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Liebe Leserin, lieber Leser, schön, dass du zu diesem Buch gegriffen hast – und ich dich auf den kommenden Seiten ein bisschen „mitnehmen“ darf in dieses einzigartige, vielschichtige Land am Mittelmeer: Israel.

Das Land, das schon viele Jahre ein ferner Sehnsuchtsort für mich war, wurde im Herbst 2019 endlich zu meinem konkreten Reiseziel. Von meiner unvergesslichen Zeit dort möchte ich dir hier erzählen.

Ich entschied mich für eine Individualreise auf eigene Faust ohne den komfortablen Begleitschutz einer Reisegruppe, aber auch ohne deren einengende Taktung. Dafür mit wachem Blick für Details am Rande des Geschehens. Ich wollte offen sein für Unerwartetes, für Fügungen, für neues Sehen. In meinem Bericht geht es um jene kleinen Begegnungen in Kirchen, Herbergen, Bussen und Bahnhöfen, im Gewühl Jerusalemer Altstadtgassen oder am Tel Aviver Strand.

Ich beschreibe einen Tag in Bethlehem in Gesellschaft zweier türkischer Hostel-Mitbewohnerinnen und als Kontrast einen Reformations-Festgottesdienst in der Erlöserkirche in Jerusalem. Ich erzähle von einem Stadtbummel durch Jaffa an der Seite des besten Tourguides des Mittelmeerraumes, einer Busfahrt mit einer Musikerin, von einem unbeschwerten Badetag am Meer und von Gesprächen mit meinen Gastgebern: einem ungewöhnlichen jüdischen Ehepaar.

Als Deutsche stellte ich mich dem dunklen Kapitel des Holocaust, versuchte zu begreifen, was nicht zu begreifen ist. Im Land der Bibel begegnete ich Gott und seinem Sohn Jesus, dem

Messias, ganz neu. Ich wurde mir meiner jüdischen Glaubenswurzeln immer deutlicher bewusst, spürte aber auch den Spannungsbogen zwischen Christen und Juden. Dabei freute ich mich über Brückenbauer auf beiden Seiten, ganz besonders über messianische Juden, die ich kennenlernen durfte.

Ein tieferes Verständnis wuchs in mir heran: für die Juden als Volk Gottes, für das Judentum als Glaubensgrundlage und als identitätsstiftendes System. Viele Fragen wurden beantwortet, manche blieben offen – müssen es bleiben – oder stellen sich ganz neu.

Als Ich-Erzähler beobachte ich, philosophiere, politisiere, theologisiere – all das als Laie, als Frau in den besten Jahren, die Kunst und Kultur, Sprachen, Bücher, Musik, Filme, gutes Essen, gute Gespräche – und Gott liebt.

Meine Reiseerzählungen sind Momentaufnahmen, sie fangen Erlebtes, Gewagtes, Gedachtes ein, verbinden es mit Gehörtem und Gelesenem. Sie sind mein Blick auf die Dinge – durch meine ganz eigene Brille.

Daran will ich auch dich teilhaben lassen, mal in ernsthaftem Ton, mal im Plauderton, mal sachlich, mal sinnierend, mal in gedanklichen Zeitreisen, aber meist im Hier und Jetzt. Und ganz sicher möchte ich Neugierde wecken und vielleicht auch Reiselust auf dieses Land im Mittleren Osten: das Heilige Land, von dem ich „hin und weg“ bin.

Viel Freude beim Lesen und Shalom!

1. Abflug, Abraham und

Alijah

Ein Jude musste aus seiner bisherigen Heimat flüchten. Nun betritt er in Israel das Land und seufzt:

„Zweitausend Jahre haben wir umsonst um Rückkehr gebetet –und ausgerechnet mich muss es nun treffen!“

– Jüdischer Witz –

Da ist er endlich: mein Abflugtag nach Israel – ersehnt, geplant und vorbereitet von langer Hand wie die ganze Reise! Wie habe ich darauf hingefiebert! Und mir Momente dieses Abenteuers ausgemalt, was meine Vorfreude jedes Mal gehörig ansteigen ließ.

