Mein Gott, warum? HEIKO BAUDER
Als ein Schuss alles veränderte.
Mein Leben zwischen Schuld, Vergebung und Freiheit
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Als ein Schuss alles veränderte.
Mein Leben zwischen Schuld, Vergebung und Freiheit
24. Juni 1992
Es war ein warmer Junitag. In den frühen Vormittagsstunden waren mein Truppführer und ich, beides Wehrpflichtige, gerade mit einem der letzten Fahrzeuge auf den Truppenübungsplatz eingebogen und parkten unseren Unimog hinter all den anderen Militärfahrzeugen, die in einer langen Schlange am Wegesrand standen.
Nach einer insgesamt dreitägigen Militärübung sollte auf dem Standortübungsplatz der Kaserne im Raum Oberschwaben die Manöverkritik stattfinden, bevor wir dann endlich Dienstschluss hatten. Wir waren völlig übermüdet und froh, dass es bald vorbei sein würde und wir uns ausschlafen konnten. In den Nächten hatten wir immer wieder wechselnden Wachdienst gehabt: zwei Stunden Ruhe, dann wieder Wache. Mit scharfer Munition. Ich hatte immer die Hosen voll gehabt: Wenn du allein dort im Wald stehst, mitten in der Nacht, da fangen die Bäume an zu laufen und du erschrickst dich bei jedem kleinsten Geräusch. Jedes Mal war ich froh gewesen, wenn der Dienst zu Ende war und ich ausruhen konnte. An Schlaf war nicht zu denken gewesen, man war viel zu aufgewühlt, als das man hätte schlafen können. Und so hatten wir bis zum Ende der Übung nicht mehr als insgesamt vier Stunden richtig geschlafen.
Ich machte meinem Kameraden also den Vorschlag, dass er doch allein gehen könne, es würde sicher nicht auffallen, wenn ich in der Unimog-Kabine eine Mütze Schlaf nehmen würde. Es war nicht wirklich ernst gemeint, da ich ja auch wusste, dass auf dem Übungsplatz durchgezählt würde und mein Kamerad als Truppführer die Verantwortung hatte. Er drängte seinerseits zur Eile, da wir doch recht spät dran waren. Er beschloss, schon vorauszugehen und unsere Einheit zu melden, und ich versicherte ihm, dass ich noch den Unimog abtarnen würde, da wir uns ja immer noch in der Übung befanden.
Schnell warf ich das Tarnnetz über die Fahrerkabine und folgte dann zügig meinem Kameraden. Unser Weg ging entlang der parkenden Fahrzeugkolonne. Beim Vorübergehen an einem Unimog mit Anhänger bemerkte ich, dass an der Deichsel ein G3-Schnellfeuergewehr angelehnt war. Ich wunderte mich, dass doch tatsächlich einer der Kameraden seine Waffe vergessen hatte. Ich nahm das Gewehr auf und mir war klar, dass jedes Gewehr als geladen anzusehen war. In dem Moment wusste ich noch nicht, dass sich in den nächsten Sekunden mein Leben und das Leben anderer Menschen dramatisch und für immer verändern würde.
Ich machte einen Fehler, den man wohl mit menschlichem Versagen begründen würde. Ich tat das, was beim Reinigen einer Waffe Hunderte Male durchgespielt wird: Man reinigt die Waffe, setzt sie zusammen und muss eine Funktionsüberprüfung machen. Das heißt durchladen, entsichern und abdrücken, um die korrekte Funktion zu überprüfen. Natürlich weiß man in dem Moment, dass keine Munition in der Waffe ist. Dies wird zum Automatismus ähn-
lich dem, dass man beim Gangschalten im Auto auch nicht mehr auf die Zeichen auf dem Schalthebel schaut.
Ich war während der Übung so unterwiesen worden, dass Magazine mit scharfer Munition einen gelben Klebestreifen haben müssen. Dieses Magazin, das ich jetzt in der Hand hielt, hatte das nicht, wohl aber die Waffe selbst. Zusätzlich dazu wurde bei uns immer morgens nach dem Wachdienst auf der Übung die scharfe Munition eingesammelt bzw. die Magazine mit scharfer Munition gegen leere Magazine getauscht.
