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© Sigrid und Martin Baron

Text: Philipp Schreiber

Mitarbeit: Martin Baron

Lektorat: Klaudia Wagner

Grafik: Isabelle Brasche • www.macbelle.de

Satz: Roland Senkel

Fotos: bigstockphoto.com, freepik.com, verenahahnelt.de, privat

Sämtliche Bibelstellen sind, soweit nicht anders angegeben, der Schlachter Bibel 2000 © Genfer Bibelgesellschaft entnommen worden.

Sofern angegeben, wurde ebenfalls verwendet:

(ELB) Revidierte Elberfelder Bibel

© 1985, 1991, 2006, SCM R. Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten (LU) Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (NeÜ) Neue evangelistische Übersetzung, © 2020 Karl-Heinz Vanheiden, Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg 2010, Textstand 2020 (NL) Neues Leben. Die Bibel

© 2002 und 2006 SCM, R. Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten (NGÜ) Neue Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen. © 2011 Genfer Bibelgesellschaft (HfA) Hoffnung für Alle, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®, herausgegeben von Fontis, Basel.

Hervorhebungen in den Bibelzitaten durch Fettdruck wurden vom Autor vorgenommen.

In diesem Buch werden mit Ausnahme der Bibelzitate die Begriffe „teufel“, „satan“, „feind“ usw. kleingeschrieben.

1. Auflage 2024

ISBN 978-3-943033-61-8

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers.

info@gottes-haus.de www.gottes-haus.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Repräsentanten des Höchsten

Stell dir folgendes Szenario vor:

Es gibt ein kleines, bettelarmes, verseuchtes und verrufenes Land. Das Volk wird von einer winzigen, völlig verrotteten, korrupten und verdorbenen „Elite“ geschunden und gepeinigt. Überall gibt es schreiendes Unrecht, Gräueltaten, brutalen Missbrauch und gnadenlose Ausbeutung. Wo immer man hinschaut, sieht man Not und Schmerz. Die ganze Situation ist unfassbar erbärmlich und es scheint keine Hoffnung auf Veränderung oder Verbesserung zu geben.

Es gibt aber auch ein extrem reiches, riesiges Land. Wo immer man hinschaut, gibt es Segen, Wohlstand und Gedeihen. Das Land strotzt nur so von Ressourcen, es herrscht keinerlei Mangel, den Menschen geht es blendend, sie sind gesund und glücklich – alles ist rundum richtig gut. Dieses Land wird von einem sehr genialen, weisen Herrscher regiert.

Du selbst gehörst zu diesem einzigartigen, gesegneten Land und Volk. Du genießt es, freust dich an den reichhaltigen Segnungen und bist dem weisen Gebieter von Herzen dankbar. Nach einiger Zeit wirst du ausgewählt, als ein Botschafter dieses reiche Land und den Herrscher in einer angemessenen, gebührenden Weise im Ausland zu repräsentieren. Es ist eine große Ehre. Und das Land, in das du als Botschafter ausgesandt wirst, ist genau jener arme, elende, jammervolle Staat.

Als Gesandter befindest du dich nun in diesem traurigen, leidenden Land. Es ist überall um dich herum. Du bist mittendrin. Es umgibt dich. Wenn du dich umschaust, siehst du die Not, den Schmutz, die Verdorbenheit.

Doch es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dir und den Menschen um dich herum. Du selbst gehörst nicht zu der Not, dem Schmutz und der Verdorbenheit. Denn obwohl du dich in diesem bejammernswerten Land befindest, ist es nicht dein Land. Du unterstehst nicht der Elite dort und auch nicht ihren Gesetzen, ihren ungerechten Vorgaben, ihrer Bosheit, ihrem Missbrauch. Du gehörst zu einem völlig anderen „System“. Du lebst nicht von den Ressourcen dieses geschundenen Landes, du erhältst deine Versorgung nicht von dort. Die Informationen und Anordnungen, die Aufträge und Verhaltensweisen, die für dich relevant sind, stammen nicht von dort. Du unterstellst dich nicht den verrotteten Obrigkeiten dieses misshandelten Landes.