Frühmorgens würde ich noch ein letztes Mal meine Kaffeemaschine betätigen, am Abend aber schon in mir so gänzlich unbekannten Gefilden, fast 3.000 km weiter südöstlich, zu Bett gehen. Dort würde ich vermutlich auf einer viel zu harten HostelMatratze liegen und vor lauter Glück und neuen, überwältigenden Eindrücken nicht schlafen können.

Nervös stehe ich an der Bushaltestelle, in Dunkelheit und Oktoberregen, mit klammen Fingern am Griff meines kleinen Rollkoffers, den Blick auf die schwach beleuchtete Fahrplan-Tafel geheftet. Wo bleibt nur der Bus? Der kommt doch eigentlich nie zu spät! Vor allem nicht frühmorgens um 5:47 Uhr.

Allmählich keimt Panik in mir auf. Was, wenn genau dieser Bus heute ausfällt? Eine Panne hat oder mit leerem Tank liegen geblieben ist? Wenn ich nicht genau recherchiert habe und er gerade schon weg ist?

Ich zücke mein Handy, öffne die ÖPNV-App und erstarre beim Blick auf die mir entgegenspringenden Ziffern – ich bin zu spät!

Ein Taxi rufen? Das braucht sicher auch einige Minuten. Oder auf den nächsten Bus warten? Letzteres müsste doch auch noch klappen!

„Bitte, lieber Gott, lass mich noch rechtzeitig am Busbahnhof ankommen! Lass den Airport Express, den liebsten meiner Busse, noch da sein! Bitte, bitte!“

Ich komme noch rechtzeitig an! Zwar bin ich durchnässt in meinem dünnen Jäckchen (wer wird denn eine Winterjacke bei 20 Grad durch den Mittleren Osten schleppen? Und einen Schirm nach Tel Aviv?), aber ohne Verluste an Koffer, Geld, Pass, Fahrkarte, Handy und guter Laune.

Na ja, fast … Scham und Ärger über mich selbst wollen mich schier zerpflücken, doch ich beschließe, der guten Laune den Vorzug zu geben. Keinem Menschen würde ich diese Blamage erzählen, diese Beinahe-Katastrophe. Schon gar nicht meinen Liebsten, die mir ihre Taxidienste angeboten hatten. In einem Anflug von ökologisch korrekter Wertehaltung (diesen Teil meiner Reise betreffend) hatte ich aber abgelehnt. Mit den Öffentlichen musste es doch auch gehen!

Erleichtert lasse ich mich in meinen Sitz fallen, der Shuttlebus nimmt Kurs auf den Münchener Flughafen. Mein Flugticket ist bezahlt und die Maschine von El Al wird vollgetankt am Rollfeld stehen. Was soll da noch schiefgehen?

Israel, ich komme!

Eigentlich meinte ich, diesen Flughafen zu kennen, heute Morgen aber entpuppt er sich als tückisches Labyrinth mit boshafterweise unbesetzten Infoschaltern. Nach halbstündigem Umherirren durch seine endlosen menschenleeren Gänge und einem Déjà-vu mit Gate 2 treffe ich endlich auf eine brauchbare Spur:

Vor mir taucht, von einer Seitentreppe kommend, eine Familie auf, laut parlierend auf Hebräisch!

Geschafft! Da lang geht’s also zu El Al, der israelischen Fluglinie und dem dafür ausgewiesenen, aus Gründen der Sicherheit ziemlich abgelegenen Gate. Voller Freude lausche ich auf die ungewohnten Rachenlaute, so gut es in diesem flotten Rollkoffer-Galopp möglich ist. Diese Sprache wird mich nun die nächsten zehn Tage begleiten – schön! Ich lasse mich doch immer gerne auf Neues ein! Und wieder durchströmt mich Vorfreude, dieses wunderbar geheimnisvolle, warme Gefühl, wie schon so oft in den letzten Wochen.

