davon, wie Reisende den Heiligabend in einem Zug feiern, welche Kraft das Lied „Mach hoch die Tür“ in einem dunklen Raum entfalten kann, und was eine alte Frau dazu bewegt, mit Obdachlosen den Weihnachtsabend zu verbringen. Und lassen Sie sich hineinnehmen in die Versöhnungsgeschichte zwischen Mutter und Tochter, in eine

Begebenheit bei der Feuerwehr oder die Begegnung mit einem Engel.

Da es sich um vierundzwanzig ganz unterschiedliche Texte handelt, dürfen Sie das Buch gern wie einen Adventskalender behandeln und jeden Tag ein neues „Texttürchen“ öffnen. Aber Sie können auch ganz nach Belieben in die winterlich-weihnachtlichen Geschichten eintauchen und auswählen, welche davon Sie zuerst lesen möchten.

Als ich an diesem Projekt gearbeitet habe, bat ich meine Rundbriefempfänger, mir ihre ganz persönlichen Weihnachtserlebnisse zu schreiben. Eines davon habe ich ein bisschen abgewandelt und als Inspiration für eine der Geschichten genommen. Entsprechend bedanke ich mich bei Sofia Heidebrecht, dass sie mir ihre Kennenlerngeschichte zur Verfügung gestellt hat.

Nun wünsche ich Ihnen viel Freude beim Schmökern und eine reich gesegnete Advents- und Weihnachtszeit!

PS: Besuchen Sie mich gern auf meiner Website, auf Facebook und Instagram oder abonnieren Sie meinen E-Rundbrief unter buecherundbuechle@gmx.de

Perfekt geplant

Heiligabend. Zeit der Besinnlichkeit, der Ruhe und des Zusammenseins als Familie. Es soll ein unvergesslicher Abend in feierlicher Stimmung werden. Ganz oben steht dabei ein festlich gedeckter Tisch, ein leckeres Menü und, nicht zu vergessen, ein wunderschön geschmückter Baum, an dessen grünen Ästen die Kerzen ebenso fröhlich funkeln wie die Kindergesichter strahlen. Unter seinen Zweigen warten liebevoll ausgesuchte, hübsch verpackte Geschenke. Draußen liegt prächtiger Schnee und tagsüber werden die romantisch verschneiten Flächen, Hügel und Tannenspitzen von warmen Sonnenstrahlen beschienen.

Das war lange Zeit mein Traum von Weihnachten. Naiv, wie ich bin, hoffte ich jedes Jahr aufs Neue, dass dieser sich erfüllte. Dabei kannte ich doch Silkes Weihnachtsgeschichte, die meiner sehr ähnlich war …

Silke war rundum zufrieden, denn in diesem Jahr hatte sie schon früh alle Geschenke besorgt und eingepackt. Nicht minder stolz war sie auf ihren Anti-Stress-Heiligabend-Plan, den sie bereits im Herbst entworfen hatte. Den Großeinkauf hatte sie bereits am Vortag erledigt. Ihr Mann würde sich den Nachmittag freinehmen und den Baum hereinholen, aufstellen und schmücken – eine Tanne, die seit drei Tagen am Gartenzaun lehnte. Ihre älteste Tochter und ihr großer Sohn waren beschäftigt und die beiden Kleinen lauschten neuen Hörspielen. Die letzten Vorbereitungen könnten demnach ganz nach Plan beginnen, dachte sie, und öffnete tatkräftig den Kühlschrank.

Sie holte die Zutaten für den traditionellen Vier-Jahreszeiten-Kuchen heraus, der von allen Familienmitgliedern am liebsten warm gegessen wurde. Es handelte sich dabei um einen einfachen Versunkene-Früchte-Kuchen, je zu einem Viertel mit Sauerkirschen, Pfirsichen, Birnen und Mirabellen belegt, sodass jeder eine Ecke fand, die er richtig gern mochte.

Silke holte die seit dem Vortag auftauenden Früchte und arrangierte die Zutaten auf dem Küchentisch. Gerade, als sie das Mehl abwog, stürmte Jan, ihr Jüngster, in die Küche. Tränen rollten über seine geröteten Wangen. Mit großen Augen sah er seine Mutter hilfesuchend an. Deshalb ließ sie alles stehen, ging vor ihm in die Hocke und übersah großzügig, dass er in die Dose mit den geschnittenen Birnen griff. Vermutlich hatte er etwas leckeres Tröstliches nötig.

