Die
einer
Wie ich als Straßenkind aus Kasachstan meinen Wert bei Gott fand

ASCHENPUTTELS alte Schuhe
2009, Saran in Zentralkasachstan
Das gelb gestrichene, große Gebäude vor mir gleicht einem Spielzeughaus, das in einer Mülldeponie ausgesetzt wurde. Die hohe Fassade mit vielen Fenstern, der verzierte Zaun mit dem breiten Tor und die sorgfältig gepflegten Grünflächen im Vorhof – mitten im heruntergekommenen Nirgendwo Kasachstans. Umgeben von den dreckigen Straßen des ärmlichen Ortes Saran wirkt das Bauwerk deplatziert. Doch welcher Platz könnte sich für ein Kinderheim besser eignen als zwischen Schmutz und Armut?
Nadya öffnet das Gittertor und läuft zielstrebig den Weg zwischen den bewässerten Beeten entlang in Richtung Eingangstür. Ich folge der ehemaligen Heimmitarbeiterin langsam. Mein Blick schweift über die ordentlich geschnittenen Hecken, die geputzten Fensterreihen, das kleine, sechseckige Schwimmbecken in der Mitte des symmetrisch arrangierten Geländes. Alles will ich in mich aufsaugen und meine Augen kommen dabei kaum hinterher.
Wir erreichen den Haupteingang und Nadya klopft kräftig an die Metalltür. Nach vier Jahren Missionseinsatz im Kinderheim weiß sie auch nach längerer Abwesenheit, wie laut sie sich bemerkbar machen muss. Während wir einen Augenblick warten, blicke ich zurück zum Tor. Die grau-braune Straße hinter der Umzäunung scheint nun genauso unwirklich, wie es von außen das strahlend schöne Gebäude gewesen war.
Die Tür öffnet sich und eine Frau mittleren Alters begrüßt uns erfreut in russischer Sprache. Wir betreten den Eingangsbereich und stehen vor einem breiten Treppenaufgang, der sich nach einem Absatz aufteilt und entlang der beiden Raumseiten weiterverläuft.
Die Heimerzieherin Tanja führt uns herum durch die Flure, die Küche, die Gemeinschaftsräume. Alle, denen wir begegnen, empfangen Nadya sehr herzlich und freuen sich über den Besuch einer Bekannten, die einst eine von ihnen gewesen ist. Auch ich werde freundlich begrüßt und antworte auf Russisch mit einem starken deutschen Akzent. Besucher von weit her, insbesondere aus Deutschland, ist das Kinderheim gewohnt.
Im Anschluss an den kleinen Rundgang stehen Nadya, Tanja und ich mit der langjährigen Mitarbeiterin Tante Lida in der Küche. Nach ein paar Worten des Austausches meint die Älteste im Kreis: »Wir warten alle noch auf die Ankunft von Natascha. Sie war ein Heimkind bei uns, kurz nach der Gründung des Heims. Sie möchte uns besuchen, hat man uns gesagt. Wir sind gespannt, ob sie heute noch kommt.«
Einen Moment lang schaue ich in das vertraute Gesicht.
»Ich bin da«, bricht es endlich aus mir hervor. »Ich bin Natascha.«
Der Speisesaal befindet sich mittlerweile in einem großen, achteckigen Anbau. Auf dem Weg zum neuen Gebäudebereich erscheint mir alles viel kleiner, so wie es den meisten Erwachsenen vorkommt, wenn sie Orte der eigenen Kindheit besuchen. Doch meine Neugier ist noch genauso groß wie damals. Die Mischung aus Bekanntem und Fremdem irritiert und lockt zugleich. Gespannt betrete ich den wabenförmigen Raum, wo sich die Heimgemeinschaft zu den Mahlzeiten versammelt.
Viele der Kinderaugen mustern neugierig die Fremde, andere linsen nur verstohlen herüber und tuscheln dann aufgeregt mit ihren Sitznachbarn. Mein Blick wandert durch das geräumige Zimmer und gleicht das Gesehene mit meinen Erinnerungen ab. Die Tische und Stühle sind neuer, aber von ähnlich robuster, schlichter Art. Wie zu meiner Zeit sitzen die Kinder nach Altersgruppen sortiert an den Tischen. Noch immer ist alles bunt und gemustert: die Vorhänge, die Wanddeko, die Kleider der vielen Kinder. Im Saal mischen sich Stimmengewirr und Geschirrklappern, Eintopfdampf und Teeduft.