„Abraham“, lese ich auf dem Namensschild dicht vor meinen Augen. Es gehört zu dem netten Mann in Uniform, der meinen Pass sehen will. Und wissen will, wohin ich reisen wolle. Bei wem ich da wohnen werde und was ich da so vorhätte in Israel. Wir kommen ins Plaudern – nein, nicht auf Deutsch, das von seiner Seite eher zu wünschen übrig lässt, aber auf Englisch. Und so erfährt Herr Abraham letztlich mehr, als ich vorhatte zu erzählen. Er hat Zeit, ich ja eigentlich auch – schließlich habe ich Grund anzunehmen, dass Herr Abraham über die Abflugzeit der nächsten Maschine, meiner Maschine, informiert ist.

Es gelingt mir, ihm glaubhaft zu versichern, dass ich meinen

Koffer selbst gepackt habe und sich demnach nur Dinge darin befinden, die da auch sein dürfen.

Er ist zufrieden und weist mich mit einer eindeutigen Kinnbewegung an: „Bitte: dahin!“

Also auf zu den Kollegen am Gepäck-Kontrollband.

Nach einem ausführlichen Check meines Necessaires mit gründlicher Tabletten-Drogen-Tinktur-Feinstaub-Creme-Testung hat man wohl Vertrauen gefasst und lässt mich passieren. Fast meine ich zu sehen, dass mir die überall präsenten, zu Recht schwer bewaffneten Wachposten freundlich zunicken. Alle ande-

ren Aspiranten dieses Fluges werden nach ähnlichen Kontrollen ebenso durchgelassen.

Endlich kann ich im offiziellen Wartebereich des Gates in mein Käsebrot beißen, mir Wasser nachfüllen und mich an dem Gefühl von geprüfter Sicherheit erfreuen. Noch schnell ein Paar Kopfhörer im Shop gekauft, die billigen tun es auch, das weiß ich vom letzten Flug – wo sind die nur geblieben? Ich habe ja nicht unbedingt vor, mich auf dem vierstündigen Flug mit elektronischen Dingen abzulenken. Aber am Abend, auf meinem gebuchten Vierer-Zimmer, könnten sie sich als ganz nützlich erweisen.

Ob ich noch mehr Abrahams treffen werde? In Israel, dem Land des berühmten, mutigen, absolut auf Gott vertrauenden Stammvaters Abraham? Und Vorvaters mehrerer Nationen, Völker, Religionen, denen ich in Kürze begegnen werde …?

Ja, ich kenne diese alten biblischen Geschichten gut. Von Kindesbeinen an hat meine Großmutter sie mir erzählt und damit einen Grundstock an Neugierde, Staunen und Bewunderung für alle Helden dieses besonderen Buches in mich hineingelegt. Und auch eine gewisse Sehnsucht, mehr von diesem unbekannten und doch so nahbaren Gott und seinem Volk zu erfahren.

Wie kam es nun dazu, dass Gott, der Allmächtige, sich so direkt an Abraham wandte? In Genesis 12 lese ich (so oder so ähnlich) von dieser ersten Kontaktaufnahme:

„Abraham – pack deine Habe zusammen, nimm deine Familie und mach dich auf den Weg!“

„Herr, wer bist du? Und wohin soll ich gehen?“

„Vertrau mir – Ich bin der ICH BIN – und bringe dich in ein neues Land. Es soll dir und deinen Nachkommen gehören!“

„Aber, Herr – warum sollen wir überhaupt hier weggehen, unser Zuhause verlassen? Und … wie sag ich’s meiner Frau?“

„Vertrau mir! Ich habe große Pläne mit dir, etwas Neues wird beginnen.“

„Wenn du es sagst, mein Gott, dann werde ich’s genau so machen!“

„Ich freu mich, Abraham, let‘s go! Und vergiss nie: Ich, der Ewige, bin immer bei dir. Ich werde dich leiten.“

So ähnlich stelle ich mir diese erste Kontaktaufnahme Gottes mit Abraham vor.