Du hast ein völlig anderes Leben als jemand, der Bürger dieses Staates ist. Denn es ist schlichtweg nicht dein Heimatland. Du bist dort kein Bürger, sondern lediglich als Botschafter dorthin gesandt, um deine eigene Nation, das System, aus dem du stammst, in guter und angemessener Weise zu repräsentieren. Du weißt es – und du lebst dementsprechend.

Und du hast die Zusage, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen wird, an dem du in das Land zurückkehren wirst, zu dem du wirklich gehörst, in deine Heimat.

So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!

2.Korinther5,20(LU)

Zu diesem Buch

Meine Frau Sigrid und ich haben von unserem Dienst Gottes Haus aus in den vergangenen Jahren zahlreiche Vorträge und Predigten hinsichtlich der Stellung der Kinder Gottes gegenüber dem System dieser Welt; dem Verhalten gegenüber der sogenannten Obrigkeit; den übergriffigen staatlichen Maßnahmen, insbesondere während der Corona-Phase; dem, was hinter den Kulissen abläuft u. ä. gehalten und per Livestream ausgestrahlt. Es war uns wichtig, der Ekklesia mitzuteilen, dass es neben dem an vielen Orten gepredigten und eingeforderten bedingungslosen Gehorsam gegenüber jeder auch noch so unsinnigen Maßnahme und Einschränkung des Systems auch eine andere Sichtweise gibt, nämlich diejenige, die nach unserer festen Überzeugung die biblische ist.

Philipp, den wir seit vielen Jahren kennen und schätzen und mit dem wir freundschaftlich verbunden sind, sprach ebenfalls im Gottes Haus Livestream über diese Thematik. Es gab zahlreiche Rückmeldungen auf unsere Positionierung, die von wüstesten Beschimpfungen bis hin zu echter Dankbarkeit reichten, auch, weil wir den Mut hatten, uns gegen den allseits verbreiteten Mainstream zu stellen, insbesondere auch den christlichen Mainstream.

Von zahlreichen Kanzeln wurde (und wird bis heute) den Zuhörern eine willfährige, angepasste Unterordnung unter jede Maßnahme des Staates gepredigt. Fürbitter beten hingegeben für jeden Politiker, mag er auch noch so korrupt und verdorben sein. Man sagt uns, dass wir als Christen der Obrigkeit untertan zu sein haben (die irrigerweise in irgendwelchen Politikern gesehen wird), dass wir zu parieren und zu funktionieren

haben. Die Forderungen mancher Pastoren und geistlichen Leiter erreichten in den vergangenen Jahren dabei bedenkliche Extreme, die durchaus mit Kadavergehorsam assoziiert werden konnten. Die oft geforderte „Extrameile“ war da noch eher im moderaten Bereich angesiedelt. Doch was soll man dazu sagen, wenn ein christlicher deutscher Leiter und Mitarbeiter eines sehr großen christlichen Netzwerkes auf seiner Facebook-Seite schreibt: „Kritik an der Regierung grenzt für mich an Gotteslästerung“? Hier sind, gerade im Land der Reformation und des Protestantismus – was von Protest stammt – Grenzen überschritten, die nicht unwidersprochen hingenommen werden dürfen, zumal dies keine Einzelmeinung zu sein scheint. Deshalb ist es in diesen außergewöhnlichen Zeiten, in denen wir leben, umso wichtiger, geistlich klar zu sein und zu bleiben.

Als Philipp mir eine Ausarbeitung zu Römer 13 schickte und vermerkte, dass er den Eindruck hat, dass das Thema „Umgang mit der Obrigkeit“ nach der Corona-Zeit vielleicht schon bald wieder an Aktualität gewinnen könnte, war ich zum einen von der theologischen Präzision seines Textes beeindruckt, zum anderen wurde mir bewusst, wie dringend notwendig es in der Tat ist, den Christen in der deutschsprachigen Welt diese wichtige Wahrheit zur Verfügung zu stellen.