Der Geruch erinnert mich an meine erste anständige Mahlzeit im Heim. So lecker, so reichlich – es weckte in mir glückliches Staunen und gieriges Verlangen. Ich wollte mehr davon und zukünftig nichts anderes mehr! Dementsprechend hastig verschlang ich auch meine Portion. Denn zu jenem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es von da an jeden Tag dreimal und ausreichend davon geben würde, ohne Hungerpausen und hartes Erkämpfen der Nahrung. Zubereitetes Essen, regelmäßig und sättigend, war in meiner Realität vor der Ankunft im Heim Preobrashenije, auf Deutsch so viel wie Umwandlung, undenkbar gewesen.
Unbewusst muss ich gleichzeitig lächeln und den Kopf schütteln: Wie viel Unbekanntes und Unglaubliches ich seither erlebt habe, hätte ich mir damals niemals vorstellen können. Mein Horizont wurde inzwischen um Welten erweitert, geradezu gesprengt.
Während ich ein paar Schritte weiter in den Raum gehe, betrachte ich aufmerksam die Tischgruppen, die beschäftigten Kinder und … stocke. Als sei ein Geschoss in meinem Herzen eingeschlagen, stoppe ich abrupt. Ausbremsende Schwere zieht an Herz, Verstand, Beinen. Kein Schritt ist mehr möglich und mein Blick verharrt wie magnetisch fixiert auf einem Punkt im Raum.
An einem der Tischenden sitzen einige ältere Heimkinder, mehr schon Jugendliche, nur wenige Jahre jünger als ich mit meinen neun-
zehn Jahren. Ich erkenne sie wieder: Sie saßen bereits als kleine Kinder im Speisesaal – mit mir zusammen. Auf der Straße Gestrandete und unverhofft im Heim Gelandete – wie ich. Für sie ist es bis zum heutigen Tag ihr Daheim geblieben.
Ich dagegen bin nun Gast. Die fremde Bekannte, die Urlauberin aus einem Zuhause, das wir uns damals immer als Schlaraffenland vorgestellt hatten. Das Eldorado unserer Sehnsüchte und Wünsche: Deutschland. Von dort bin ich angereist.
In der Gegenwart der bekannten Gesichter komme ich mir vor wie Aschenputtel, das das Schloss nur für einen Ausflug verlassen hat. Einst war ich genauso verloren, dreckig und verwahrlost im Haus Preobrashenije angelangt wie die Hiergebliebenen. Hatte gestaunt, rebelliert und mit dem neuen Alltag gekämpft. Ich war kein braves Töchterlein, kein verkanntes Prinzesschen gewesen.
»Die Frechste darf nach Deutschland«, hatten die anderen Kinder protestiert.
Und sie hatten recht. Ich verhielt mich meist mehr wie eine der Stiefschwestern aus dem Märchen und trotzdem holte ausgerechnet mich der Prinz ins Schloss. Wer war ich schon, als dass ich mit der Kutsche in den Sonnenuntergang nach Westen davonfahren durfte?
Wer bin ich geworden? Wer bin ich jetzt, fern von zu Hause und doch in meiner Heimat? Stiefschwester, Aschenputtel, Prinzessin oder … Niemandskind? Es fühlt sich an, als hätte ich meine Schuhe auf der Schwelle verloren und müsste sie nun selbst wiederfinden. Doch wohin wird es mich führen?
Langsam senke ich den Blick. Obwohl fest geschnürte OutdoorSchuhe mich wärmen, sehe ich vor meinem inneren Auge kleine, nackte, leicht bläuliche Füße auf schmutziger Erde stehen, umgeben von aufgerissenen Zigarettenstummeln …
13 Jahre zuvor, 60 Kilometer südlich in
Juschnij
»Natascha!«
Überrascht blicke ich auf und sehe den Jungen mit der hellen Stimme auf mich zurennen. Erst kurz vor mir bremst Alexej ab und zerquetscht dabei gleich drei der unbearbeiteten Kippen am Boden. Verärgert blicke ich ihn an. Mein Gegenüber zieht erschrocken die Schultern hoch, verwandelt den Reflex aber rasch in ein lässiges Schulterzucken und grinst unverfroren. Dabei macht er unauffällig einen kleinen Schritt zurück.
»Wo warst du denn?«, fragt er mich. Seine verfilzten, dunkelblonden Haare stehen zerzaust in alle Richtungen ab.
»Na hier«, grummle ich genervt und bücke mich nach einem weiteren Zigarettenstummel.