„Sei du auch bei mir, du großer Gott, begleite auch mich jetzt auf diesem Abenteuer durch dieses fremde, aber wunderbar faszinierende Land!“ Das ist mein Gebet, hoch über den Wolken, während die Motoren leise und beruhigend konstant brummen. Die Passagiere sind beschäftigt mit Lesen, Dösen, Essen. Die üblichen Verrichtungen eben, die in zehntausend Metern Höhe in einem Flugzeug möglich sind. Vier gute Stunden werden wir unterwegs sein und ich richte mich auf meinem Platz dementsprechend häuslich ein.

Ich sitze am Fenster und bin versucht, meine Nase an die Scheibe zu pressen. Ich bin eine Flug-Genießerin, wusste schon als Kind, bevor ich jemals ein Flugzeug von innen gesehen hatte, dass ich eine sein würde.

Kurz denke ich an die Möglichkeit eines Absturzes. Wer tut das nicht? Dennoch erlaube ich diesen Gedanken nicht, größeren Raum einzunehmen. Kann ich doch diesbezüglich nichts verhindern, nichts beeinflussen. Auch da weiß ich mich ohne jeden Zweifel in der Hand des Höchsten.

Eine dichte Wolkendecke hüllt bald alles Sichtbare ein. Nur ab und zu reißt sie auf, um den Blick freizugeben auf ein dunkel schimmerndes Mittelmeer …

Ich schaue raus, halte Zwiesprache mit dem himmlischen Vater, verliere mich in Tagträumereien, die in Träume übergehen und die allesamt am Zielort dieses Fluges spielen. Wie viel Zeit mag vergangen sein?

Eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Es ist der Kapitän, der unsere Landung ankündigt. Brav folgen wir seinen Anweisungen, schnallen uns wieder an und klappen Tischchen hoch. Nach wenigen Minuten Sinkflug tauchen die ersten Hochhäuser im Fensterausschnitt auf: Tel Aviv.

Aufsetzen, Bremsmanöver und langsames Ausrollen klappen lehrbuchmäßig – Gott sei Dank! Der Flieger spuckt uns aus und entlässt uns in ein System von Korridoren, repräsentativen Wartehallen und mehrstufigen Kontrollpunkten.

Ich sehe Touristen, ein Basketballteam mit lauter baumlangen Kerlen, Geschäftsreisende, ältere Herren mit ausladenden Hüten und Schläfenlocken, jüngere Männer mit Kippas und schwarzen Gehröcken, dahinter Frauen mit langen Röcken, Kopftüchern und etlichen Kindern im Schlepptau. Dazwischen immer wieder Soldaten – mal selbst als Reisende, dann aber auch zahlreich als Hüter unserer Sicherheit. Meine Ohren vernehmen Wortfetzen in allen möglichen Sprachen: Hebräisch, Russisch, Arabisch, Französisch und immer wieder Englisch. Wie gut: etwas Bekanntes! Damit scheint man hier wunderbar durchzukommen.

Wie dankbar bin ich meiner Englischlehrerin, die uns einen so soliden, ja, exzellenten Sprachunterricht angedeihen ließ, dass ich mich nun wacker durchschlagen kann! Das war im Ostblock überhaupt nicht selbstverständlich – es dominierte lange Zeit Russisch. Im kommunistischen Rumänien, diesem Ausreißer unter den sowjethörigen Staaten, aber seit den Sechzigerjahren durchaus üblich.

Frau Schwarz war selbst Jüdin, das hatte ich mitbekommen, und ich spürte damals schon eine besondere Aura des Geheimnisvollen, Bedeutungsträchtigen, die sie umgab …

Natürlich trauten wir Schülerinnen uns keineswegs, etwas Konkretes in diese Richtung zu fragen, aber Gedanken machte ich mir schon: Was hatte Frau Schwarz in jenen dunklen Zei-

ten der Naziherrschaft als Heranwachsende erlebt, was hatte ihre Familie erdulden müssen? Wie war sie durchgekommen im Rumänien der Kriegs- und Nachkriegszeit, als ein brutales, menschenverachtendes Terrorregime durch ein fast ebensolches ersetzt wurde?

