Prolog
Unsere Welt hat sich in den vergangenen Jahrhunderten massiv verändert. Von den alten Kulturen Europas scheint fast nichts erhalten. Doch ist das wirklich so?
Die riesigen Wälder des europäischen Kontinents, in denen einst –glaubt man den alten Überlieferungen – Elfen, Elben, Zwerge, Kobolde und andere Geistwesen in der Natur beheimatet waren, sind weitgehend verschwunden, und die Lebensumstände der Menschen haben sich im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte drastisch verändert. Was den meisten Leuten heute nicht bewusst ist: Die alte Welt ist in gewisser Weise immer noch da, und unsere moderne Zivilisation basiert sowohl wirtschaftlich als auch wissenschaftlich auf den Fundamenten vorangegangener Kulturen (z. B. den Griechen und Römern mit ihren Gelehrten).
Besonders interessant wird es, wenn es um die Religion geht. Stellt man in unserer Zeit den Menschen auf der Straße die Frage, welche Religion in Europa die meisten Anhänger aufweist, werden sie überwiegend darauf antworten, dass es das Christentum sei. Viele Menschen wird es daher überraschen, wenn ich behaupte, dass es das reine Christentum im Prinzip nirgendwo in der Welt gibt. Was wir aus heutiger Sicht in Europa als das Christentum bezeichnen, ist im Grunde eine Mischform aus Glaubensüberzeugungen, die sich sowohl aus christlichen Traditionen als auch aus individuellen, regionalen Überlieferungen und Riten der unterschiedlichen Völker Europas entwickelt hat.
So unglaublich es auch erscheinen mag, entspricht es doch der Wahrheit, dass die heidnischen Religionen in ganz Europa niemals verschwunden sind und tatsächlich auch heute noch weiter praktiziert werden. Ich möchte sogar behaupten, dass wir Europäer noch immer untergründig den alten Gottheiten dienen, auch wenn wir uns Christen nennen; ja, es ist sogar so, dass heidnische Anbetungen bis in unser
hoch technisiertes Zeitalter hinein von den meisten christlichen Priestern jeglichen Standes praktiziert werden.
Die Prägungen durch heidnische Naturreligionen in all ihren Variationen wurden durch die ersten europäischen „Missionare“ niemals wirklich beseitigt. Im Gegenteil ging es vielen von ihnen hauptsächlich darum, den neuen Glauben so rasch wie möglich zu verbreiten. Dabei vertrauten sie weniger auf die Kraft ihrer Botschaft, als auf Arrangements mit den damaligen Priestern der „alten Welt“, um ihrem Ziel schnellstmöglich näherzukommen. Das war oft der Politik und den Gebietsansprüchen einzelner Fürsten geschuldet, und zumeist ging man dabei wider jegliche Menschlichkeit vor. Anstatt die friedliche Verkündigung des Evangeliums zu praktizieren, wurde die neue Religion den alten Völkern Europas durch Manipulation und sehr oft mit Gewalt aufgezwungen. Worum es damals wie heute vielen Verantwortlichen innerhalb der christlichen Kirchenführungen wirklich ging (auch in Verbindungen und Allianzen mit weltlichen Herrschern), war in erster Linie der Auf- und Ausbau des eigenen wirtschaftlich orientierten Machtbereichs. Dabei war jedes Mittel recht, auch in Form von Kompromissen mit den alten religiösen Strukturen und Anpassungen an die örtlichen Überlieferungen.
So blieben uns also die alten Geister aus grauer Vorzeit erhalten, und auch ich machte Bekanntschaft mit ihnen, enttäuscht von der Kraft- und Lieblosigkeit christlicher Kirchen und auf der Suche nach etwas, das mich wirklich sättigen und erfüllen würde. Dazu kam, dass meine Großmutter mütterlicherseits sehr gut mit dieser alten GeisterWelt vertraut war.
Ich war 28 Jahre in der esoterischen Szene unterwegs und hatte am Ende den Status eines Erzdruiden im keltischen Ritus. Meine Frau und ich standen kurz davor, eine Druidenschule zu gründen. So führten mich meine verschlungenen Wege durch die Urwälder alter und neuer Religionen, durch viel Nebel und Verwirrung bis hin zu meiner heutigen, doch um einiges klareren Sicht. Dies alles möchte ich in diesem Buch beschreiben.
