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Priska Lachmann Aufwärts fallen

Wie mein Leben zerbrach und ich zu einem neuen Glauben fand

Für alle, die zweifeln, enttäuscht sind, abgelehnt wurden, an Gott interessiert sind, Jesus suchen, zu viele offene Fragen haben. Und für alle, die voller Liebe und Hingabe in mich und mein Leben investiert haben.

»Vielleicht ist das Gegenteil von Fundamentalismus nicht liberal zu sein, sondern Menschlichkeit!«
Nach Nadia Bolz-Weber auf Instagram

Einige Namen der Protagonisten wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert.

Gott ist in meinen Texten der Lesbarkeit halber in der männlichen Form beschrieben. Ich möchte aber voranstellen, dass Gott kein Geschlecht hat, sondern unsere deutsche Sprache Gott männlich tituliert. Wir sind geschaffen nach Gottes Bild, also männlich und weiblich. Und so ist auch Gott alles.

I. »Pass auf, nicht dass du in die Hölle kommst!« 11

II. »Bis dass der Tod euch scheidet!« 67

III. »Sündige nicht, sondern lebe heilig!«

IV. »Kein Sex vor der Ehe!«

V. »Du musst dich unterordnen!«

VI. »Ich bin wütend!«

Einleitung

Vielleicht wäre es leichter, ich wäre gar nicht mehr gläubig, hätte meine ganze Vergangenheit mit meinem Glauben zusammen in eine Kiste gepackt und im hintersten Winkel auf dem Dachboden versteckt. Eingewoben von Spinnweben würde die Kiste vielleicht erst viele Generationen später wiedergefunden und ihre Inhalte als Relikte aus uralter Zeit mit erstauntem Kopfschütteln und achtsamem Schweigen von den neuen Hausbesitzern betrachtet werden.

Oder vielleicht wäre mein Glaube auch besser wie ein alter Regenmantel, den man nicht vernünftig zum Trocknen aufgehängt hat. Jetzt müffelt er und modert und man wirft ihn in die Mülltonne. Und ist der Mantel einmal weg, denkt man auch nicht mehr an ihn und kauft stattdessen einen neuen, schicken und passenden. Ein neuer Mantel für eine neue Zukunft.

Doch was mache ich? Ich schleppe meinen Glaubensmantel immer noch mit. Ich hänge ihn in den Schrank und schaue immer mal wieder nach ihm. Manchmal andächtig, manchmal mit schmerzendem Herzen. Manchmal kommen mir auch die Tränen. Ich werde ihn nicht ganz los, will ihn auch nicht loslassen und wegwerfen. Stattdessen hole ich ihn immer wieder hervor. Ich flicke die kaputten Stellen, manchmal nähe ich mir auch ein neues Innenfutter ein und wenn er nicht mehr ganz passt, dann ziehe ich eben den Bauch ein. Dann geht es schon. Zu viel

Angst habe ich, dass ich keinen neuen, passenden Mantel finden könnte. Zu sehr habe ich mich an ihn gewöhnt. Und es ist auch trotz aller unbequemer Erfahrungen in meiner Vergangenheit, bequemer, mit ihm zu leben, als ohne ihn. Er gibt mir Sicherheit. So scheint es mir. Vielleicht ist mein Glaube auch viel mehr als ein Mantel? Vielleicht eher eine zweite Haut und ich erlebe, wie diese zu eng wird, reißt und platzt, damit etwas Neues, vielleicht Schöneres entstehen kann?

Vorab sei gesagt, ich schreibe dieses Buch nicht über die Vergangenheit. Ich bin nicht »durch« mit dem Thema, es ist eher ein Weg, den ich beschreite. Ich schreibe also in Verletzlichkeit und Achtsamkeit und immer begleitet vom Hinterfragen, Sehnen und Suchen nach Antworten oder wenigstens nach diesem einen Gefühl: Anzukommen.

Dieses Buch ist für all diejenigen, die mehr Fragen als Antworten haben, die Jesus verloren haben durch menschliche, schmerzhafte Begegnungen, die Gott suchen aber nicht wissen, ob er sich von ihnen finden lassen möchte. Und auch für diejenigen, die schon alle offenen Fragen Gott betreffend durchdacht haben, nun am Ende einer langen Reise stehen und das Nichts, vor dem sie sich am Ende wiederfinden, neu füllen müssen.

Auf meiner eigenen Glaubensreise wollte ich alles richtig machen, machte im Endeffekt aber vieles falsch.