Dann waren andere Gruppen in das Fadenkreuz nun kommunistisch-atheistischer Verfolger gerückt; Juden konnten aufatmen – Gott sei Dank! So blieb Frau Schwarz wohl wie einige wenige andere.

Die meisten jüdischstämmigen Überlebenden aus Rumänien aber wanderten aus nach Amerika, Australien, aber vor allem nach Israel, in den neu gegründeten Staat zwischen Meer und Wüste, das Land ihrer Ahnen. In Tel Aviv sollen sich viele von ihnen niedergelassen haben. Kein Wunder, ähnelt die Stadt doch irgendwie der großen, mondänen Weltstadt Bukarest, wo nicht wenige von ihnen früher beheimatet waren …

Nun waren sie also hierher zurückgekehrt wie Hunderttausende andere aus allen fünf Kontinenten. Sie alle waren Immigranten mit großen Hoffnungen auf ein neues Aufblühen ihrer Nation. Sie alle hatten „Alijah“ gemacht, wie die jüdische Einwanderung nach Israel heißt – wörtlich: „Aufstieg“ (nach Jerusalem).

Ein Wunder, dass dieser Staat überhaupt gegründet werden konnte! Ein David umgeben von lauter Goliaths, ein Pflänzchen, zart und von ausgesprochenem Seltenheitswert.

War da nicht eine schützende Hand darüber zu spüren? Göttlich und unbesiegbar. War dieser Tag im Mai 1948 nicht das Einlösen eines uralten Versprechens auf die Neubelebung der jüdischen Nation? Der Beginn einer Wiederherstellung und das Ende der Heimatlosigkeit!

Durch die Jahrtausende waren die Nachkommen Abrahams und Isaaks mehrmals verschleppt, versklavt und zerstreut worden, erstmals von den Babyloniern, dann im Jahr 70 nach Chris-

tus von den Römern. Und immer wieder wurden sie von den Nationen, in deren Ländern sie inzwischen ansässig geworden waren, verdrängt, ausgegrenzt, angefeindet.

Nun also, nach fast 2.000 Jahren Exil – kaum jemand hatte in und um Jerusalem diese schwierigen Zeiten überlebt –, kamen viele ihrer Nachkommen heim, ins Land ihrer Väter, nach „Eretz Israel“. Sie fühlten sich ihnen verbunden durch Glauben, Gebote und Traditionen – oder sie lernten diese Verbundenheit wieder neu kennen, manche auch neu lieben. Sprache war dabei eher etwas Trennendes und musste erst neu gefunden werden. Also wurde ein neues, modernes Hebräisch gestaltet und von den Neuankömmlingen gelernt.

Bewundernswert, wie Groß und Klein das jetzt sprechen! Scheinbar mühelos! Na klar, jede Sprache lässt sich lernen – man nehme nur genügend Zeit und starke Motivation. Viel leichter haben es natürlich alle, die schon hier geboren sind. Augenscheinlich die meisten Menschen, die hier durch den Flughafen drängeln.

Wer von ihnen ist nun eingewandert, vielleicht kürzlich erst angekommen mit Sack und Pack aus Frankreich, aus Russland, aus Äthiopien?

Wer wohnt schon in zweiter, dritter, vierter Generation im Land?

Wessen Großeltern sind damals mit Schiffen übers Meer geflüchtet, froh, Europa entkommen zu sein, hoffend, aufgenommen zu werden?

Wer kann sich noch an Vaters Erzählungen über seine Kindheit in Wien, Berlin oder Prag erinnern? Wer hat Mama noch Deutsch sprechen gehört oder Oma Jiddisch?

Überwältigt von den Eindrücken, Stimmen, Erinnerungen und Gedanken lasse ich mich vom Strom der Angekommenen mitziehen und lande nun draußen im gleißenden Sonnenlicht vor den Toren der großen Stadt.