Was auch immer du glaubst, ob du Christ bist oder ob du dich auf ganz anderen Pfaden der Erleuchtung befindest, vielleicht auch einfach noch auf der Suche nach Wahrheit, Leben, Heilung und Glück bist: Dir gilt meine Einladung, mich ein Stück auf dem Weg meines
abenteuerlichen und außergewöhnlichen Lebens zu begleiten und es mit mir gemeinsam zu betrachten. Möge es unseren Horizont erweitern. Gott will, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.1 Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Wer Füße hat zu gehen, der gehe. Wer sucht, der wird finden. Und wer gibt, dem wird gegeben, ein volles, gerütteltes und gedrücktes Maß.2 So werden wir beide von diesem Vorhaben profitieren – du und ich. Denn Gott lässt sich nicht lumpen und wird sich offenbaren, wenn wir es uns wünschen.
Im Oktober 2021
Thomas Nawroth
1 Vgl. 1. Timotheus 2,4.
2 Vgl. Lukas 6,38.
KAPITEL 1
Lichter und Irrlichter der Kindheit
Der Weg, zu dem du dich mit mir aufgemacht hast, führt zuerst durch meine Kindheit, denn bereits dort nahm alles seinen Anfang. Als ich im Jahr 1963 das Licht der Welt erblickte, war der 2. Weltkrieg erst achtzehn Jahre vorbei. Drei Jahre später kam meine Schwester zur Welt. Bereits zu dieser Zeit fühlte ich mich wie ein Fremder in dieser Familie, was noch dadurch verstärkt wurde, dass meine Schwester geliebt wurde, während ich offensichtlich für irgendetwas die „Schuld“ trug, was sich mir allerdings jahrelang nicht erschloss.
Begegnung mit meiner toten Urgroßmutter
Als ich drei war, starb meine Urgroßmutter Mit dem Tod konnte ich in diesem Alter noch nichts anfangen, sah nur die schwarze Kleidung und spürte die traurige Stimmung. Etwas abseits der Trauergesellschaft auf dem Friedhof in Recklinghausen-Süd verfolgte ich auf den Armen meines Vaters die Zeremonie; wir standen unter einem Baum, da es in Strömen regnete. Weder mir noch meinem Vater war klar, warum ich es tat, aber ich rief immerzu nach meiner Oma. Plötzlich näherte sich mir eine sehr alte Frau mit weißen Haaren, welche im Nacken zu einem Dutt zusammengefasst waren. Sie trug ein langes, schwarzes Kleid mit weißem Kragen, schwarze Strümpfe und Schnürschuhe. Direkt vor uns blieb sie stehen und strich mir lächelnd mit der Hand über die Wange. Dann löste sie sich plötzlich
in Nichts auf. Erst jetzt verstummten meine Rufe, als hätte ich auf diese Frau gewartet.
Als wir uns einige Tage später Fotos in den Familienalben ansahen, deutete ich mit meinen kleinen Fingern auf meine Urgroßmutter und machte den Erwachsenen in meiner Kindersprache klar, dass ich diese Frau auf dem Friedhof gesehen hatte, dass sie zu mir gekommen war und mich gestreichelt hatte. Das Entsetzen in den mich umgebenden Gesichtern habe ich bis heute nicht vergessen.
Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich ab, dass ich in der Lage war, noch andere Dinge als die der sichtbaren Welt wahrzunehmen. Es ist anzunehmen, dass diese „Hellsichtigkeit“ auf den übernatürlichen Aktivitäten verschiedener meiner Vorfahren beruhte und ich auf diese Weise eine Art Vorherbestimmung durch die „geistliche Welt“ trug.
Was verstehe ich unter der „geistlichen Welt“? Oft hört man jemanden sagen: Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als das, was wir sehen. Und das trifft die Sache schon recht gut. Wir gehören einerseits zu dieser sichtbaren und „materiellen“ Welt, nämlich alledem, was wir mit unseren körperlichen Sinnen wahrnehmen können. Darüber hinaus gibt es allerdings eine „unsichtbare Welt“ um uns herum.