»Aber wolltest du nicht mit?«
Um meine Unwissenheit zu überspielen, schenke ich dem vergilbten Papierröllchen in meinen Fingern besonders viel Aufmerksamkeit, während ich es vorsichtig mit geübten Griffen öffne. Alexej springt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Die fettigen Strähnen wippen mit.
»Meinst du zu den Bahnschienen?«, frage ich irgendwann, als mir bewusst wird, dass er auch bis zur bitterkalten Abenddämmerung auf meine Antwort warten würde.
»Nee«, winkt Alexej ab.
Obwohl der etwa Sechsjährige bestimmt nur ein paar Monate älter ist als ich, spielt er sich gerne wie die älteren Schulkinder auf. Wahrscheinlich ist er schlauer als ich, doch ich bin sicherlich geschickter. Ich drücke der Halbwaise mit meiner Rechten einen der Stummel in die Hand, während ich den Tabak aus meiner Linken in die kleine Plastiktüte zu meinen Füßen rieseln lasse.
»Sondern?«, hake ich nach.
»Wir wollten doch mal mit den anderen in die Keller!«
Vor Aufregung rutscht mir fast die gerade aufgehobene Kippe aus der Hand. Stimmt, das wollten wir! Schon seit zig Tagen, vielleicht sogar schon seit einer Woche. Ich weiß nicht, welchen Tag wir heute haben. Endlich werden wir in den verlassenen Häuserreihen im östlichen Ortsteil die Keller auskundschaften. Vielleicht finden wir ja ein paar Geister!
»Klar!«, antworte ich, ziehe die angekaute Hülle mit einer schnellen Drehung auf und kratze den stark riechenden Inhalt in meine Hand. Mit Genugtuung beobachte ich, wie sich Alexej mit dem Zigarettenstummel in seinen Fingern abmüht. Als er meinen Blick bemerkt, fällt ihm der erloschene Glimmstängel aus der Hand.
»Blin – Mist!«, flucht er und zermalmt das Tabakröllchen mit seinem nackten Fußballen. Entnervt, aber zugleich mit einem kecken Funkeln in den Augen, schaut er mich herausfordernd an. »Also? Kommst du mit?«
Sofort werfe ich den Papierfetzen fort und schütte das kümmerliche Häufchen achtlos in die Tüte. Viel ist nicht darin, aber egal, wie viel ich noch sammle, es wird meiner Mutter ohnehin nicht reichen. Morgen wird sie mich wieder losschicken, um Nahrung für eine ihrer Süchte zu besorgen. Auch wenn das Rauchen schon lange nicht mehr ihre größte Sucht ist.
»Hab ich doch gesagt: klar«, verkünde ich abenteuerlustig.
Eilig drehe ich die Öffnung der Plastiktüte zusammen und mache einen festen Knoten. Ich stopfe die Lieferung in meine zerschlissene Jackentasche, während wir zwischen den Dämmen aus Müll hindurchhasten. Mit jedem Schritt wächst die Nervosität, aber auf keinen Fall will ich mir die Chance auf Abwechslung entgehen lassen. Auch dann nicht, wenn sie sich »Geister« nennt.
LEBEN in der Leere

Das quietschende Knirschen lässt mich schaudern. Mit zusammengebissenen Zähnen unterdrücke ich den Impuls, mir die Hände auf die Ohren zu pressen. Denn keiner im Kreis macht das und ich will nicht als Einzige zeigen, dass das Geräusch in den Ohren wie eine schneidende Klinge schmerzt.
Ich frage mich, wie Dmitri das Jaulen des Eimers erträgt, während er ihn über den Boden durch Kies und Glassplitter schiebt. Wahrscheinlich dank seines Stolzes. Die Kiefermuskeln des Elfjährigen treten unter der Anspannung deutlich hervor, doch ansonsten lässt sich der Älteste in unserer Gruppe nichts anmerken.
Dmitri schiebt das umgedrehte, zerbeulte Gefäß langsam in geraden Linien kreuz und quer innerhalb des Kreises, den wir gebildet haben. Ab und zu klopft er auf den Boden des Kübels und wiederholt »Kommt her« oder »Sprecht zu uns«. Ich weiß nicht, was mir mehr Gänsehaut verursacht: die Aufregung, was wohl passieren wird, oder der schreckliche Ton. Soll ich fliehen oder abwarten, bis die Geister kommen? Sofern sie überhaupt kommen …
Meine Neugierde gewinnt das innere Tauziehen und meine Ohren müssen den Schmerz aushalten, so wie es mein Körper bereits vielfach gewohnt ist.