Ich stand also mit dem Gewehr in der Hand zwischen Lkw und Anhänger. Um die Waffe besser bedienen zu können, setzte ich den Gewehrkolben auf meinem Oberschenkel auf. Doch anstatt den Ladehebel des Gewehres so weit aufzuziehen, um im Lauf des Gewehres nachsehen zu können, ob sich dort eine Patrone befand, zog ich den Hebel durch, entsicherte und drückte ab. Ein laut gellender Schuss löste sich und ich war völlig perplex, dass tatsächlich Munition in der Waffe war.
Das gibt mächtig Ärger, schoss es mir sofort durch den Kopf. Ich hatte die Waffe nicht richtig überprüft in dem Glauben, dass es keine scharfe Waffe sei. Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte Stille. Ich wollte mich schon innerlich vorbereiten auf das Donnerwetter, das gleich über mich hereinbrechen würde, doch da sah ich, wie ein Kamerad von oben herab direkt vor mir auf den Boden fiel.
Ich verstand zuerst überhaupt nicht, was los war. Doch im nächsten Augenblick durchfuhr es mich siedend heiß: Der Schuss, verdammt, wo kommt er plötzlich her, wo war er?! Erst jetzt sah ich nach oben und sah die offene Funker-Kabine, durch die er im Moment des Schusses gekommen sein musste. Das ist eine Art viereckiger, geschlossener Container mit Ausgangsluke auf der Ladebordwand des Lkw. Durch diese Luke musste er im Moment
des Schusses gekommen sein. Er hatte mich wohl ebenfalls nicht bemerkt, sonst hätte er sich doch sicher bemerkbar gemacht!
Später erfuhr ich, dass mein Kamerad sich bereits auf dem Übungsplatz befunden hatte, aber zurückgeschickt worden war, um eine Warnweste zu holen. Er sollte damit eventuellen Verkehr auf dem Übungsplatz regeln, der nichts mit der Übung zu tun hatte.
Als mir bewusst wurde, was hier gerade passiert war, begann ich zu schreien. Ich schrie um Hilfe. Mein Kamerad stöhnte und ich schrie, so laut ich konnte, um Hilfe.
Trotz meiner Hilfeschreie konnte ich das Ganze irgendwie noch nicht fassen. Ich war in totaler Schockstarre und auch nicht in der Lage, meinem Kameraden selbst zu helfen. Mein Truppführer, mit dem ich angekommen war, kam zurückgeeilt und kurz darauf trafen auch schon die sogenannten Dienstgrade, also meine Vorgesetzten, ein. Sie versorgten meinen Kameraden und veranlassten den schnellen Abtransport.
Ich konnte noch einen Blick auf ihn werfen und sah, dass er nicht mehr in der Lage war, zu reagieren. Ich schrie immer noch. Ich schrie so laut und hoffte, das Schreien könnte irgendetwas bewirken.
Einer der Dienstgrade nahm mich zur Seite, drückte mich und versuchte mich zu trösten. Aber da gab es nichts zu trösten.
Ich wollte das nicht, Scheiße, was ist hier passiert! Warum, das kann doch nicht sein! Ich wechselte vom Schreien ins bitterliche Heulen und wieder ins Schreien. Nein, nein, nein.
Ich wurde in die Kaserne gebracht. Dort kam ich in einen Raum, gemeinsam eingeschlossen mit einem anderen Kameraden, der
mich mit scharfer Waffe bewachen musste. Dieser Kamerad tut mir noch heute leid. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mit ihm allein war, aber ich schrie ihn die ganze Zeit über an. Nicht ihn direkt, ich schrie einfach.
Nein, nein, das darf nicht sein! Dazwischen versuchte ich, Gebete zum Himmel zu schicken. Bitte lass ihn nicht sterben, bitte, bitte nicht. Im nächsten Moment schrie ich Gott an: Warum!!!
Ich denke heute, dieser Kamerad wird diese Zeit in dem Raum mit mir sein Leben lang nicht vergessen. Wenn er gefragt werden würde, was Schuld sei, könnte er antworten, er könne vielleicht nicht genau erklären, was Schuld im Einzelnen sei, aber er wisse seit damals, wie sich Schuld anhöre.
Schuld
Ich war schuldig. Noch wusste ich nicht genau, wie schwer meine Schuld wiegen würde. Vielleicht hatten wir beide Glück gehabt und der Kamerad war nicht schwerer verletzt. Aber genauso konnte es sein, dass er schwerstverletzt war oder sogar sterben könnte.