»Das Bodenpersonal Gottes lässt doch sehr zu wünschen übrig. Es ist, wie wenn man einen sehr guten Film in einem schlechten Dorfkino ansieht. Die Umstände sind miserabel, die Tonqualität ist vielleicht schlecht, die Umgebung ist laut, und der Filmprojektor ist uralt, und leider besteht Gefahr, darüber zu vergessen, dass der Film selbst doch eigentlich grandios ist.«

Hape Kerkeling in seinem Buch »Ich bin dann mal weg«

I.
»Pass auf, nicht dass du in die Hölle kommst!«

Ich war eine Fundamentalistin*. Das klingt jetzt so, als würden wir bei den Anonymen Alkoholikern im Kreis sitzen und alle würden der Reihe nach aufstehen und bekennen. »Hallo, ich bin Priska. Ich war Fundamentalistin.« Und ja, inzwischen fühlt es sich an wie ein Bekenntnis: Der Moment, in dem man etwas bekennt, das einen innerlich aufgefressen hat und man an einen Punkt im eigenen Leben gekommen ist, an dem man endlich authentisch und frei leben will; sich von Fesseln und Ketten befreit, destruktive Lebensweisen aufgibt, um zu wachsen und gesund zu sein. Ich war eine Fundamentalistin, die glaubte, dass die Apokalypse naht und die Glücksbärchis und Teletubbies Auswüchse des Teufels sind, um mit New Age in die Kinderzimmer zu gelangen. Und ich war der Überzeugung, dass ich, wenn ich nur richtig glauben und beten würde, niemals krank werden würde.

Die ganze Zeit aber spürte ich tief in mir, dass mich dieses Denken nicht glücklich machte und dass es mich nicht so befreit leben ließ, wie es mir und den Menschen um mich herum immer wieder versprochen wurde. Trotzdem war ich fundamentalistisch und hütete mich davor, Zweifel in mir zum Leben erwachen zu lassen. Zu groß war die Furcht, zu liberal zu werden und

dann nicht mehr ganz zu Jesus zu gehören und damit unwürdig, nicht gerettet und zu ewigen Höllenqualen verdammt zu sein. Ich klammerte mich an fundamentalistisches Gedankengut, weil es das einzig richtige zu sein schien. Fundamentalistisch zu sein hieß, die richtigen Überzeugungen über Gott zu haben und diese Überzeugungen gegen alles zu verteidigen, was diese in Frage stellen wollte. Den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen, daran hingen mein Selbstwertgefühl und mein Lebenssinn. Gott zu gefallen und andere davon zu überzeugen, dass sie ihn genauso lieben und verehren sollten wie ich, war mein Ziel.

Wenn ein Prediger auf die Bühne in einem der vielen Gottesdienste kam und eine Bibelstelle vorlas, wusste man sofort, worüber gepredigt werden würde, welche Bibelstellen verwendet und wie sie ausgelegt werden würden, da es (gefühlt) immer nur eine mögliche Auslegung gab. Damit wuchsen wir auf und das gaben wir genauso an die nächste Generation weiter. Theologische Veränderung war nicht möglich. Prophetische Worte waren absolut und wurden nur hinterfragt, wenn sie nicht vom Prediger oder einem der Ältesten gesprochen worden waren, nicht aber, wenn der Prophet oder die Prophetin in der Gemeinde angesehene Menschen waren. Ich war der Meinung, dass der wahre christliche Glaube, oder die ursprünglichste, beste und pure Version davon mit Jesus und seinen Jüngern in die Welt gekommen war, dann inmitten des Römischen Reiches mit der katholischen Kirche verlorenging und wieder zum Leben erweckt wurde durch Martin Luther und die Reformation. Doch dann wurde er wieder verwässert durch all die Humanisten, und, was noch schlimmer war, durch historisch-kritische Exegese* oder die feministische Theologie. Für mich war völlig klar, dass die wichtigsten Elemente des Glaubens sich über die Jahre und Jahr-

hunderte nicht verändert hatten, sondern dass sie in der Bibel zwar verborgen, aber aufgehoben waren und es unsere Aufgabe sei, diese zu verteidigen und zu beschützen. Diese wichtigen, fundamentalen Wahrheiten durften sich nicht verändern.

Aber wie hätten diese Wahrheiten ausgesehen, wenn ich in einer anderen Zeit gelebt hätte? Hätte ich dann Bibelverse genutzt, um zu belegen, dass es mein Recht sei, Sklaven zu besitzen? Wäre ich begeistert gewesen, wenn ich von den Kreuzzügen gehört hätte? Und wäre es für mich nicht biblisch belegbar gewesen, dass mein Mann polygam leben darf?