Die Kälte des feuchten Kellers in dem verlassenen und heruntergekommenen Haus ist vergleichsweise gemütlich. Zumindest verglichen mit den Laufwegen in den Wintertagen barfuß durch den kniehohen Schnee. Valerija reibt sich dennoch die Arme, als friere sie. Wahrscheinlich hat sie einfach nur Angst. Ihr großer Bruder Dmitri hat sie bestimmt wieder einmal ungefragt mitgeschleift. Ist
sie auch dabei gewesen, als er ihre Oma beobachtet hat, wie sie die Geister rief? Vielleicht kommt daher Valerijas Angst. Vielleicht zu Recht …
Ihr Bruder hält inne und schaut zu den sechs um ihn Herumstehenden auf. »Sie sind gleich da«, sagt er mit einer Stimme, die ernst und wichtig klingt.
»Woher weißt du das?«, fragt Vasili mit großen Augen, die Hände durch den Bund bis in die Hosenbeine gesteckt, wie immer, wenn er nervös ist. Die Hose hat weder Taschen – dafür einige handgroße Löcher – noch einen Gürtel, sodass die gewohnte Geste sowohl das unruhige Fingerzucken versteckt als auch verhindert, dass der Sechsjährige plötzlich ganz ohne Hose dasteht. Komisch sieht er so handlos trotzdem aus.
Dmitri schenkt ihm nur einen herablassenden Blick. Stattdessen fährt Radik Vasili an: »Na, weil er es halt weiß! Er kennt sich damit aus!« Seine Worte hallen laut von den kahlen Wänden wider.
»Pscht«, zischt Dmitri.
Radik, sein persönlicher Schatten, zieht den Kopf ein. Flüsternd fügt er hinzu: »Wenn sie hier wohnen, sind sie ja nicht weit weg.«
Alle schauen sich unbehaglich in dem schmutzigen Raum mit der niedrigen Decke um. Das mulmige Gefühl in mir wächst. Ja, bestimmt wohnen hier Geister, wahrscheinlich von Verstorbenen. Vielleicht Vorfahren von denen, die dieses Haus verlassen haben. Ob sie verärgert sind, dass ihre Kindeskinder den Ort verlassen haben? Oder verstehen sie, dass die Nachfahren ihre Häuser dem Zerfall überlassen haben, der das ganze Land durchzieht? Dass sie aufgebrochen sind, um nicht selbst dem Verfall zum Opfer zu fallen? Wahrscheinlich lachen die Geister darüber, denn wie soll man das abwenden können. Es ist doch überall Zerfall. Wohin also fliehen?
Valerija stößt einen spitzen Schrei aus und alle zucken alarmiert zusammen – alle, außer Anatoly. Der lacht laut auf. Kichernd tippt er erneut auf Valerijas Schulter und kneift ihr feixend in die Wan-
ge. Die Siebenjährige läuft vor Scham und Ärger rot an. Anatoly erntet einen grimmigen Blick von Dmitri und sein Kichern ebbt rasch ab. Bei Valerijas großem Bruder weiß man nie genau, ob er sich für seine ängstliche Schwester schämt oder sich um das einzige von drei Geschwistern, welches die ersten fünf Lebensjahre überlebt hat, sorgt.
Radik steht der Ärger über den eigenen Schreck ins breite Gesicht geschrieben. Wütend zischt er den etwa Gleichaltrigen an: »Wenn du das noch mal machst, breche ich dir den Finger, Anatoly!«
In diesem Moment hören wir ein dumpfes Geräusch über uns, das augenblicklich von unserem lauten Aufschreien übertönt wird. Aufgescheucht wie eine Schar Hühner springen wir aus dem Kreis und dann kreuz und quer durch den Raum. Panisch stoßen unsere Körper aneinander, während wir Richtung Kellertreppe hasten. Dmitri hat schon das obere Ende erreicht, bevor ich zur ersten Stufe gelange. Hinter mir schnappt Alexej unkontrolliert nach Luft.
Endlich kommen wir oben an und stürzen einer nach dem anderen aus dem Gebäude. Keiner wartet oder schaut sich um, sondern alle rennen die Straße entlang weiter. Was auch immer das Geräusch verursacht hat – wenn es ein Geist war, ist er bestimmt schnell.