„Ich habe für alle Geschenke gebastelt“, erklärte er schluchzend und fügte hinzu: „Ich habe sie versteckt.“

Silke nickte ungeduldig, die Augen bereits wieder auf den Rezeptblock gerichtet. Wollte sie ihren Zeitplan einhalten, durften nicht viele Störungen dieser Art auftreten. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein weiteres Birnenstück im Mund des Jungen verschwand. Sie musste sein Problem umgehend lösen, bevor das Jahr ein Quartal zu wenig haben würde –zumindest auf dem Vier-Jahreszeiten-Kuchen!

Schnell fand Silke heraus, was den Bastler bedrückte. Er fand die versteckten Geschenke nicht mehr. Sie ermunterte Jan, nochmals überall zu suchen, schließlich war sein Zimmer nicht so groß, dass Dinge darin einfach verschwinden konnten.

Jan nickte, drehte sich um und rief im Hinausgehen: „Ich wünsche mir zu Weihnachten ein größeres Zimmer!“

Silke runzelte die Stirn. Sie musste sich jetzt unbedingt auf ihren Zeitplan und das Kuchenrezept konzentrieren. Allerdings gaben der kleine und der große Sohn sich die Klinke in die Hand.

Sven wirkte unausgeschlafen und mürrisch, wie sie mit einem kurzen Seitenblick feststellte. Ihm gewährte sie durch ihr Schweigen einen Griff in die Dose mit den Mirabellen, wobei sich in Anbetracht der Größe seiner Hände leichte Bedenken in ihr regten. Dennoch fügte sie Butter, Zucker und Eier zum Mehl hinzu.

„Ich habe Hunger und keine Geschenke“, verkündete Sven. „Hatte keine Zeit, weil die Lehrer alle Arbeiten vor die

Ferien quetschen müssen. Und das Geld ging für die Fahrstunden drauf.“

Silke fragte sich, ob sie wohl das Backpulver bereits hinzugefügt hatte. „Kann ich mir was Essbares aus dem Kühlschrank nehmen?“

Ihr Nicken veranlasste ihren Sohn, sich zu bedienen und mit seiner Beute schnell zu verschwinden. Von Sven würden also keine Geschenke kommen.

Immer noch hielt Silke unschlüssig das geöffnete Backpulvertütchen in der Hand. Sie seufzte und legte es beiseite. Mit einem nervösen Blick auf die Küchenuhr stellte sie fest, wie weit sie mit ihrem Zeitplan bereits in Verzug war. Sie griff nach einem roten Stift und notierte auf dem Plan:

Zeit zum Reden und Trösten einplanen. Andere Familienmitglieder in die Planung mit einbeziehen. Schafft schöne, gemeinsame, mit den Großen ohnehin seltene Zeiten. Dann geht uns auch nicht der Sinn von Weihnachten verloren.

Mira und Lia stürmten zeitgleich in die Küche. Die eine Tochter jammerte, weil Jan oben laut weinte, was sie natürlich nervte. Die andere kam mit dem Basteln ihrer LastMinute-Geschenke nicht zurecht und forderte Hilfe ein.

Silke sah keine Chance, das Plündern der Pfirsichstückchen und Sauerkirschen zu verhindern.

Sie bat Mira, ihre nervliche Anspannung hinunterzuschlucken, und rührte den Teig an. Als sie sich wieder umwandte,

war die Küche leer, die Behältnisse der Sauerkirschen und Pfirsiche ebenfalls. Nicht eben begeistert versenkte sie die reduzierte Anzahl an Mirabellen und Birnen auf zwei nun mager aussehenden Kuchenhälften und stellte das Gebäck in den Ofen. Bevor sie einen sich anbahnenden Zwergenaufstand ein Stockwerk höher schlichten gehen wollte, notierte sie in Rot:

Wichtig: vor den letzten Vorbereitungen ein Gebet um Geduld und starke Nerven!

Schließlich wusste sie, dass ein besinnliches Weihnachtsfest nur dann stattfinden konnte, wenn auch die anderen Familienmitglieder an diesem Tag zufrieden und ausgeglichen waren.

Sie holte die Zutaten für die Würstchen im Schlafrock aus dem Kühlschrank. Zumindest wollte sie das tun. Von den zehn Saitenwürsten hatten seit dem Einkauf am Vortag drei überlebt. Käse und Schinken waren wohl soeben dem immer hungrigen Magen eines Achtzehnjährigen zum Opfer gefallen.