Die einfachen Antworten befriedigten mich irgendwann nicht mehr. Ich begann zu zweifeln und mich meinen eigenen Fragen zu stellen. Mein Glaube wurde lückenhaft, zerstückelt und war doch zugleich so echt wie noch nie. Ich bezweifelte die ewige Verdammnis aller Nicht-Christen und die wissenschaftliche und historische Akkuratesse der Bibel. Ich hinterfragte die Absolutheit von Wahrheitsansprüchen und Gott an sich: Seine Gerechtigkeit, vor allem in Bezug auf Errettung und Armut. Ich hinterfragte seine Allmacht, und all die Bibelverse, in denen ich Unterdrückung entdecken konnte. Wenn es überhaupt eine Schublade gibt, in die man mich stecken könnte, dann muss ich sagen: Ich wurde liberal. War der Gott meiner Kindheit tatsächlich der Gott, mit dem ich leben wollte?1

Meine Fragen töteten meinen Glauben nicht , stattdessen machten sie ihn tiefer, fester, stärker und neu. Ich musste mich ergründen, neue theologisch fundierte Antworten suchen, mit alten Glaubenssätzen aufräumen und meine Angst vor der großen, weiten Welt mit all ihren Möglichkeiten ablegen. Aus meiner kleinen fundamentalistischen Gemeindeblase auszusteigen, stellte sich als das größte Abenteuer meines Lebens heraus. Es

war wie eine Metamorphose und ich hatte furchtbare Angst, dass ich nichts zu geben hatte und nicht überleben würde in der säkularen Welt, die bis dahin so einschüchternd auf mich gewirkt hatte. Ich kannte bis zu dem Zeitpunkt nur meine kleine, fundamentalistische Blase und »dort draußen« wartete so viel Unbekanntes auf mich. Ich stürzte in eine Identitätskrise, versuchte, mir meine Werte neu zusammenzusuchen und -zusetzen und dazu ein komplett neues Leben aufzubauen. Es war das Beste und Schmerzhafteste, was ich jemals getan habe, und es fühlt sich manchmal immer noch beängstigend an.

Aber ich bin nicht allein mit meinen Fragen, mit meinen Zweifeln und Unsicherheiten. Wir sind viele. Und das fühlt sich sehr tröstlich an. Vielleicht ist das auch, wie sich Glaube anfühlen sollte: »etwas beängstigend« und gleichzeitig »tröstlich«.

In dem ganzen Prozess wurde mir eines bewusst: Ich sehne mich nicht nach einem modernen Christentum, sondern nach einem authentischen, wahrhaftigen Christentum. Ich suche Jesus. Den Menschen, den Gott, den Prediger. Jesus, den Mann, der sich nicht zu schade war, an den Rand der Gesellschaft zu gehen und gleichzeitig der heuchlerischen religiösen Elite die Stirn zu bieten. Jesus, die Liebe, die Zugewandtheit, den Mann, der Menschen berührte.

Sehr treffend sagt die leider schon verstorbene Rachel Held Evans, dass sie dafür keine hippen Nebelmaschinen und Kaffeebars brauche, auch wenn diese natürlich motivierten, sich sonntags aus dem Bett zu hieven. Sie brauche und sehne sich voller Inbrunst vielmehr danach, Jesus in seiner tiefen Wahrheit nahezukommen.2

Um meine fundamentalistische, manchmal verurteilende Haltung abzulegen, musste ich mich dem Schmerz der Fragen

stellen. Fragen, auf die es keine passende Antwort gab, oder keine, die wirklich befriedigend war. Ich musste mich dazu entscheiden, Veränderung zuzulassen und den Schritt in eine Zukunft zu wagen, die komplett dunkel und vernebelt vor mir lag. Ich startete in das größte Abenteuer meines Lebens. Niemals hätte ich gedacht, dass nach dem Nebel Sonnenschein kommen würde, der mein Herz mit so viel Freude und Liebe wärmt und mich lachend und befreit über die gefrosteten Wiesen tanzen lässt, die mit der Wintersonne um die Wette funkeln. In dieser Welt taut die Frühlingssonne langsam den kalten Winter weg. Die ersten Krokusse strecken ihre Köpfe aus der Erde. Es ist eine Welt, die langsam erwacht. In der noch viel unklar ist und in der ich mich Schritt für Schritt fortbewege, voller Dankbarkeit, dass ich hier angelangt bin.