Da wir zudem feststellten, dass es offensichtlich in der deutschsprachigen christlichen Literaturlandschaft kein biblisch sauber recherchiertes Buch zum Thema „Christ und Obrigkeit“ gibt –oder zumindest keines für uns verfügbar war – beschlossen wir, uns an die Arbeit zu machen. Philipp als Autor und wir von Gottes Haus als diejenigen, die das Projekt finanzieren, editieren und publizieren.

Dieses Buch ist die längst überfällige Antwort auf den Umgang von uns als Kindern Gottes – den Repräsentanten des Höchsten – mit den Regierenden und den sogenannten Obrigkeiten dieses gefallenen Weltsystems, welches, wie die Bibel unmissverständlich sagt, unter der Herrschaft satans steht.

Es ist ein Buch, das von größter Bedeutung für die Zeit ist, in die wir als Ekklesia eingetreten sind. Denn das Wort Gottes sagt unmissverständlich:

Wisst ihr nicht, dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein. Jakobus4,4

Es geht um die Grenzen christlichen Gehorsams; um die Verdrehung des Wortes Gottes, insbesondere in der bekannten Passage Römer 13,1-7; um den äußerst wichtigen historischen Kontext, in dem Paulus den Römerbrief schrieb; um eine genaue Betrachtung der verwendeten Begriffe im Griechischen; um das Verhalten und die Vorgehensweise der ersten Jünger und der Urgemeinde; um die Frage, wer eigentlich der Souverän in einer Demokratie ist und vieles mehr.

Wir von Gottes Haus sind sicher, dass dieses Buch für jeden Christen, der auf einem festen und biblischen Fundament hinsichtlich des Umgangs mit der sogenannten Obrigkeit stehen will, ein großer Segen sein wird.

Es ist ein Augenöffner, eine Warnung und ein Weckruf. Lies es mit einem betenden, offenen Herzen

Einleitung

Eine dramatische Fehlentwicklung

Da rief Jesus sie zu sich und sagte: „Ihr wisst, wie die Herrscher sich als Herren aufspielen und die Großen ihre Macht missbrauchen.“ Markus10,42(NeÜ)

Jeder Mensch ist dankbar für Frieden und ruhige Verhältnisse. Aber wie ist das, wenn sich in einem Land die Lage dramatisch zuspitzt? Was tut man, wenn Politiker sich als Herren aufspielen und Große ihre Macht missbrauchen? Wie geht man als Nachfolger Jesu mit übergriffigem staatlichem Handeln um? Anders gefragt: Was tun wir, wenn Behörden in unsere Handlungsfreiheit eingreifen und uns zu etwas zwingen wollen, was der eigenen Glaubensüberzeugung entgegensteht? Wie verhalten wir uns dann? Schweigsam und angepasst?

Viele Geschwister aus anderen Kontinenten könnten auf diese Fragen vermutlich eine sehr reflektierte Antwort geben, da sie sich teilweise seit vielen Jahrzehnten totalitären Regierungssystemen und repressiven Maßnahmen ausgesetzt sehen. Zahlreiche von ihnen haben in diesen Zeiten auf besondere Weise Gottes Zuspruch erfahren und wurden dadurch ermutigt, so wie der Prophet Daniel einfach mutig stehen zu bleiben1 und sich nicht zu faulen Kompromissen hinreißen zu lassen.

In Westdeutschland war das, zumindest oberflächlich betrachtet, lange Zeit kein Thema. Repressionen durch staatliches Handeln?

1 Daniel 6,10-11

Gottesdienstverbote? Ja, das gibt es vielleicht irgendwo auf anderen Kontinenten, aber doch nicht hier bei uns!