Ich hatte das alles nicht gewollt! Warum hatte das blöde Gewehr bloß da rumgestanden? Warum war verdammt noch mal scharfe Munition drin gewesen? Aber es brachte alles nichts. Ich hatte den Auslöser gedrückt. Ohne diese Aktion hätte ich jetzt nicht hier gesessen. Vor allem wäre der Kamerad jetzt nicht verletzt, schwer verletzt oder gar tot.
Es war qualvoll: Ich wusste nichts, keiner sagte mir etwas. Und wieder kamen diese Schreianfälle in Abwechslung mit Weinkrämpfen. So etwas hatte ich nie erleben wollen, nie, niemals! Ich wollte doch nur meinen Wehrdienst tun, so wie Tausende andere vor mir auch.
So viele Fragen schossen mir durch den Kopf, so viel Verzweiflung, und alles mündete in diesen einen verdammten Gedanken: Warum?
Dieser Gedanke brachte mich fast um den Verstand und er ließ mich ohne Antwort allein – nicht nur für den Moment, sondern über viele Jahre. Auch heute noch beschleicht sie mich immer wieder, die Frage nach dem Warum. Dass sie mich gefangen hält, habe ich erst sehr viel später verstanden und auch, welchen Ausweg es daraus gibt.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in dem Raum allein war, mit meinem bemitleidenswerten Kameraden, mit meiner Verzweiflung, meiner Ohnmacht und Angst. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde die Tür aufgeschlossen, es kamen verschiedene Dienstgrade in den Raum und mit ihnen der katholische Standortpfarrer. Er war als Militärseelsorger zuständig für unsere Kaserne.
Schon an seinem Gesichtsausdruck sah ich, dass meine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren. Sven hatte nicht überlebt. Er war kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus an seinen schweren inneren Verletzungen gestorben. Die Verletzungen kamen von der speziellen Munition, die bei unserer Übung verwendet worden war. Sie hatte die verheerende Wirkung, dass sie sich beim Auftreffen auf einen harten Gegenstand verformte und somit alles zerriss, war ihr in den Weg kam. Diese Munition, eine Weichkernmunition, war darauf ausgelegt, sicher zu töten. Sven hatte keine Chance gehabt. Der Schuss hatte sich in dem Moment gelöst, als er die Kabine seines Lastwagens in gebückter
Haltung verlassen hatte. Die Munition war beim Auftreffen auf das Schlüsselbein verformt und ins Innere des Körpers abgelenkt worden, dort hatte sie ihre schreckliche und tödliche Wirkung entfaltet.
Warum gerade diese Munition hatte verwendet werden müssen, konnte niemand aus dem Verantwortungsbereich der Bundeswehr beantworten. Es hätte auch die Möglichkeit anderer Munition gegeben, sogenannter Hartkernmunition. Diese wird auch bei der Polizei verwendet und ist darauf ausgelegt, einen Angreifer lediglich kampfunfähig zu machen. Wäre diese verwendet worden, wäre Sven vermutlich mit einem Durchschuss am Leben geblieben.
Aber jetzt war Sven tot, er war gerade einmal zwanzig Jahre alt geworden. Wie sinnlos war doch dieses Sterben! Wieder kam in mir die Frage hoch, warum um Himmels willen das alles nur so hatte passieren können. Vor Kurzem noch hatten wir zusammengesessen, hatten den Alltag der Bundeswehr gemeinsam durchlebt, uns angefreundet und wertgeschätzt.
Zum ersten Mal kam mir der Gedanke: Warum musste er sterben und nicht ich?
Ich sollte also den Rest meines Lebens damit leben müssen, dass durch mein Dazutun ein Mensch gestorben war. Das konnte nicht Ziel meines Lebens gewesen sein! Von einem Moment auf den anderen fühlte sich alles sinnlos an. In diesem Augenblick wäre ich bereit gewesen, für Sven zu sterben, damit er wieder leben konnte.
All das jagte mir in Sekundenbruchteilen durch den Kopf, als mir der Pfarrer die schreckliche Nachricht überbrachte. Hatte ich vorher noch die Kraft gehabt, zu schreien, ja, mich damit irgendwie gegen das Unheil zu stemmen, war alles plötzlich weg. Ich brach in den Armen des Pfarrers zusammen und konnte nur noch bitterlich weinen.