Wenn wir uns aus der fundamentalistischen Gedankenwelt herauswagen, dann müssen wir uns für den Wandel und für Veränderung öffnen. Nicht stehenzubleiben kostet allerdings viel Mut. Man bewegt sich von Sicherheit über Zweifel hin zu einem verwandelten Glauben. Es geht dabei nicht so sehr um die Antworten, sondern um die Fragen, die man sich in diesem Prozess zu stellen wagt. Dieser Prozess ist bis heute für mich nicht abgeschlossen, vermutlich wird er das auch nie sein. Ich glaube aber, dass wir manchmal in unseren unfertigen, verletzlichen Prozessen näher an echten und tiefen Antworten sind, als wenn wir meinen, alles zu wissen.

Es ist meine eigene Geschichte, die mich zu einem ganzheitlichen und endlich authentischen Menschen hat heranwachsen lassen. Meine Geschichte hat einige Ecken und Kanten, auf die ich nicht stolz bin. Doch ich kann sagen: Ich habe überlebt und bin an den Tiefpunkten gewachsen. Vielleicht ähnelt sie auch

deiner Geschichte. Meine Fragen sind höchstwahrscheinlich auch deine Fragen. Wir sind auf einer gemeinsamen Reise, die sich manchmal schmerzhaft, manchmal verzweifelt und doch oft auch wunderschön anfühlt. Meine Geschichte soll dir helfen, dich durch den Nebel zu bewegen. Ich nehme dich an die Hand und wir gehen gemeinsam.

Meine eigene Reise startete in der Deutschen Demokratischen Republik, in einer der aktuell am meisten gehypten Städte Deutschlands: in Leipzig.

Ich wurde in einem Akademikerhaushalt geboren, und das zu DDR-Zeiten. Meine Eltern hatten Umwege in Kauf genommen und hart gearbeitet, um als Christen in der DDR studieren zu dürfen. Das war nur Wenigen vergönnt, und normalerweise musste man linientreu und der Partei ergeben sein, um zu einem Studium zugelassen zu werden. Ich war ein absolutes Wunschkind. Meine Mutter entschied sich damals, sich als Psychologin selbstständig zu machen, um drei Jahre mit mir zu Hause sein zu können. Nach dem Ende der DDR, als ich drei Jahre alt war, begann mein Vater eine Weiterbildung in Westberlin vom Justiziar zum Rechtsanwalt, um seinen Beruf weiter ausüben zu können und wurde einer der ersten Fachanwälte in Leipzig. Montag bis Freitag verbrachte er in Berlin und kam am Wochenende nach Hause, wo ich ihm sehnsüchtig wartend in die weit geöffneten Arme sprang. Für meine Eltern war die Umbruchszeit der Wende, wie für alle Betroffenen, herausfordernd. Es ging ums Überleben, darum sich zurechtzufinden im Kapitalismus, den man nie kennengelernt hatte. Es war eine Erlösung von einem

alten System, das destruktive Züge hatte, und gleichzeitig ein komplett neues Leben, in dem alle eines Tages unvermutet aufwachten und sich zurechtfinden mussten. Für die Menschen, die nicht systemtreu gelebt und gedacht hatten, zu DDR-Zeiten unter Repressalien gelitten hatten, mitunter regelmäßig von der Stasi verhört worden waren, war die Nachwendezeit eine Zeit des Aufatmens angesichts der Meinungs- und Glaubensfreiheit. Nun waren nicht mehr nur die Gedanken frei.

Die Familie meines Vaters war und ist baptistisch, meine Mutter kommt aus einem pfingstlerischen* Elternhaus. Diese beiden Freikirchen* stehen einander durchaus nahe, unterscheiden sich aber vor allem in der Weise, wie sie vom Heiligen Geist denken. Dieser hat in einer sogenannten pfingstlich-charismatischen* Gemeinde große Bedeutung. Man praktiziert Geistesgaben*, wie das Zungengebet* und die Prophetie. Daraus erwächst allerdings manchmal das Gefühl, etwas besser zu sein als andere Christen, oder mehr von Jesus als bestem Freund, Heiler und Retter zu erleben. Insgesamt ist der Glaube hier beziehungsorientiert und lebensnah. Man betet als Teenager dafür, dass die Pickel auf der Stirn verschwinden, später dafür, dass man eine freie Parklücke oder einen passenden Ehepartner findet und natürlich für Gesundheit. Das Leben in einer Freikirche ist oft von enger Gemeinschaft geprägt, was ein Gefühl von familiärer Verbundenheit mit sich bringt. Das bewirkt einerseits Geborgenheit, kann aber auch übergriffige Züge annehmen, nämlich dann, wenn einem eigentlich fremde Menschen in das Privatleben hineinreden. Die Gemeinde ist ein Verein, in dem man sehr viel Zeit verbringt, im besten Fall eigene Gaben entdeckt und auslebt und der wie ein kleiner, abgeschlossener Kosmos funktioniert. Man entwickelt bisweilen eine eigene Sprache, lebt und denkt nur in

der kleinen Gemeindewelt. Das gilt nicht pauschal für alle Gemeinden, doch in so eine enge evangelikale*, fundamentalistische Pfingstgemeinde wurde ich hineingeboren.