Man kann das manchmal in Form von „Energien“ wahrnehmen. Wenn man zum Beispiel in einen Raum kommt, in dem gerade gestritten wurde, nimmt man wahr, dass „dicke Luft“ herrscht. Der Streit hängt noch in der Atmosphäre. So ähnlich befindet sich um uns herum etwas, das man als eine andere Dimension oder als „zweiten Himmel“ bezeichnen könnte (in Anlehnung an unseren blauen Himmel, unter dem wir in der sichtbaren Welt leben). In diesem zweiten Himmel bewegen sich geistliche, nicht materielle Wesenheiten, die wir auch oftmals wahrnehmen. Manchmal kommt dir irgendeine Gegend vielleicht dunkler vor, obwohl du dafür keinen sichtbaren Grund erkennen kannst. In einer anderen Region erscheint dir alles hell und leicht, und du fragst dich, woran das liegt. Um uns herum bewegen sich Wesenheiten mit ihren guten oder schlechten Abstrahlungen; ich nenne sie in diesem
und Irrlichter der Kindheit
Buch Engel und Dämonen, Geister bzw. Geistwesen oder einfach Wesenheiten.
Es gibt noch eine zweite unsichtbare Dimension, die sich „über“ diesem „Himmel der Geistwesen“ befindet und die Autorität darüber hat. Darüber will ich aber erst später eingehen.
Aufessen! – Oder wie mir die Liebe verweigert wurde
Ich war gerade einmal Fünf, als ich an Appetitlosigkeit litt, einhergehend mit zunehmender Blässe, deren Ursache meinen Eltern völlig unerklärlich war. Ich verlor immer mehr an Gewicht, was wiederholt zu Schwindelanfällen und darüber hinaus zu einer bleiernen Müdigkeit führte. Jede Mahlzeit wurde zu einer Qual für mich. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie meine Mutter mir eines Tages ein Mittagessen vorsetzte, das ich aufgrund meines Krankheitsbildes nicht herunterbekam. Was dann geschah, prägte sich tief in meine Seele ein. Nachdem ich einige Löffel zu mir genommen hatte, begann mein Magen zu rebellieren. Ich erbrach die wenigen Bisse in meinen Teller. Meine Mutter gab mir einen harten Schlag auf den Hinterkopf: „Wenn du das jetzt nicht isst, dann wirst du das Gleiche heute Abend noch einmal vorgesetzt bekommen, ob du willst oder nicht!“ Da ich es natürlich nicht essen konnte, goss sie den Teller mit dem Erbrochenen zurück in den Topf und befahl mir, im Kinderzimmer zu verschwinden. Was blieb mir anderes übrig? Ich verspürte wahnsinnige Kopfschmerzen und eine anhaltende Übelkeit, bis in den Abend hinein.
Als mein Vater abends nachhause kam, wurde mir das wieder aufgewärmte Mittagessen mitsamt dem Erbrochenen erneut vorgesetzt. Durch die Wärme des unappetitlich wirkenden Breis, der da nun vor mir stand, und den säuerlichen Geruch, der mir in die Nase stieg, musste ich mich nach nur wenigen Sekunden erneut übergeben. Nun war es mein Vater, der mir einen gefühlt noch härteren Schlag auf den Hinterkopf verabreichte. Auch ihm fiel nichts anderes ein als: „Wenn du das jetzt nicht aufisst, wirst du hungrig zu Bett gehen. Es gibt nichts anderes als das hier!“
Wie um alles in der Welt sollte ich das hinunterwürgen? Es war einfach unmenschlich! Ich wurde tatsächlich ohne Essen ins Bett gesteckt. Zitternd und völlig aufgelöst verbrachte ich die Nacht.