2. Begegnungen im Hostel

Einige Einwanderer aus einem unterentwickelten Land bekommen ein hübsches Häuschen zugewiesen. Am Abend werden sie von den Nachbarn eingeladen zu einem modernen Picknick im Garten. Die Hausfrau grillt Würstchen am offenen Grill. „Merkwürdig“, sinniert der alte eingeladene Großvater, „früher war das Klo draußen und wir aßen im Haus. Jetzt ist es umgekehrt.“

– Jüdischer Witz –

Es ist schlagartig dunkel geworden um 17:00 Uhr. Gerade bin ich in Jerusalem aus dem Bus gestiegen und schaue mich etwas orientierungslos um. Spüre ich da einen Hauch von Enttäuschung, weil die Straßenzüge hier so gewöhnlich aussehen wie anderswo auch?

Ich erkenne einige bekannte Modeshops, es wimmelt nur so von Schuh- und Handyläden. Dazwischen Imbisslokale und Unterwäsche … Nun, das hier ist ja auch noch nicht die Altstadt!

Ich ziehe mein Köfferchen hinter mir her. Auch das eine schon leicht wackelige Rädchen scheint noch durchzuhalten. Kein Wunder, dass es etwas Spiel hat nach etlichen Kilometern auf Frankreichs Kopfsteinpflaster und Lissabons Treppen … Falls es doch wegbräche, hätte ich hier alle hundert Meter die Möglichkeit, mir ein neues Gepäckstück zu kaufen. Man versteht sich in diesem kleinen, schmalen Land aufs Reisen!

Um drei Ecken herum müsste eigentlich mein Hostel liegen. (Auch wenn es sich um eine einfache Herberge handelt, gehe ich davon aus, dass sich die Toilette drinnen befindet!) Aber: Hilfe,

ich finde es nicht! Also rufe ich kurz entschlossen die eingespeicherte Nummer an und lasse mir den Weg von einer freundlichen Stimme erklären.

Dass ich mir Offline-Karten runtergeladen hatte, ist mir leider gerade entfallen. Und dass dieser Anruf mich schlappe vierzig Euro kosten soll, wird mir meine Handyrechnung erst hinterher offenbaren. Geschenkt! Wer sagt denn, dass Reisen billig sei? Auf jeden Fall kostet eine Nacht in meiner Herberge plus Schlemmerfrühstück dann genau so viel …

„Good evening, I‘m Heidi from Germany – we just phoned ten minutes ago.“

„O yes, welcome at our hostel! You‘re going to stay six days? Here is your key: room 205. Want to have breakfast?“

Ein wirklich nettes Gespräch entwickelt sich. Ich fühle einen Anflug von zufriedenem Stolz, einen von der guten Sorte.

Ja, alles richtig gemacht: gute Wahl, dieses Hostel! Die Fotos an den Wänden des schmalen Treppenhauses wecken in mir Lust auf mehr – mehr sehen, mehr erleben, mehr eintauchen in diese fremde Welt. Wie lange musste ich darauf warten? Ein gutes halbes Jahrhundert! Und immer wieder überrascht mich die Tatsache, Weltbürgerin zu sein, nicht mehr eingesperrt hinter dem Eisernen Vorhang, wo ein Reisepass einen höchstens bis an die Außengrenzen anderer sozialistischer Bruderländer brachte … Jetzt nicht sentimental werden, nicht trauern über das, was früher nicht möglich war. Freu dich, sage ich innerlich zu mir selbst, du bist jetzt hier!

Wieso fällt es uns Menschen nur so schwer, den Moment zu genießen, auszukosten, was man gerade Schönes, Herzerhebendes erlebt? Den Gedanken werde ich in den kommenden Tagen noch öfter haben. Ich nehme mir aber fest vor, genau das zu tun, bewusst und immer konsequenter: den Augenblick genießen! Glück und Dankbarkeit in voller Intensität zuzulassen. In Kauf

zu nehmen, dass Tränen hochsteigen ungeachtet möglicher ungebetener Zuschauer um einen herum – die sowieso mit eigenen Dingen beschäftigt sind …

Dann stehe ich schon vor der Zimmertür. Doch wieso geht sie nicht auf? Was mache ich falsch? Ja, ich bin also tatsächlich noch keine routinierte Tür-mit-Schlüsselkarte-Öffnerin.