Eigentlich hatte ich darin eine schöne Kindheit, und erst später wurde mir klar, dass diese mir auch viel Trauma mitgab. Doch das erkannte ich erst, als ich als erwachsener Mensch nicht mehr Teil des Vereins war. Als ich mich in der kleinen Blase bewegte, fühlte sich alles normal und schön an. Bis ich eben irgendwann nicht mehr passte, bis ich Entscheidungen traf, die meine Gemeindefamilie als Fehlentscheidung ansah und nicht mittragen konnte. Bis ich aneckte und meine Authentizität auf die Probe gestellt wurde.

In meiner Kindheit verbrachte ich jeden Sonntag in einer Sonntagsschule für Kinder, die parallel zum Gottesdienst für verschiedene Altersgruppen angeboten wurde. Dort lernten wir Bibelgeschichten kennen, sangen christliche Kinderlieder wie »Sei ein lebend’ger Fisch« oder »Volltreffer Gottes«, beteten und warfen ein paar Pfennige als Spende in eine kleine Spardosen-Kirche. Das gesammelte Geld ging an Kinder aus einem fremden, armen Land. Ich war immer besonders stolz, wenn ich daran gedacht hatte, meine Mutter um Geld zu bitten. Dann durfte man mit vor Aufregung schwitzigen Händen aus dem Sitzkreis in die Mitte gehen und das Geld in den Schlitz des kleinen Kirchturms werfen. Dort klingelte ein kleines Glöckchen, ganz hell und laut. Je mehr Pfennige ich hatte, desto öfter konnte ich es klingeln lassen. Das war schön und ich war stolz, dass ich Kindern, die weniger hatten als ich, etwas Gutes tun konnte. Jeden Sonntag lernten wir einen Vers aus der Bibel, den wir uns merken und am darauffolgenden Sonntag wieder aufsagen sollten. Zur Belohnung gab es Süßigkeiten. Ich lernte die Verse

immer, es fiel mir leicht. Da mein Vater im Gemeindevorstand und auch meine Mutter ehrenamtlich sehr engagiert war, gingen wir jeden Sonntag in den Gottesdienst.

Ab der 1. Klasse gab es neben der klassischen Sonntagsschule noch einen Bibelkurs für Kinder, der einmal wöchentlich stattfand. Ich war fleißig, lernte vorbildlich alle Bibelverse auswendig und saugte alles Wissen auf. Schnell kannte ich alle wichtigen Bibelgeschichten und las meine erste Kinderbibel mehrfach durch. Ich bastelte kleine Schatztäschchen, in denen ich Bibelverse, die auf Karten geschrieben waren, verstaute, und heftete Bibelweisheiten in einen goldenen Ordner. Die Gemeindepädagogin nannte ich »Tante« und beim Vornamen. Sie gab sich große Mühe und brannte für ihren Beruf. Regelmäßig fuhren wir mit anderen Pfingstgemeinden zusammen auf Kinderfreizeiten, »Rüstzeit« genannt. Auch dort erlebten wir als Kinder Andachten, lernten Bibelverse und neue Lieder, bastelten und spielten. In dieser Zeit entstanden feste Freundschaften, wir teilten dieselbe Blase, den gleichen Glauben, waren auf eine Denkweise gepolt und wuchsen gemeinsam auf. Ich liebte diese Freizeiten. Liebte es, mit meinen Freundinnen zusammen zu sein und liebte auch die vielen Geschichten über Gott. Mein Kinderglaube war stark, voll von kindlichem Vertrauen, sicher und geborgen. Gott war mein himmlischer Vater, Jesus mein Freund. Meine Familie war meine feste Burg und mein Umfeld bestand, neben meinem evangelischen* Kindergarten und meiner Musikschule, in der ich Klavierunterricht bekam, nur noch aus meiner Gemeinde. Mein Leben war sicher und stabil.

Nach der Wendezeit erlebten auch die Schulen einen Umschwung, vor allem pädagogisch. Meine Eltern wollten mich auf einer neugegründeten evangelischen Schule unterbringen,

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