Als ich mich einigermaßen stabilisiert hatte, wurde mir eröffnet, dass die Kriminalpolizei mich zur Vernehmung auf das Präsidium mitnehmen wollte. Ich wurde gefragt, ob ich einen Rechtsbeistand bräuchte. Mir war gar nicht bewusst, was ich mit dieser Frage anfangen sollte. Was sollte ich mit einem Rechtsbeistand? Ich hatte doch nicht im Geringsten gewollt, dass so etwas passierte. Ich konnte mir auch nicht erklären, warum es passiert war. Ich wusste lediglich, wie alles abgelaufen war.
Das alles hatte sich zu dem Zeitpunkt schon fest in meinen Gedanken eingebrannt. Und genau das wollte ich den Polizeibeamten sagen. Ich wollte alles so sagen, wie es gewesen war, dann würden sie sicher verstehen, dass ich in keinster Weise gewollt hatte, dass so etwas passierte.
Doch was dann geschah, werde ich bis heute nicht vergessen. Ich hatte mich noch nie in meinem Leben so hilflos, so allein gefühlt. Ich wurde von zwei Kripobeamten inklusive einem Staatsanwalt verhört, und zwar direkt an dem Tag, an dem all das Schreckliche passiert war. Ich stand noch immer komplett unter Schock und war eigentlich vernehmungsunfähig. Ich brach während der Befragung mehrmals zusammen und konnte mich nur mit Mühe und durch den Beistand des Pfarrers den Fragen der Polizisten stellen.
Meine Vorstellung davon, einfach alles zu erzählen, was geschehen war, war schnell dahin. Immer wieder stellten die Polizisten mir Fragen, die ich nur mit Ja oder Nein beantworten konnte. Ich hatte während der Vernehmung zu keiner Zeit die Möglichkeit, meine Wahrnehmung der Dinge zu schildern. Überhaupt ging es nur zu einem Bruchteil um die Geschehnisse des Tages. Vielmehr gab es Fragen zu meiner Kindheit.
»Haben Sie in Ihrer Kindheit schon mal mit Waffen zu tun gehabt«, fragte der Beamte etwa.
»Ja, habe ich«, antwortete ich.
»Interessant, in welcher Weise müssen wir uns das vorstellen?«
»Ich war einige Zeit im Schützenverein und habe Luftgewehr geschossen!«
»Sie haben also Luftgewehr geschossen!«
»Ja.«
»Hat Ihnen das Spaß gemacht?«, bohrte der Polizist nach.
»Ja, damals schon!«
»Haben Sie nur auf Scheiben geschossen oder haben Sie auch mal andere Dinge ausprobiert?«
»Ja, wir haben immer mal wieder die Nacktschnecken von der Wand geschossen!«, entgegnete ich.
»Hat Ihnen das Spaß gemacht?«
»Ja, irgendwie schon.«
So beschäftigten wir uns gefühlt mindestens eine Stunde lang mit meiner Zeit im Schützenverein. Damals war ich, soweit ich mich erinnern kann, zwölf Jahre alt gewesen. Ich hatte einfach auch mal Luftgewehr schießen wollen, nicht mehr und nicht weniger. Auf ähnliche Weise wurde meine komplette Jugend unter die Lupe genommen, Freunde, Familie, Arbeitsstelle, Konflikte und deren Bewältigung. Welche Filme schauen Sie und warum, was hat Sie bewegt, zur Bundeswehr zu gehen, und so weiter und so fort. Um den eigentlichen Unfall ging es kaum.
Ich weiß nicht mehr genau, wie lange wir auf dem Präsidium waren. Ich weiß aber noch, dass wir spät abends gegen dreiundzwanzig Uhr beim Haus des Pfarrers ankamen. Nach rund sieben Stunden Vernehmung, in einem Zustand der Verzweiflung, seelischer Not und totaler psychischer und körperlicher Erschöpfung.
Danach beschlich mich eine absolute Leere, absolute Teilnahmslosigkeit, Sinnlosigkeit und auch Willenlosigkeit. Etwas, was ich so noch nie empfunden hatte. Es fühlte sich an wie ein Sturz in ein schwarzes Loch, ohne Aufprall. Ich stürzte und wollte mich am Anfang noch festhalten, doch dann stürzte ich nur noch weiter, tiefer in dieses dunkle schwarze Loch, ohne Gegenwehr. Es soll aufhören, ich wünsche mir den Aufprall, ein Ende, aber nichts kommt, nur Leere.