„Excuse me, would you please help me?“

Der nette junge Mann will sowieso hier rein, öffnet mit eleganter Lässigkeit, die mir offensichtlich noch fehlt, die Zimmertür und lässt mir höflich den Vortritt. Schwungvoll ziehe ich mein Köfferchen in die Mitte des Raumes und blicke erstaunt in ein weiteres Paar erstaunter Augen. Der dazugehörende smarte Typ schwingt sich gerade vom oberen Stockbett runter und verschwindet gelassen, mit wenig mehr als einem Handtuch bekleidet, in der Dusche.

„O, das ist“ – ich inspiziere die aufgedruckte Zimmernummer erstmals genau –, „das ist dann doch nicht mein Zimmer –äh … sorry …“

Ein Lächeln von zwei weiteren männlichen Augenpaaren, amüsiert, aber dennoch wohlwollend, begleitet mich hinaus. Das war wohl nichts – beziehungsweise ein Männer-Zimmer. Aber dann, eine Treppe höher, finde ich Nummer 205, ein echtes Frauen-Zimmer, das mir für die nächste Woche zu einer Art Heimat werden soll.

Zimmer 205 erwartet mich gut aufgeräumt: Außer einem großen Rucksack und ein Paar Wanderschuhen unter dem Fenster sehe ich nichts, was auf weitere Gäste hindeutet.

Ich nehme mein Bett in Besitz, breite meine Siebensachen aus, mache mich mit Licht und Steckdose vertraut und finde heraus, wie die Tür zur Duschkabine zubleibt. Über die Wäscheleine am Balkönchen freue ich mich – und bin mir sicher, dass man sich über Öffnen und Schließen der Rollos wird einigen können.

Charly, die Australierin und Besitzerin dieser soliden Habseligkeiten, lerne ich gleich darauf kennen. Sie kommt mit einer frisch gefüllten Flasche Sprudelwasser ins Zimmer.

„Hello, nice to meet you! I’m Charly from Australia. I’ll stay one more night – and you?“

„Hello Charly, I’m Heidi from Germany, just arrived.“

Nach fünf Minuten wissen wir so einiges voneinander. Auch, dass dieses Wasser in Charlys Flasche „for free“ oben im Frühstücksraum zu haben sei, jederzeit. Echt gut, das zu wissen bei dem schönen Spätsommerwetter, das für Jerusalem angekündigt ist – und in Anbetracht der vielen Wegstrecken, die ich für Ausflüge, Stadtrundgänge und Besichtigungen geplant habe. Wo ich doch so oft zu trinken vergesse … Also stelle ich meine leichte Trinkflasche so auf, dass ich sie keinesfalls übersehen kann. Gleich will ich sie füllen.

Charly erzählt von ihrem Trip durch die halbe Welt, dann von den überwältigenden Eindrücken, die die antike Felsenstadt Petra in Jordanien in ihr hinterlassen hat. Ich kann sie mir gut vorstellen, wie sie mit Schweißperlen auf der Stirn und dem riesigen grünen Rucksack durch die zerklüfteten Felswände klettert.

So viel Mut habe ich gerade nicht, stelle ich neidlos fest, um allein durch solche doch nicht ganz sicheren Gegenden zu streichen. Dass ich jetzt hier in Israel bin, allein meine Reise geplant und bis hierher auch gut bewältigt habe – das scheint mir für meine Verhältnisse absolut ausreichend zu sein!