Nahezu unerschütterlich schien das Vertrauen zahlreicher Christen in die gesamtgesellschaftlichen Systeme unserer Länder. Dementsprechend hörte man an vielen Orten Gebete, die sinngemäß wie folgt klangen: „Danke, Gott, dass wir in einem Land leben, in dem wir uns frei versammeln können.“ Und wenn Missionare oder Gemeindegäste aus anderen Ländern über die schlimmen Zustände berichteten, die dort herrschten, kamen von vielen westlich geprägten Christen im Nachgang oft Kommentare wie: „Gut, dass wir in einem Land leben, wo so etwas nicht passieren kann. Danke, Herr.“

Man könnte meinen, dass die gesellschaftlichen Systeme als etwas von Gott Gegebenes erachtet wurden, in das man unbegrenztes Vertrauen setzte. Diskussionen über die eingangs gestellten Fragen hatten für viele allenfalls theoretischen Charakter, solange man sich nicht mit einer Reise in andere Länder befasste. Eine Reflexion zum Thema Christ und Staat? – Ja, vor kirchengeschichtlichem Hintergrund vielleicht oder im Hinblick auf andere Nationen, aber für die modernen Gesellschaften Westeuropas ist das doch überflüssig – so dachten wir zumindest.

Doch während der Dank an Gott für die Versammlungsfreiheit sicherlich richtig war, so war das tiefe Vertrauen in die Unerschütterlichkeit der gesellschaftlichen Systeme in höchstem Maße unangemessen und geistlich gesehen unweise, vor allem, wenn man an biblische Aussagen wie Jeremia 17,5 oder Hebräer 12,26-29 denkt.

Im März 2020 wurden viele dieser falschen Vorstellungen nachhaltig erschüttert, als auch in unserem Land plötzlich die Versammlungsfreiheit und das Grundrecht auf freie Religionsausübung mit Füßen getreten und religiöse Versammlungen (und damit auch christliche) eingeschränkt bzw. untersagt wurden.

Wie reagierten nun diejenigen, die in den Gemeinden zuvor Gott für die Freiheit in unserem Land priesen? Verurteilten sie die staatliche Übergriffigkeit und die damit verbundenen Grundrechtsverletzungen in aller Schärfe? Bestanden sie auf dem Recht der ungestörten Religionsausübung?

Nein!

Wie hinlänglich bekannt ist, akzeptierte die überwiegende Mehrheit christlicher Leiter die Verbote nicht nur, sondern sie hießen diese mit öffentlichkeitswirksamen Lobreden auf die politisch Handelnden sogar ausdrücklich willkommen. In besonders drastischen Fällen verstieg man sich in einigen Werken und Gemeinden sogar zu der unpassenden Aussage, man wolle noch eine „Extrameile“ gehen und sich selbst mehr Einschränkungen auferlegen, als von offiziellen Stellen verlangt wurde. Das ist in etwa so plausibel, wie wenn Behörden in einem fernöstlichen Land den christlichen Gemeinden vorschreiben würden, in ihren Gebetsräumen eine Götzenfigur zu platzieren und die Gruppierung würde es in ihrer Reaktion als „Extrameile“ bezeichnen, stattdessen gleich zwei von diesen Statuen aufzustellen.

Während das Thema der Grundrechte zumindest in Westdeutschland zuvor äußerst selten diskutiert wurde, brach sich nun mit Nachdruck eine Frage Bahn: „Darf der Staat das überhaupt?“

Sowohl Christen als auch Nichtchristen bewegten diesen Gedanken in ihrem Umfeld, über soziale Medien, in den Gruppen und Vereinen, denen sie jeweils angehörten. Im Gegensatz zur christlichen Szene positionierten sich im gesellschaftlichen Diskurs einige prominente Persönlichkeiten mit erfreulicher Klarheit zu dieser Frage. So äußerte sich neben anderen auch der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes HansJürgen Papier bei verschiedenen Gelegenheiten sehr deutlich. Im Hinblick auf das übergriffige staatliche Handeln traf er folgende Aussagen:

Nach dem Motto zu verfahren, die Not kenne kein Gebot, … oder der vermeintlich gute Zweck heilige jedes Mittel, scheint auch in diesem Land bisweilen hintergründig die Politik zu bestimmen. … Meine Damen und Herren, in einem freiheitlichen Verfassungsstaat sollten solche Überlegungen selbst in Notzeiten, selbst in Krisenzeiten eindeutig zurückgewiesen werden. Es steht ja völlig außer Zweifel, dass die Grundrechte des Grundgesetzes auch in Zeiten von Krisen oder Notzeiten gelten oder gelten müssen. I

Die Grundrechte – und zu ihnen gehören sowohl die Versammlungsfreiheit als auch das Recht auf ungestörte Religionsausübung – können nicht nur, sondern sie müssen in unserem Land jederzeit gelten und wirksam sein, so drückte es der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes hier mit begrüßenswerter Deutlichkeit aus.

Wie allgemein bekannt ist, teilte nicht jeder in der Gesellschaft diese Auffassung. Einige Stimmen – auch aus gemeindlichem Hintergrund – forderten sogar noch rigideres staatliches Handeln ein. Auf diese totalitären Tendenzen nahm Papier im selben Vortrag mit folgenden Worten Bezug:

Mich haben schon die autoritären Versuchungen überrascht, mit denen nicht nur die Politik aufgewartet hat, sondern [die] beispielsweise auch im intellektuellen Bereich anzutreffen waren. Ich erinnere … an die Äußerung eines mäßig bekannten

Schriftstellers in einer großen Tageszeitung, der einen Aufsatz veröffentlichte mit der Überschrift „Mehr Diktatur wagen“. –

Das war ernst gemeint und nicht etwa eine Glosse.II

Diese Ausführungen stimmen nachdenklich und man möchte aus christlicher Perspektive ergänzen: Hier waren nicht nur

Politiker und der sogenannte intellektuelle Bereich auf Abwegen, sondern ganz besonders auch Theologen, Pastoren und geistliche Leiter.

Doch was man den beiden erstgenannten Gruppen nicht vorwerfen konnte, fällt für Pastoren und Leiter vor dem Hintergrund von Jakobus 3,1 umso schwerer ins Gewicht: Sie verstiegen sich teilweise dazu, ihre Ansichten mit aus dem Kontext gerissenen Bibelzitaten belegen zu wollen. Der Regierung müsse man als guter Christ immer und unter allen Umständen gehorchen und dürfe niemals widersprechen oder gar hinterfragen, so schallte es von zahlreichen Kanzeln und Rednerpulten. Dabei wurden diese falschen Lehren in einigen Fällen mit einer derartigen Massivität vorgetragen und deren Einhaltung so rigide eingefordert und mit gemeindlichem Zwang bis hin zu Mobbing durchgesetzt, dass zahlreiche Christen sich davon tatsächlich beeindrucken ließen, lieber still blieben, auch wenn sie innerlich große Bedenken hatten, und das Spiel der gemeindlichen Unterwürfigkeit mitspielten. Zahlreiche andere verließen ihre Gemeinde oder wurden hinauskompromittiert, andere gingen in die „innere Emigration“.

Zentraler Bestandteil derartiger Predigten war dabei in den meisten Fällen der Bibelabschnitt Römer 13,1-7, welcher häufig in der Version der Lutherbibel zitiert wurde. Diese Übersetzungsvariante ist im ersten Vers zumindest ungenau, wie noch zu zeigen sein wird. Er lautet dort wie folgt:

Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet.