Mittlerweile kann ich Menschen verstehen, die sich in einer solchen Situation befinden, weil sie selbst etwas Schlimmes erlebt haben oder weil sie auf tragische Weise einen Menschen verloren haben. Mir kommen da viele Situationen in den Kopf, die man nicht fassen kann: Zugunglücke, tragische Unfälle, Verkehrsunfälle, Unfälle, bei denen zum Beispiel der Vater mit einem Traktor sein eigenes Kind überfährt. Immer wieder passiert so etwas Furchtbares. Und ich kann diese Menschen so verdammt gut verstehen, ich kann in ihre Leere blicken. Es ist grausam und niemand sollte erleben müssen, Schuld zu sein am Tod eines anderen Menschen.
Die Welt, wie sie vorher war, wird es nicht mehr geben. Man glaubt auch nicht, dass es überhaupt noch ein Leben danach gibt. Und selbst ist man der Meinung, dass man es auch gar nicht verdient hat, noch weiterzuleben.
Ich denke, so viele von diesen Menschen würden wahrscheinlich auch Jahre später noch ihr eigenes Leben geben, damit der andere weiterleben kann. Dass es so etwas tatsächlich gibt und dass es mir das Leben gerettet hat, darauf werde ich im Verlauf des Buches noch eingehen.
Beistand
Herr Langer, der katholische Pfarrer, war ein Mann von großer und kräftiger Statur. Seine Erscheinung strahlte etwas Autoritäres und gleichzeitig Warmherziges aus. Ich war froh, dass er da war, und fühlte mich irgendwie geborgen. Ich hatte das Gefühl: Da ist jemand, der an dem, was passiert ist, mitträgt.
Gleichzeitig konnte ich es nicht greifen und mir nicht vorstellen, was er von mir wollte, warum er mich überhaupt aufnahm. Ich hatte das Gefühl, dass ich das nicht verdient hatte. Warum war er so gut zu mir? Ich war schuldig geworden am Tod eines Menschen, ich erwartete alles Mögliche, aber keine Fürsorge für mich. Eher Vorwürfe, Schuldzuweisungen oder Ähnliches.
Was bewog ihn, für mich da zu sein und mir zu helfen? Und trotzdem war ich so froh, dass er da war. Auf der Heimfahrt, ich wusste noch nicht einmal, wo es hinging, sagte er mit bestimmter, aber freundlicher Stimme: »Jetzt fahren wir erst mal in unser Haus, zu mir und meiner Mutter. Für die kommende Zeit kannst du vorerst bei uns wohnen. Ich habe dich bei meiner Mutter schon angekündigt. Sie freut sich, dass du unser Gast bist. Außerdem gibt es da noch unseren Hund Tasso. Der freut sich sicher auch auf dich. Er freut sich immer, wenn Gäste kommen.«
Ich dachte mir: Warum tun sie das? Sie freuen sich auf mich? Es war irgendwie unwirklich. Ich konnte das alles nicht nachvollziehen und es passte auch so überhaupt nicht in meine Gefühlswelt. Aber nach der Vernehmung war es einfach nur wohltuend, dass da jemand war, der mich wie einen ganz normalen Menschen behandelte.
Der Pfarrer nahm mich mit in sein Haus, schnell wurde das Gästezimmer bereitgemacht und ich konnte erst einmal dort bleiben. Er ermutigte mich, ein Schlafmittel, wozu der Arzt geraten hatte, zu nehmen, um so vielleicht doch etwas Schlaf zu bekommen. Ich hatte das abgelehnt. Ich wollte mich nicht mit einem Schlafmittel einer Situation entziehen, die mich schuldig am Tod eines Menschen machte. In gewissem Sinne wollte ich leiden. Ich hatte es, so hämmerte es in meinem Hirn, verbockt und wollte dazu auch stehen und nicht einfach mithilfe einer Tablette schlafen. Es fühlte sich für mich in dem Moment falsch an. Im Nachhinein erfuhr ich einen weiteren Grund, warum mir dieses Schlafmittel angeboten worden war. Man hatte Angst, dass ich mir etwas antun würde.