Mit Alexej fliehe ich auf kurzen Beinen durch die Gassen in Richtung unseres Wohngebiets. Wir schreien ununterbrochen, als könne das jenes unbekannte Etwas von uns fernhalten. Nach vier weiteren Abbiegungen spüre ich einen stechenden Schmerz in der Lunge und höre auf zu schreien. Als das Piksen zwischen den Rippen nicht besser wird, werde ich langsamer und komme zum Stehen. Alexej bemerkt es erst nach einigen Schritten und dreht sich um.
»Meinst du, es ist weg?!« Seine Augen sind geweitet vor Angst und dennoch kann sie das aufgeregte Funkeln darin nicht vollständig vertreiben.
»Ich … ich weiß nicht«, keuche ich mit zitterndem Atem. »Vielleicht bleiben die im Haus.«
Alexej nickt eifrig, wie wenn es dadurch wahr würde. Jedenfalls will er es ebenso gerne glauben wie ich. Das Geschehene zurücklassen – nur mit dieser Strategie gelingt es einem Kind in Juschnij, nachts einzuschlafen.
»Ich geh mal«, verkündet der Sechsjährige, eine seiner zottigen Strähnen zwischen den Fingern zwirbelnd.
Mein Atem beruhigt sich etwas und ich nicke: »Ich auch.«
Eine Straße stapfen wir noch gemeinsam entlang, dann biege ich in mein Viertel ab.
Der Schein der Sonne wird bereits trüber und das warme Licht überzieht das schmuddelige Braun und Grau mit einer bronzenen Schicht. Es überdeckt nicht die Risse im Boden, den allgegenwärtigen Dreck und die Ausscheidungen am Straßenrand. Doch die sanfte Helligkeit beruhigt mich ein wenig. Die Aufregung steckt mir noch in den Gliedern und lässt meine Hände zittern. Fast so wie bei allen Erwachsenen, die ich kenne, wenn sie seit längerer Zeit keine Flasche mit scharf riechender Flüssigkeit gehalten haben. Alle Erwachsenen, außer die im Dom Molitvy.
Bei dem Gedanken an diesen für mich besonderen Ort möchte ich am liebsten direkt mit dem Bus zu Oma fahren. Stattdessen erreiche ich die Straße mit den vertrauten Gebäudereihen. Die Mehrfamilienhäuser stehen einheitlich wie uniformierte Soldaten Spalier. Sie sehen auch ebenso wenig stramm und ordentlich aus wie die sowjetische Armee zurzeit.
Unsere Wohnung befindet sich in einem Haus, das sich von den angrenzenden nur durch die Musterung der Flecken auf der Fassade und die Anzahl an ausgeblichenen Vorhängen hinter den trüben Fenstern unterscheidet. Als ich mich den zwei Treppenstufen nähere, bemerke ich, dass die Tür offen steht. Noch bevor ich den Eingang erreiche, betritt ein Mann aus dem Haus rückwärtsgehend die Stufen. Ich kenne den breiten Rücken nicht – mein Halbbruder kann es nicht sein – und auch den runden Kopf mit lichtem Haar habe
ich noch nie gesehen. Dem großen Rücken folgen zwei lange Arme, die eine Matratze hochkant heraustragen. Die Matratze erkenne ich sofort. Auf dem längst gelblich verfärbten Weiß zeichnet sich an einem Ende deutlich die Stelle ab, wo die bloßen Füße den Dreck des Tages im Schlaf abstreifen. An der nach oben gedrehten Kante prangt jener verlaufene blaue Fleck, der beim Kauen auf einer gefundenen Kugelschreibermine entstanden ist. Es ist meine Matratze.
Erstarrt schaue ich zu, wie mein abgenutztes Schlaflager das Haus mit zwei Männern an den Enden verlässt und um die nächste Mauer verschwindet. Unschlüssig stehe ich vor der offenen Tür. Vielleicht kommt noch jemand heraus? Doch eigentlich will ich nur nicht hinein – in die immer leerer werdende Wohnung, die gerade meinen einzigen eigenen Platz hat ziehen lassen. Zögerlich steige ich die Stufen zur Eingangstür hinauf. Dann schleiche ich die Treppen zur ersten Etage hoch, wo die Wohnungstür noch angelehnt ist.
Beim Aufdrücken der verschrammten Holzplatte schlägt mir der wohlbekannte Geruch von zu Hause entgegen: verbrauchte Luft, Tabakqualm, Schimmel und der ganz eigene Gestank, der aus der Abstellkammer dringt. Schnell husche ich hinein, lasse Bad, Küche und das Schlafzimmer meiner Mutter hinter mir und betrete das Wohnzimmer. Bis auf einen Stuhl, ein niedriges Tischchen, viele leere Flaschen, vollgestopfte Plastiktüten und Kisten herrscht dort gähnende Leere.