Am nächsten Morgen setzte mir meine Mutter den inzwischen zweimal hervorgewürgten Brei erneut vor. Sie hatte ihn tatsächlich noch einmal aufgewärmt und wartete nur darauf, dass es mir wieder nicht gelingen würde, ihn hinunterzuschlucken. Dazu muss ich nichts mehr sagen und will die Leser auch nicht zu sehr mit dieser Geschichte strapazieren. Diesmal wurde ich so hart geschlagen, dass mein Kopf beinahe auf der Tischplatte aufschlug. Hasserfüllt schleuderte mir meine Mutter entgegen: „Ich werde dir das so lange vorsetzen, bis du es gegessen hast. Auch dann, wenn es schimmelig ist!“
Inzwischen waren über 24 Stunden vergangen, in denen ich nicht einen Bissen zu essen bekommen hatte. So unglaublich es auch sein mag, verspürte ich dennoch kein Hungergefühl. Meine Schwindelanfälle nahmen jedoch mit jeder Stunde zu. Aber das interessierte meine Mutter in keiner Weise.
Am nächsten Mittag spielte sich die gleiche Szene wieder ab und ich schleppte mich danach zurück ins Kinderzimmer. Nur wenig später stand meine Mutter vor mir und begann überaus hart auf mich einzuprügeln. Dabei schrie sie hasserfüllt: „Du Teufelsbrut! Du bist nur geboren worden, um mir das Leben zur Hölle zu machen!“ Doch ich war es, der in diesem Moment die Hölle durchlebte.
Sie hörte erst mit der Prügelei auf, als ich mich zitternd und voller Panik unter dem Tisch verkroch. Schwer atmend verließ sie endlich den Raum und ließ mich bebend und weinend unter dem Tisch liegend zurück. Mein Gesicht war zugeschwollen, ich schmeckte Blut im Mund. Vorsichtig tastete ich mein Gesicht ab und spürte, dass meine Unterlippe tief eingerissen war.
Zitternd und stöhnend vor Schmerzen lag ich mehrere Stunden unter dem Tisch. Plötzlich öffnete sich die Tür und mein Vater sah ins Zimmer. Ich blickte ihn an und hoffte wenigstens von ihm auf Hilfe. Doch er schüttelte nur panisch und zugleich verständnislos seinen Kopf, schloss dann langsam und leise die Tür und ließ mich hilflos liegen. Ich spürte einen furchtbaren, stechenden Schmerz in
meinem Inneren, geradeso, als würde mein Herz zerreißen. Die Tränen flossen mir über die geschwollenen, heiß geprügelten Wangen. Einige Zeit später öffnete sich die Tür erneut und meine Mutter erschien im Zimmer. Sie befahl mir laut und herrisch, mich an den Tisch zu setzen. Mein Vater und meine Schwester saßen bereits dort. Meine Mutter war jedoch in der Küche verschwunden, um zum vierten Mal diesen Fraß zu holen. Durch das viermalige Aufwärmen war die Masse inzwischen derart reduziert, dass sie fast schwarz vor mir auf dem Teller lag. Und wieder stellte sich meine Mutter hinter mich, um mir bei Verweigerung einen Schlag verpassen zu können. Es war schließlich mein Vater, der mir den Teller wegnahm und nun endlich meiner Mutter etwas entgegensetzte: „Jetzt reicht es aber! Das kann doch kein Mensch mehr essen! Das kannst du nicht machen!“
Ich bekam nun das gleiche Essen wie der Rest der Familie. Doch weil ich seit über 36 Stunden nichts zu mir genommen hatte, bekam ich immer noch kaum etwas hinunter. Meine Eltern stritten sich wegen dieser Sache fürchterlich bis in den späten Abend hinein, und das ohne Rücksicht auf die Gegenwart von uns Kindern. Unglaublich, aber wahr, dass meine Mutter tatsächlich weiterhin der Meinung war, ich hätte mein Erbrochenes auf jeden Fall essen müssen.