Ich nahm die Tablette also nicht. Was dann in dieser Nacht passierte und in den Nächten darauf, kann ich mir nicht erklären, für mich ist es im Nachhinein ein Wunder Gottes und seine fürsorgende Hand. Ich konnte in dieser Nacht schlafen, ohne Schlaftablette, und ich schlief traumlos oder zumindest träumte ich nichts, was mit den furchtbaren Ereignissen des Tages zu tun hatte. Bis zum heutigen Tag wurde ich von Flashbacks, von Träumen des Unfalls und von Bildern in der Nacht verschont. Ich bin Gott bis heute dankbar, dass ich solche Nächte nie erleiden musste, wo einen alles einholt und um den Schlaf bringt. Nächte, in denen man schweißgebadet aufwacht und feststellt, ja, es ist Realität, es ist kein Traum,
der nach dem Aufwachen vorbei ist und von dem man erleichtert sagen kann: Gott sei Dank, es war nur geträumt.
Allerdings war alles in dem Moment wieder da, als ich morgens die Augen aufmachte. Ich befand mich augenblicklich in der gleichen Leere wie am Tag zuvor. Schlimmer eigentlich noch, denn ich begriff, dass es eine in Stein gemeißelte Realität war. Ich bin schuld am Tod eines Menschen. Dieser Gedanke rückte sich ständig erbarmungslos in den Vordergrund und ich konnte mich nicht dagegen wehren.
Bald lernte ich die Mutter des Pfarrers, Frau Milner, kennen, eine so angenehme, wohltuende Person, dass sie wie ein Engel für mich war. Ihr schien es ganz egal zu sein, was passiert war. Sie fragte mich nicht einmal nach alledem. Ich war ihr Gast und so wurde ich behandelt. Keine Fragen, keine Anschuldigungen, kein gespieltes Mitleid. Ich durfte in ihrer Gegenwart genau so sein, wie ich es im jeweiligen Moment war.
Als ich nach der ersten Nacht erwachte, wusste ich mich noch gar nicht in dem Haus zurechtzufinden. Aber da ich tatsächlich Hunger hatte, suchte ich zielstrebig nach der Küche. Als ich sie gefunden hatte und vorsichtig eintrat, ohne zu klopfen, muss ich Frau Milner wohl ziemlich erschreckt haben. Nach dem ersten Schreck sagte sie: »Na so was, was bist denn du für einer, kannst du nicht klopfen, was hab ich mich erschreckt!«
Ich stand ziemlich bedröppelt da und entschuldigte mich, gleichzeitig sah ich aber ihr schelmisches Grinsen und bevor ich mir weiter Gedanken machen konnte, sagte sie: »Du bist also der
Heiko, du hast bestimmt Hunger, komm setz dich, ich habe dir was vorbereitet.«
Ich war ziemlich baff. Sie war gar nicht sauer, sondern schaute mich an mit Augen, die nichts außer Liebe ausstrahlten. Ich fühlte mich sofort angenommen und nahm die Einladung zum Frühstück gerne an. Sie hatte es geschafft, mich für einen kurzen Augenblick von den Gedanken an die Ereignisse abzulenken. Und tatsächlich brachte ich in ihrer Gegenwart ein paar Bissen runter.
Frau Milner war eine kleine ältere Frau Anfang siebzig, mit schneeweißen Haaren und klaren, liebevollen Augen. Man sah ihr an, dass sie schon einiges erlebt hatte, aber sie strahlte Lebensfreude aus und hatte einen unnachahmlichen Humor, der mich noch so manches Mal aus meiner Lethargie herausholte. Wenn nötig, konnte sie aber auch sehr bestimmend sein.
Ich lebte also mit den beiden in dem Haus, als ob ich schon immer dagewesen wäre. Später erfuhr ich, dass sie Heimatvertriebene waren und auf ihrer Flucht furchtbares Leid hatten erdulden müssen. Herr Langer erzählte mir einmal, dass Ihr Tross, der sich gen Westen geschoben hatte, von ehemaligen polnischen Soldaten aufgehalten worden war, die sich bitter gerächt haben für all das Leid, das deutsche Soldaten über Polen gebracht hatten. Die beiden hatten viel Schreckliches erlebt und im Westen angekommen, wurden sie geschmäht und abgelehnt. Doch sie hatten sich der Liebe verschrieben und diese Liebe herrschte in diesem Haus, und zwar bedingungslos.