Letzte Woche war nach unserer Stehlampe auch der Lampenschirm an der Decke verschwunden und die Birne hängt nackt vom Kabel herab. Da ich sie so gut wie nie anschalten darf, ist es ja eigentlich egal. Weil wir keine Gäste einladen, brauchen wir kein Sofa. Weil wir nur selten zusammen essen – wenn wir mal etwas zu essen haben –, reicht der kleine Tisch in der Küche. Weil wir keine Bücher mehr haben, brauchen wir keine Regale. Und die Kleider, die wir besitzen, tragen wir am Körper. Was übrig bleibt, passt in Tüten und Kisten, also sind auch die Schränke und Kommoden fort. Das sind
alles gute Gründe dafür, dass Stück für Stück alles verschwand und verschwindet. Gute Gründe im Vergleich zur Wahrheit.
Einen Moment lang schaue ich zur hinteren Ecke im Raum, wo die staubfreie, rechteckige Fläche meine ehemalige Schlafstätte erkennen lässt. »Ehemalig« ist in dieser Wohnung und in dieser Familie für mich so viel greifbarer als in Bezug auf diese dauernd beschworene Sowjetunion, die es in meinem Leben nie gegeben hat. Alexejs Mutter meinte einmal, mit unserer Geburt sei die große Union gestorben. Was auch immer das bedeutet.
Ich kehre dem Zimmer den Rücken zu und laufe zurück zur Küche. Als ich die Tür aufdrücke, zeigt sich mir der erwartete Anblick. Der schmächtige Oberkörper meiner Mutter beugt sich mit gekrümmtem Rücken über den Küchentisch. Verkrampft sitzt sie vorne auf der Stuhlkante und wippt nervös mit den Füßen. Ihre zittrigen Finger stapeln sorgsam Münzen aufeinander, während ihre Lippen Zahlen vor sich hin murmeln. Wie aus einem Traum gerissen schreckt sie auf, als ich einen Schritt auf den Küchentisch zu mache. Die braunen Augen meiner Mutter versinken in dunklen Ringen und umrahmenden Falten. Hinter dem müden, trüben Schleier zucken die Pupillen kaum merklich hin und her. Dieses nervöse Flimmern erinnert mich an Opas Augen, als er das schlimme Fieber hatte, oder an den hektischen Blick der Straßenhunde, wenn sie in die Ecke getrieben werden, kurz vor dem Schlag mit dem Stock auf ihren Kopf. Mamas Augen kommen mir heute noch verengter vor und es liegt mehr darin als die dauerhafte Müdigkeit. Etwas, das so schwer ist, dass es ihre Augen hinabzieht, bis sie auf den Tisch starren. Ihr Blick wirkt leerer als unser Wohnzimmer, während sie die letzten der wenigen Münzen aufschichtet. Angespannt presst sie die Ellenbogen auf die Tischplatte und beißt sich auf die Unterlippe.
Dann plötzlich wendet sie mir den Kopf mit aufgerissenen Augen zu und fragt mit heiserer Stimme: »Natascha, hast du den Tabak?«
Sofort greife ich in meine Jackentasche. Erleichtert ertaste ich den Knoten, der das gesammelte Gift sicher in der Plastiktüte bewahrt hat.
1996, Juschnij
»Du dreckige Sau!«, die donnernde Stimme des Jugendlichen hallt durch die leeren Räume, bevor sein Fuß mit Wucht in dem Bauch meiner Mutter landet. Japsend geht sie in die Knie und stützt sich mit der Hand an der schmutzigen Flurwand ab. Erneut zieht Evgenij das Bein an und schleudert die kraftlose Frau mit einem Tritt auf den Brustkorb zu Boden.
»Wo ist die Flasche?!«
Verängstigt drücke ich mich in den Türrahmen der geschlossenen Abstellkammer. Sonst meide ich das Zimmer, so gut ich kann, doch kein Schrecken reicht an den Zorn meines Halbbruders heran. In diesem fast täglichen Geschehen ist es immer gut, sich bereits in der Nähe der Haustür zu befinden. Die Klinke lockt nur zwei Schritte entfernt, doch noch wage ich nicht, mich zu rühren. Noch könnte ich in das Blickfeld des Sohnes von Mamas erstem Mann geraten. Dann würde ich auch Zielscheibe seiner Aggression werden.