Meine Mutter wurde ganz offensichtlich „von etwas geritten“, das sie in Jähzorn und Hass gebunden hielt und sie zu einer überaus unmenschlichen Handlungsweise gegenüber mir, ihrem erst fünfjährigen Kind, antrieb. Ihr Ausruf „Du Teufelsbrut, du bist nur dazu geboren, mir das Leben zur Hölle zu machen!“, deutet darauf hin, dass sie irgendeine eigene Schuld oder falsche Entscheidung auf mich projizierte. Es musste etwas in ihrer eigenen Vergangenheit gegeben haben, wodurch ihr Herz dermaßen verhärtet wurde, dass sie sich nur noch als Opfer ihrer eigenen Lebensumstände sehen konnte und sich ganz dem Zorn und Hass hingab, den sie dann auf mich entlud. Für irgendetwas gab sie mir die Schuld an diesen Umständen. Sehr viel später sollte ich es erfahren. Aber jetzt, als kleines Kind, das der Liebe und des Schutzes seiner Eltern bedurfte, verstand ich rein gar nichts und fand mich dem Schmerz vollkommen ausgeliefert, sowohl körperlich als auch
Durst
Als mein Vater eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, hörte ich ihn zu meiner Mutter sagen, dass mein Kopf eine immer schiefere Haltung annähme. Er wies daraufhin meine Mutter an, den Hausarzt erneut zu konsultieren. Dieser stellte fest, dass meine rechte Halssehne verkürzt war. Es handele sich hierbei um einen Geburtsfehler, der operativ behoben werden müsse. Kurz darauf begab sich meine Mutter mit mir in ein Krankenhaus, in dem die rechte Sehne unter Narkose gestreckt wurde. Da die Operation ambulant durchgeführt wurde, konnte ich noch am gleichen Tag nach Hause entlassen werden. Der Taxifahrer half meiner Mutter, mich in mein Kinderzimmer zu bringen, wo mich meine Mutter letztendlich ins Bett brachte
Stunden waren vergangen, als ich zum ersten Mal erwachte. Noch immer verspürte ich die Nebenwirkungen der Narkose. Ein Durstgefühl breitete sich in mir aus, und ich rief nach meiner Mutter. Als ich meinen Hals zu ertasten versuchte, bemerkte ich, dass man mir einen großen und schweren Gipsverband umgelegt hatte, der meinen Kopf so gut wie möglich in der neuen Haltung fixieren sollte.
Kurze Zeit später erschien meine Mutter mit einem Glas Wasser an meinem Bett und erwartete, dass ich mich eigenständig aufsetzte. Das gelang mir jedoch aufgrund der unsäglichen Schmerzen nicht. Auch war ich noch immer sehr geschwächt. Darüber hinaus wirkte die massige Gipsmanschette wie ein bleiernes Gewicht, das mich immer wieder ins Bett zurückdrückte. Es gelang mir einfach nicht, mich alleine aufzurichten. Hilfesuchend sah ich meine Mutter an. Doch sie wirkte vollkommen versteinert und abgrundtief verbittert. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen meinte sie nur kaltherzig: „Nun, wenn du dich nicht selbst im Bett aufsetzen kannst, bekommst du auch nichts zu trinken und zu essen!“ Mit dem Glas Wasser in der Hand verließ sie das Kinderzimmer. Ich lag in meinem Bett und hatte schrecklichen Durst und Hunger. Irgendwann schwanden mir die Sinne und ich fiel in einen tiefen Schlaf.
Es war das Läuten der Türglocke, das mich erneut aus dem Schlaf riss. Mein Vater war um 17 Uhr von seiner Arbeit nach Hause gekehrt Als er ins Kinderzimmer trat, um sich nach meinem Befinden
zu erkundigen, bat ich ihn um einen Schluck Wasser und etwas zu essen. Es war wiederum mein Vater, der mir schließlich zu Hilfe kam. Obwohl das Trinken nach einer Narkose äußerst wichtig ist, hatte meine Mutter es mir über mehrere Stunden hinweg verweigert und mir auch nichts zu essen gebracht. Ich hatte so starken Durst, dass mein Vater mir ein weiteres großes Glas Wasser bringen musste. Endlich, nach über acht Stunden des unsäglichen Wartens auf einen Schluck Wasser und ein wenig Nahrung, konnte ich mich wieder zurücklegen und weiterschlafen.
Auch am nächsten Tag bekam ich nichts zu trinken und zu essen und musste den ganzen Tag ohne einen Schluck Wasser und ohne Nahrung im Bett zubringen, denn ich konnte mich immer noch nicht alleine aufrichten. Was blieb mir anderes übrig, als zu schlafen? Solange ich schlief, bemerkte ich den Schmerz nicht und fühlte keinen Durst und Hunger. Ich musste erneut warten, bis mein Vater von der Arbeit nach Hause kam und mir nach über neun Stunden, endlich etwas zu trinken und zu essen gab.