Wütend knallte sie die Kühlschranktür zu. Mit einem Blick auf ihren Plan griff sie erneut nach dem roten Stift und schrieb: Zutaten beschriften und die kleinen und großen Räuber dennoch lieben! Nur so ist ein ruhiges Gespräch über den Kühlschrankinhalt möglich – trotz Stress, Ärger und der schwindenden Aussicht auf ein gelungenes Festessen.

Erleichtert stellte Silke fest, dass ihr Mann pünktlich nach Hause kam. Sie schnappte die eigens für sich vorbereitete Heiligabend-To-do-Liste, um ihn gleich im Flur damit abzufangen. Doch Markus winkte ab. Sein Kopf glühte förmlich, und seine Augen wirkten glasig. Er hustete bellend und verzog sich nach oben ins Bett.

Silke warf einen Blick auf die Liste, zerknüllte sie und ahnte: Dieser Heiligabend würde schwer zu retten sein. Auf ihrem Zeitplan vermerkte sie den Hinweis:

Genügend Zeit für Unvorhergesehenes einplanen. Mir außerdem vor Augen halten, dass niemand mit Absicht gestresst, krank oder verletzt ist.

Nur so würde sie dem Anflug von Überforderung, Selbstmitleid und leise steigendem Zorn trotzen können. Alles Gefühle, denen sie sich an diesem besonderen Abend nicht hingeben wollte. Sie stapfte die Stufen hinauf, erklärte Sven – in Erinnerung an ihre aufgeschriebenen Zeilen überaus ruhig –, dass er ihr gemeinsames Festessen innerhalb von wenigen Minuten verdrückt hatte. Anschließend schickte sie ihn in den strömenden Regen hinaus, damit er den Baum in die Wohnung brachte. Dann half sie, völlig unplanmäßig, Lia bei ihrer wirklich bezaubernden, aber zeitaufwändigen Bastelarbeit und dem Kleinen bei der Suche nach den versteckten Geschenken. Nach erfolglosem Herumsuchen in allen Ecken erklärte Jan schließlich achselzuckend, dass er nun schon Ostergeschenke für seine Geschwister habe, die sie an Ostern suchen könnten.

In diesem Moment kündigte Sven zwei weitere Katastrophen an: „Was soll denn das rauchende schwarze Etwas im Backofen sein, Mama?“, rief er die Treppe hoch. „Außerdem hättest du Oma und Tante Anna vorgestern genauer erklären müssen, wo sie sich Reisigzweige für ihren Weihnachtsstrauß abschneiden dürfen.“

Es braucht nicht viel Fantasie, um sich den Rest des Abends vorzustellen. Silke war nicht gewillt – zudem fehlte ihr die Zeit –, den Braten für den ersten Weihnachtstag zu opfern. Der Baum sah gerupft aus, da Oma und Tante Anna zielsicher die schönsten Äste für ihren Strauß abgeschnitten hatten. Einen Kuchen gab es nicht, und die Bescherung fiel wegen mangelnder Geschenke äußerst knapp aus.

Dafür saßen sie alle zusammen gemütlich im Ehebett. Und Silke stellte fest, dass das „perfekte Fest“ mehr ist als ein abgearbeiteter Plan! Denn sie genossen nun, was zu Weihnachten am wichtigsten ist: das Füreinander und Miteinander. Die Zeit, die Weihnachtsgeschichte zu hören, über das Wunder von Jesu Geburt zu staunen und darüber zu sprechen. Strahlend sangen sie gemeinsam Weihnachtslieder mit vielen, vielen Strophen.

Gerade in den Tagen vor Weihnachten will ich mich an Silkes Geschichte erinnern. Immer dann, wenn ich mittendrin stecke in meinem oftmals selbst gemachten Stress. Ich möchte meinen Anspruch auf Perfektion loslassen, meine Ungeduld zügeln und unnötigen Streit in der Familie vermeiden. Dabei bedenke ich auch den eigentlichen Grund, weshalb diese Tage etwas Besonderes

sind. Nach Gottes perfektem Plan schickte er Jesus in unsere Welt (wenngleich Maria und Josef vielleicht einen anderen Zeitpunkt vorgezogen hätten). Gott befreite uns durch sein Geschenk von unserer Schuld – auch von unseren selbst auferlegten Zwängen.

Darum kann ich mir meine Fehler und die der anderen vergeben. Und: Während wir Menschen fehlerhaft sind, ist Gottes Geschenk an uns – Jesus Christus – absolut perfekt. Dieser wird es auch sein, der uns „perfekt macht“ für die Ewigkeit. Deshalb ist jedes Weihnachten ein Dankesfest für Gottes perfektes Geschenk –mit oder ohne perfekten Tannenbaum oder Festmenü.

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