Römer13,1(LU)

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit“ – oft wurde der Satz noch einmal umgestellt, um das eigene Anliegen ganz besonders zu betonen. So kam es dann zu dem folgenden fehlgeleiteten und verdrehten Ruf: „Seid der Obrigkeit untertan“ oder auch: „Macht euch der Obrigkeit untertan!“

Bei vordergründigem Blick und ohne den Kontext zu kennen, scheint Römer 13,1 tatsächlich denjenigen Recht zu geben, die einen bedingungslosen Gehorsam gegenüber den Regierenden einfordern. Daher wiederholten viele Christen diese bedenkliche Lehre ihrer Leiter und Pastoren teilweise sehr unreflektiert und antworteten selbst auf äußerst zurückhaltende Fragen an der Rechtmäßigkeit des staatlichen Handelns sinngemäß etwa wie folgt: „Nein, halt! – Sowas darfst du nicht hinterfragen! Die Bibel (bzw. Pastor XY) sagt doch, wir sollen immer der Regierung gehorchen!“

Doch was ist, wenn diese Behauptung gar nicht der Wahrheit entspricht? Was ist, wenn die Mehrheit der Pastoren und geistlichen Leiter hier schlichtweg falsch liegt?

Kapitel 1

Wie war das eigentlich bei den ersten Jüngern?

Deshalb ist es wichtig, dass wir unseren Zusammenkünften nicht fernbleiben.

Hebräer10,25(NGÜ)

Lass uns zum Einstieg einen gedanklichen Ausflug in die Lebenswirklichkeit der Christen des ersten Jahrhunderts unternehmen, die in der Stadt Rom und im römischen Reich lebten. Wie erging es ihnen unter den Regierungen der damaligen Tage?

Bereits in der Regierungszeit von Kaiser Claudius in den Jahren 41 bis 54 nach Christus gab es auf dessen Befehl hin ein striktes Versammlungsverbot. Historische Quellen berichten, wie es vermutlich im Jahr 49 nach Christus zu dieser einschneidenden Maßnahme kam. Dort heißt es:

„Die Juden waren zu seiner Zeit in Rom wieder zu so übermäßiger Menge angewachsen, dass sie ohne Aufstand nicht wohl aus der Stadt vertrieben werden konnten; er [Kaiser Claudius, Anm.] ließ sie also bleiben, verbot ihnen aber, Synagoge nach Vorschrift ihres Gesetzes zu halten.“V

Diese Notiz des römischen Geschichtsschreibers Cassius Dio zeigt deutlich, dass es der jüdischen Bevölkerung von Seiten der höchsten Regierungsinstanz verboten wurde, sich zu versammeln. Dies betraf die christliche Bevölkerung in gleichem Maße, weil die römischen Kaiser zu dieser Zeit noch nicht zwischen Juden und Christen unterscheiden konnten.

Für die Machthaber der damaligen Tage war es ein und dieselbe Gruppe, in der es vielleicht Flügelkämpfe und unterschiedliche Ansichten gab, aber das interessierte die Herrscher in den ersten Jahrzehnten noch nicht und so adressierten sie ihr Versammlungsverbot im Endeffekt an beide Seiten, die für sie eine Einheit waren.

Von diesem Moment an sahen sich die Nachfolger Jesu immer wieder und immer öfter mit repressiven Maßnahmen von staatlichen Stellen konfrontiert, die sie daran hindern wollten, in Gemeinschaft mit anderen ihren Glauben zu leben.

Nun macht die eingangs zitierte Bibelstelle Hebräer 10,25 aber sehr deutlich, dass die Jünger dadurch in ein ganz erhebliches Spannungsfeld gerieten, nämlich in das Spannungsfeld zwischen den staatlichen Versammlungsverboten auf der einen und den göttlichen Versammlungsgeboten auf der anderen Seite. Selbst die oben zitierte Geschichtsnotiz räumt ja ein, dass die Regierenden genau das verboten, was den Gläubigen vom Gesetz ihrer Schriften her geboten war. Damit brachte man sie wissentlich in einen enormen Konflikt mit weitreichenden Folgen.