Wenn ich später gefragt wurde, was Herrn Langer so besonders mache, sagte ich immer, dass ich mir genau so das Wirken von Jesus vorstellen würde. Unvoreingenommen, ohne Vorurteile, ohne Ansehen von Status oder Herkunft hatte er sich der Liebe dem Nächsten gegenüber verschrieben. Diese Liebe sollte mich noch nachhaltig prägen.
Im Haus lebten auch noch Tasso, der Hund des Pfarrers, und seine Katze. Tasso war mein Therapeut, ihm musste ich nichts erklären. Er schaute mich mit seinen großen dunklen Augen an, als wollte er sagen: Hör zu, mir ist egal, was war, ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Er schien mein Gefühlsleben zu erspüren, in den schlimmsten Momenten war er plötzlich bei mir und drückte sich an mich. Es tat einfach nur gut.
Eines Morgens wachte ich auf und der tägliche Albtraum wurde noch schlimmer. In den örtlichen Zeitungen wurde der Unfall als »übler Scherz« als »eine Dummheit« dargestellt. Es wurde sogar gemutmaßt, dass ich wissentlich auf meinen Kameraden gezielt hätte. Ich selbst wurde als minderbemittelt hingestellt, als jemand, der noch kindlichen Gemüts war und alles als ein Spiel sah, jemand, der in seinem Alter noch keinerlei Verantwortung für sein Handeln übernehmen könne. Ich war damals einundzwanzig Jahre alt.
Auch die Person von Sven und sein Verhalten wurden völlig falsch dargestellt. Kein Wort darüber, dass wir uns, bis der Schuss fiel, beide nicht wahrgenommen hatten. Es wurde teilweise so dargestellt, dass wir uns einen Spaß mit den Waffen erlaubt hätten und dann der Schuss gefallen sei. Wie konnte die Presse so etwas schreiben! Von wem hatten sie nur diese falschen Informationen? Was war der Hintergrund, uns in der Öffentlichkeit so darzustellen, wer hatte etwas davon?
Fakt ist, es gab keine Zeugen und jeder konnte das, was geschrieben und gelesen wurde, für sich interpretieren, wie er wollte. Ich war außer mir, aber nicht vor Wut, sondern vor Verzweiflung. Ich stellte mir vor, was die Eltern von Sven denken würden, wenn sie
das lasen. Dieser Soldat hat unseren Jungen erschossen, vielleicht sogar absichtlich. Dann wäre ich in ihren Augen ein Mörder gewesen. Das wurde mir schlagartig klar und ich konnte mit diesem Gedanken nicht umgehen. Nein, nein, das wäre furchtbar für mich gewesen, wenn sie so etwas denken würden, denn es stimmte einfach überhaupt nicht, was da in der Presse über mich, über uns und den Unfall stand.
Und dann dachte ich an meine Eltern. Sie waren weit weg vom Geschehen. Sie wussten nur über Telefon von Pfarrer Langer von dem Unfall und meiner Beteiligung daran. Ich fühlte mich zu Anfang nicht in der Lage, zu ihnen Kontakt aufzunehmen, und war froh, dass Herr Langer das für mich erledigte. Ich musste also davon ausgehen, dass sie ihre Informationen aus der Presse erhielten. Und natürlich waren auch sie verzweifelt. Wie hatte das passieren können, was war wirklich geschehen? Konnte es sein, dass ihr Sohn wirklich absichtlich zu so etwas fähig war?
Nachdem ich durch die Hilfe von Pfarrer Langer stabil genug war, fuhr er mich einige Tage nach dem Unfall nach Hause. Jetzt wäre eigentlich der Augenblick gewesen, meinen Eltern zu erzählen, was wirklich geschehen war. Aber ich konnte nicht darüber reden, wollte nicht darüber reden. Vergrub mich in mir selbst und ließ niemanden in mein Innerstes blicken. Ich spürte, dass sie nach Antworten suchten, aber ich konnte ihnen diese nicht geben. Es war ein Unfall gewesen, eine unsägliche Aneinanderreihung unglücklicher Umstände. Es wäre erklärbar gewesen, aber ich konnte es nicht. Würden sie mir überhaupt glauben? Ich schämte mich, dass ich meine Familie in so eine Situation brachte, aber ich konnte all meine Gefühle nicht in Worte fassen. Es war wie eine Wand. Und so ließ ich sie allein in ihren Gedanken und ihren Interpretationen zu der Sache. Irgendwann akzeptierten beide Seiten diese Situation und es legte sich das Mäntelchen des Schweigens über das Ganze.