»Wo ist die Flasche?! Ich habe sie gestern in die Küche gestellt. Hast du sie leer gesoffen, du missratenes Drecksweib?!«
Mama dreht sich stöhnend auf die Seite, eine Hand auf den Bauch, die andere auf die schmerzende Stelle zwischen den Brüsten gepresst. Die kleine Beule dazwischen wächst seit Monaten. Mittlerweile zeichnet sich eine walnussgroße Kugel unter dem dünnen, abgewetzten Stoff ihrer alten Bluse ab.
»Ich … ich habe sie nicht ge … ge …«, keucht sie.
»Natürlich hast du sie gesoffen!«
Evgenijs Brüllen schmerzt in den Ohren, aber auch das instinktive Draufpressen der Hände scheint mir zu riskant.
»Selbst dein widerlicher Gestank kann den Wodka-Geruch nicht verstecken! Du hast meine Flasche geleert! Meine, meine, meine …«, bei jedem Wort drischt der Jugendliche auf seine Mutter ein, die sich wehrlos mit verdrehten Augen auf dem Boden krümmt.
Ich erkenne meine Chance, springe zur Wohnungstür und reiße sie auf. Ohne sie zu schließen, flüchte ich die Treppen hinunter und stürze aus dem Haus ins Freie. Erst zwei Straßen weiter werde ich langsamer und versuche, zu Atem zu kommen. Die Luft ist eisig, doch sie fühlt sich gut an. Alles, was fern von Streit und Schlägen ist, schmeckt nach Freiheit. Dafür nehme ich gerne den kalten Boden unter nackten Füßen und den trüben Himmel über dem bloßen Kopf in Kauf. Noch ist es Tag, wenn auch Wolken die Sonne verdunkeln. Mein Halbbruder ist erstaunlich früh von wo auch immer nach Hause zurückgekehrt. Vielleicht haben seine Bekannten keinen Alkohol mehr gehabt und er hat nicht gewusst, was er heute noch anstellen könnte, um an Geld zu kommen.
Es ist also noch Zeit, etwas zu essen zu beschaffen oder es zumindest zu versuchen. Ich beginne mit der ersten Option: betteln. Zunächst versuche ich es in den bewohnten Hochhäusern. Nacheinander klopfe ich an den großen, farbigen Türen. Viele sind mit dicken Polstern verkleidet, andere präsentieren das wuchtige Holz, aus dem sie bestehen. Wie immer sind die meisten Leute abweisend. Wenn sie trotz des Rausches, in dem sich die meisten befinden, überhaupt öffnen können und das auch tun, ohne zu prüfen, wer stört, dann schlagen sie die Tür in der Regel wieder zu, bevor ich etwas sagen kann.
Oder sie beginnen zu schimpfen und schreien: »Meinst du denn, ich hätte selbst noch was zu kauen außer Tabak? Und selbst davon ist jedes Gramm zu gut für ein nichtsnutziges Ding wie dich! Scher dich weg!«
An manchen Tagen treffe ich Menschen zu Hause oder unterwegs an, die mir doch eine Kleinigkeit zustecken aus Mitleid oder weil sie nicht mehr richtig mitbekommen, was sie tun. Dieses Mal habe ich lange Zeit kein Glück, auch nicht bei den Reihenhäusern einen Block weiter. Doch endlich beugt sich eine sehr alte Frau über eine der Türschwellen. Ihr Rücken ist so tief hinabgekrümmt, dass sie das eingefallene Gesicht nicht höher als meines heben kann.
»Schau dort«, ihr knochiger Finger zeigt zu einem zerbeulten Blechbottich an der Wand zwischen den Häusern. »Da kannst du dir was nehmen, wenn du was findest.«
Mit kurzem Nicken danke ich und haste zum Müllbehälter. Enttäuscht ziehe ich eine leere Flasche und eine zerrissene Verpackung nach der anderen daraus hervor. Doch dann entdecke ich in einer Plastikbox angetrocknete Essensreste. Gierig nuckle ich an ihnen herum und ich stelle mir vor, wie die kleine Menge sich vermehrt und meinen Magen ausfüllt. Doch das kann sie nicht und der nagende Hunger bleibt. Mehr ist aus der Tonne nicht zu holen, also ist jetzt die zweite Option der Essenssuche an der Reihe.