Wie gingen die Christen des ersten Jahrhunderts damit um? Sie fanden beachtliche, kreative Wege und Möglichkeiten, wie sie sich, umgeben von einer ihnen feindlichen Kultur, unbemerkt und im Verborgenen treffen konnten. Ein geheimes Erkennungszeichen, das dabei besondere Bekanntheit erlangte, war das Fischsymbol. Von der Gestaltung her äußerst schlicht, bestehend aus zwei Halbkreisen, die zusammengesetzt an die Form eines Fisches erinnern, konnte der unwissende Betrachter das Ganze für eine Kritzelei halten, die vielleicht von Kindern

stammte, wenn man sie auf dem Boden oder an Holzbalken entdeckte. Doch die Bedeutung dahinter war ein verborgenes Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes. Wenn man die Anfangsbuchstaben des griechischen Wortes für Fisch nimmt (ἰχθύς), erhält man ein Akronym für die Worte „Jesus Christus, Gottes Sohn, Retter“ (Ἰησοῦς

).

Während man von offizieller Seite diese Bedeutung nicht verstand, diente das Fischsymbol den Christen als geheimes Zeichen, das ihnen half, sich untereinander zu erkennen. Sah man es in der Nähe eines Hauses, so war es möglich, dass dort im Verborgenen und vor den Obrigkeiten versteckte christliche Versammlungen stattfanden.

In Zeiten schärferer Verfolgung wurde es zunehmend schwerer, das Versammlungsverbot der Behörden zu umgehen und so dem Versammlungsgebot Gottes zu gehorchen. Daher musste man nach und nach immer mehr auf die städtischen Außenbezirke und noch später sogar auf die unterirdischen Katakomben ausweichen. Es gibt zahlreiche archäologische Belege für derartige Treffen im römischen Untergrund in Form von Skizzen, Zeichnungen und sogar Gemälden von Szenen wie dem Abendmahl, dem Kelch des Neuen Bundes, Jesus als guter Hirte mit einem Lamm auf den Schultern und sogar von Jona und dem großen Fisch.VI

Einen Beleg für heimliche Treffen in den städtischen Außenbezirken, um vor dem Zugriff der Behörden sicher zu sein, liefern uns die Schriften des Irenäus mit einem Hinweis auf den Apostel Johannes, welcher im hohen Alter und vor seiner Verbannung ins Exil auf einem Hügel oberhalb der Stadt von Ephesus

gewohnt haben soll.VII Weil seine Wohnstätte in einer derartigen Lage schwer für die Behörden einsehbar war, konnte er dort viele verbotene Treffen mit Christen und Gemeindeleitern abhalten, die aus der gesamten Provinz Asia kamen.

Die Christen des ersten Jahrhunderts waren ständig damit beschäftigt, Wege und Möglichkeiten zu finden, das behördliche Versammlungsverbot zu unterlaufen, so wie das bis heute bei Christen in vielen Ländern und verschiedenen Kontinenten der Fall ist. Die besondere Kreativität, welche sie dabei an den Tag legten bzw. legen, ist wirklich überaus erstaunlich und bemerkenswert.

Doch Moment! Haben wir uns nicht eingangs mit einer Bibelstelle beschäftigt, die nach der Ansicht vieler Pastoren und Leiter unseres Landes aussagt, dass wir obrigkeitlichen Anordnungen unbedingt Folge zu leisten hätten, selbst dann, wenn diese gottesdienstliche Versammlungen untersagen?

Heißt es denn nicht: „Seid der Obrigkeit untertan“?

Haben die Christen des ersten Jahrhunderts diesen Vers etwa nicht gelesen? Oder haben sie ihn nicht richtig verstanden? Hat denn etwa Paulus, der sich wie die anderen Jünger seiner Zeit selbstverständlich auch über das Versammlungsverbot hinwegsetzte, um dem Versammlungsgebot Gottes zu gehorchen, seinen eigenen Brief missachtet? Und: Steht das Verhalten der Christen des ersten Jahrhunderts im Widerspruch zu den Aussagen von Römer 13,1-7?

Nein, keinesfalls!

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