„Danke, lieber Gott, dass du mich bis hierher gebracht hast! Jordanien darf ruhig noch warten.“

Kurze Zeit später lerne ich Marie kennen. Sie ist Polin und spricht ausgezeichnet Englisch. Marie war schon schnorcheln im Roten Meer, hat Schlammpackungen am Toten Meer ausprobiert und den Nationalpark En Gedi durchwandert. Ja, die Messlatte hängt hoch!

Wir stehen beide vor dem Wasserautomaten, ich betätige die Knöpfe zur Probe: Ja, da zischt das Sprudelwasser raus und hier, viel leiser und unaufgeregter, das stille Wasser.

Marie ist eine lustige Frau um die dreißig und kennt sich mit Hostels gut aus.

„Morgen früh können wir hier zusammen frühstücken. Der Kaffee ist übrigens ausgezeichnet!“ Sie deutet dabei auf den dunkelbraunen, eleganten Kaffeeautomaten auf der Theke mitten im Essbereich.

„Und das Schakschuka musst du unbedingt probieren. Genial!“

Aha, das klingt gut und eher nach etwas Deftigem. Wie gut und deftig es ist – und zwar jeden Morgen aufs Neue –, das soll mir in den nächsten Tagen klar werden. Ich werde es lieben lernen!

Mein Abendprogramm besteht aus Ladekabel suchen, duschen, Wertsachen in den Spind räumen, feststellen, dass man ein eigenes Schloss dafür hätte mitbringen müssen, runterlaufen, an der Rezeption ein kleines, sehr kleines, grazil und zerbrechlich wirkendes Exemplar kaufen, wieder hochlaufen, Schlösschen anbringen, Wertsachen noch mal rausholen, umschichten. Geldkarten und Bargeld aufteilen – drei Plätze sind noch besser als zwei!

Wer da was hätte klauen sollen, werde ich auch nach einer Woche Aufenthalt noch nicht wissen. Ein Zimmermädchen werde ich niemals sehen, auch nicht deren eventuelle Spuren (oder halt: War da nicht ein geleerter Papierkorb?) – und meine Mitbewohnerinnen sind mir allesamt fast zu Freundinnen geworden.

Mein Fazit also: Dies ist ein wahrlich ehrenwertes Haus – in dieser Hinsicht jedenfalls.

Elif und Mariam, zwei weitere Zimmergenossinnen, die ich noch näher kennenlernen werde, kommen nun ebenfalls ins Zimmer. Ich bin gerade dabei, Nachrichten zu schreiben – meine Lieben zu Hause sollen sich doch keine Sorgen machen!

Den Vorhang habe ich halb zugezogen. Er ist dunkelgrau, blickdicht und läuft auf leisen Stoffschlaufen – und er ist der Grund dafür, dass ich mich genau in diesem Hostel eingemietet habe.

So ein Stück Privatsphäre ist doch ein wahrer Luxus für jeden Low-Budget-Reisenden und noch viel mehr für jede Low-Budget-Reisende. Also für mich.

Apropos Low-Budget: Im Hostel zu logieren und nicht in einem seriösen Hotel, wie es sich für eine Mittfünfzigerin wohl üblicherweise gehört, war nun mal einfach die beste Option für mich! Denn: Ein Jahr länger sparen, währenddessen nur Runden in und um heimische Baggerseen drehen oder ein günstigeres Abenteuer wählen – das wollte ich nicht. Dass ich eine bekennende Baggersee-Liebhaberin bin, steht außer Frage – aber jetzt musste es einfach die Ferne sein, das Unbekannte, endlich das „Gelobte Land“.

In der Hoffnung, allein gut durchzukommen, nicht unter die Räuber zu fallen und nicht bei der Polizei oder im Hospital zu landen, hatte ich mich also für einen Schlafplatz in einem Hostel entschieden.

Im Zeitalter des „Sharing“ – warum nicht ein Zimmer teilen?

Dass darüber hinaus auch Eindrücke, Erlebnisse, Erkenntnisse, Freude und Staunen, Leben und Lachen geteilt werden würden, das war eigentlich voraussehbar und hat mich bestärkt in meiner Entscheidung.

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