Zielstrebig husche ich durch die Gassen und treffe unterwegs auf Vasili und seine Cousine Toma. Zusammen eilen wir zu dem großen Platz zwischen den Häuserblocks im Süden der Ortschaft, wo sich eine seit Langem anwachsende Hügellandschaft aus Müll ausbreitet. Die meisten Gipfel und Täler haben wir bereits ausgeweidet, doch in den vorderen Bereichen kann man immer wieder auf »Frischgut« hoffen, das erst wenige Wochen alt ist. Aber auch hier will sich heute keine ertragreiche Beute finden lassen.
»Morgen können wir zum Friedhof.«
Die Hände zwischen leeren Konservendosen vergraben, recke ich den Kopf, um den Sprechenden anzusehen. Vasili kniet auf einem umgedrehten Stuhl mit aufgeschlitzten Polstern. Wobei das Ding mehr wie eine Liege mit Armstützen aussieht und verschiedene Drehknäufe und Hebel hat. Wer besitzt solche Stühle in seiner
Wohnung? So etwas habe ich noch nie in irgendeinem Haus gesehen. Vielleicht, weil sie alle hier gelandet sind?
Vasili spielt an einer rostigen Rasierklinge herum, während er weiterspricht: »Da soll’s wieder was geben.«
»Was denn?«, frage ich gespannt und taste blind mit den Fingern weiter in dem Müll unter mir.
»Essen!«, wirft Toma aufgeregt dazwischen. »Viel und frisches.«
»Ein Fest«, antwortet Vasili fast zeitgleich. »Weiß nicht genau, was da los ist, aber Radik hat gesagt, dass es wieder was an den Gräbern gibt.«
Der Gedanke an einen Ausflug auf den Friedhof entfacht augenblicklich Vorfreude in mir. Der Ort ist so besonders, so anders als die Gassen und Plätze in Juschnij. Ein weites Stück außerhalb der Siedlung wirkt der Ort tatsächlich friedlich. Das Hellblau der Stangen, welche wie Geländer geformt die Gräber umzäunen, sticht in der öden, farblosen Landschaft hervor. Die großen Steinplatten sind verziert und je nach Wetter ganz kalt oder herrlich warm.
Und besonders verlockend wird dieser Ort der freundlichen Zäune, wenn eines der Feste stattfindet. Keines der anderen Kinder konnte mir auch nur bei einer der Feiern sagen, warum sie überhaupt stattfindet. Aber das ist nicht so wichtig, entscheidend ist: Sie bringen Essen ein! Genauer gesagt: Viele Leute kommen und legen Speisen und Getränke auf die Steinplatten, wohl für die Menschen, die darunterliegen. Keine Ahnung, ob die das noch brauchen oder wollen. Wir brauchen und wollen und holen es, wenn alle wieder gegangen sind. Dann erbeuten wir frisches, leckeres Gebäck, wie ich es sonst nie kosten kann. Ganz süße Flüssigkeiten, manche blubbern und prickeln herrlich auf der Zunge und später im Bauch. Und sogar Süßigkeiten!
Ganz selten habe ich ein paar wenige solcher bunt verpackten Bonbons finden können, wenn ich mit einigen Kinder in den verlassenen Häuser Juschnijs die Schränke durchwühlt habe. Alexej war
auch ab und zu dabei. Er hat eine Packung Mehl entdeckt. Aber es ist keine gute Idee, das weiße Pulver pur in den Mund zu schütten. Mein Hals wird ganz trocken, während ich mich daran erinnere. Doch sofort läuft mir wieder das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an die angekündigte Chance denke.
»Ich komme mit«, verkünde ich.
Im gleichen Moment ertasten meine Finger etwas. Triumphierend ziehe ich die Faust zwischen den Dosen hervor, deren scharfe Deckelränder mir den Handrücken ritzen. Gute Beute liegt darin: eine ausgedrückte Zahnpastatube! Aber nicht so sorgfältig ausgedrückt, wie ich darin erfahren bin. Sofort lege ich den Kopf in den Nacken und sauge eifrig an der Tube, während meine Finger ihren Leib ausquetschen. Meinen Blick in den Himmel gerichtet, entdecke ich im Dunkelblau den inzwischen aufgegangenen Mond.
Es liegt ein gutes Stück Fußmarsch vor mir. Ich beschließe, mich nach diesem Abendessen auf den Weg zurück zu der Wohnung zu machen, wo meine Mama wahrscheinlich noch im Flur liegt.
Der Gedanke verlangsamt meine Schritte. Aber wohin soll ich denn sonst gehen? Letztlich muss ich entscheiden, ob ich die Nacht auf der Straße verbringe oder innerhalb der Wände, die »Zuhause« genannt werden. Ist das wirklich eine Wahl, wenn es ums Überleben geht?