Ich war erst mal vom Dienst befreit und krankgeschrieben und war zu Hause bei meinen Eltern. Ich versank in mir selbst, war eigentlich im Schutz meiner Familie und doch so allein. Nach Ablauf der Krankschreibung war ich wieder bei Pfarrer Langer. Er war in dieser Zeit wie ein Engel für mich, ein Segen. Das verstand ich aber erst nach einiger Zeit. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mich durch diese schwere Zeit zu begleiten. Ich wollte das alles nicht, ich wollte niemandem zur Last fallen. Ich hatte die Fürsorge doch gar nicht verdient! Warum wollte er mir also helfen?
Warum nahm er mich in seine Wohnung auf, warum konnte ich bei ihm essen und schlafen?
Und er tat noch viel mehr. Er schirmte mich vor den Journalisten ab. Der Fernsehsender RTL hatte Wind bekommen von dem Unfall und irgendwann stand ein Team vor der Tür. Aber keine Chance, es scheiterte an Herrn Langer. Er koordinierte Termine, sprach mit Soldaten in der Kaserne, mit den oberen Dienstgraden. Alles im Hintergrund, ich bekam davon nichts mit.
Ich saß in der ersten Zeit meist teilnahmslos herum und ergab mich meinen Gedanken, von denen keiner zu irgendeinem Ziel führte und immer das gleiche Ende hatte: Warum!
Herr Langer hatte ein Faible für ausgedehntes und gutes Essen. Abends saßen wir mit seiner Mutter und dem Hund auf der Terrasse und es wurde gemeinsam gegessen. Jede Mahlzeit begann mit einem Tischgebet, das immer den Dank für die guten Dinge des Tages und für das Essen einschloss. Auch wenn ich wahrlich in jener Zeit nichts Gutes sehen konnte, waren diese Gebete immer auch ein kleines Fenster, das zur Dankbarkeit hin geöffnet wurde.
Das Erkennen eines kleinen Lichtstrahls und die Erkenntnis, dass es dieses Licht gab, auch in der größten Dunkelheit.
Herr Langer und seine Mutter nutzten diese Zeit, um sich über die Ereignisse des Tages auszutauschen und die jeweiligen Aufgaben für den nächsten Tag zu besprechen. Sie waren ein eingespieltes Team. Nach dem Essen zog sich Frau Milner meist zurück und dann wusste ich, was kam.
Herr Langer versuchte mich immer wieder zum Reden zu bewegen. Ich dagegen versuchte dem auszuweichen, denn ich hatte keinen Bedarf. Was sollte Reden schon bringen! Konnte es etwa meinen Kameraden wieder zurückbringen? Konnte es mir mein Leben wieder zurückgeben, das ich vor dem Unfall gehabt hatte? Würde das Reden überhaupt irgendetwas Gutes bewirken? Nein, ich wollte nicht, und so versuchte ich, dem Gespräch immer wieder auszuweichen, versuchte auch, dem Pfarrer aus dem Weg zu gehen. Zeitweise war ich richtig wütend. Er sollte mich doch einfach in Ruhe lassen!
Irgendwann jedoch gab ich die Blockade auf und es war die beste Entscheidung meines Lebens, die Gesprächsangebote anzunehmen. Mir blieb auch fast nichts anderes übrig. Denn selbst wenn ich schwieg, sagte er mir mit einer hohen Trefferquote, was er annahm, das gerade in meinem Kopf abging. Teilweise war es fast beängstigend, ich hatte das Gefühl, als könne er in mich hineinsehen. Es waren viele solcher Gespräche, die wir führten, aber an einen Abend kann ich mich noch besonders gut erinnern.
»Du denkst an den Unfall?«, fragte er mich.
»Ja«, antwortete ich kurz und knapp.
»Was genau überlegst du?«
»Keine Ahnung, alles Mögliche!«
»Weißt du, du kannst nicht an den Unfall denken und keine Ahnung haben, was du denkst.«