Leider war eine weitere Operation notwendig, nach der sich meine Mutter seltsamerweise kurze Zeit anders verhielt und mir beim Essen und Trinken half. Allerdings war das nicht von Dauer und sie verfiel bald wieder in ihr altes Muster von abgrundtiefem Hass und Jähzorn.
Als ich später zum Einschulungstest musste, wurde es für meine Mutter peinlich. Zwar staunte der verantwortliche Schularzt nicht schlecht, dass ich in der Lage war, komplizierte Wörter zu verstehen und manche Rechenaufgaben gut lösen zu können. Dennoch wurde ich für ein weiteres Jahr vom Unterricht zurückgestellt, da mein Gesundheitszustand als mehr als bedenklich beurteilt wurde. Nach Meinung des Arztes sei ich körperlich nicht in der Lage, den Anforderungen des Schulalltags standzuhalten. Ich blickte meiner Mutter ins Gesicht. Sie verstand nur allzu gut, was mein Blick bedeutete und wirkte mehr als verlegen. Trotzdem änderte sich nichts.
Alle diese Geschichten aus meiner Kindheit zeigen, wie sehr ich mich nach Liebe, Annahme, Geborgenheit und Fürsorge sehnte, was für jedes Kind selbstverständlich ist. Die Kapitel über Hunger, Lebensarmut und Durst stehen sinnbildlich auch dafür, wie sich meine Seele entwickelte und wodurch ich
und Irrlichter
ein so stark Suchender wurde. So mag jede Leserin und jeder Leser eine eigene Geschichte haben, die zu Lebensdurst und Lebenshunger führte, und jede bzw. jeder hat versucht, dies auf die eigene Weise zu stillen. Für uns alle bleibt die Frage, worin und wodurch man wirklich lebenssatt werden kann.
Ein Fremder in der eigenen Familie
Es gab natürlich auch Lichtblicke in meiner Kindheit. So hatten wir im Gegensatz zu allen anderen Familien in unserer Wohnsiedlung bereits im Jahre 1969 einen Schwarz-Weiß-Fernseher. Mein Vater arbeitete als Mess- und Regeltechniker und kannte Max Grundig persönlich. Von ihm hatte er diesen Fernseher geschenkt bekommen. Zusammen mit meinen Eltern sah ich nun jeden Abend die Nachrichten und andere Sendungen an Plötzlich wurde davon berichtet, dass Menschen zum ersten Mal mit einer Rakete zum Mond fliegen sollten. Ich war begeistert von dieser Nachricht und bat meine Eltern darum, dieses Ereignis mit ansehen zu dürfen. Sie erlaubten es, wenn auch widerwillig, da ich ihnen so sehr in den Ohren lag. So kam es, dass ich mitten in der Nacht geweckt wurde und zusammen mit meinen Eltern am 16. Juli des Jahres 1969 den Start der Saturn-V-Rakete miterleben konnte. Nur wenige Tage später, am 21. Juli um 3 Uhr 56 durfte ich dann erneut aufstehen, um den ersten Menschen auf dem Mond umhergehen zu sehen.
Bereits zu diesem Zeitpunkt, mit gerade einmal sechs Jahren, war mir schon bewusst, dass sich die Welt um mich herum vollkommen verändern würde. Ich hatte besonders an diesen beiden Tagen, als ich die Bilder der ersten Mondlandung miterleben konnte, das Empfinden, als wäre ich in die falsche Welt hinein geboren worden. Gehörte ich überhaupt auf diesen Planeten? Zu dieser Familie schien ich auf jeden Fall nicht zu gehören! Ich zog mich innerlich immer mehr zurück. Bloß nicht auffallen, war die Devise, nach der ich zu (über)leben versuchte.
Weihe
Ein wirklicher Lichtblick jedes Jahres war der Sommer, denn dann machten sich meine Eltern mit uns Kindern auf den Weg in den Urlaub nach Oberfranken zur Familie meiner Mutter. Für mich war es die Zeit, in der ich der Enge und Tristesse des damaligen Ruhrgebiets wenigstens für ein paar Wochen entfliehen konnte. Ich freute mich auf das Wiedersehen mit all meinen Verwandten, da sie vollkommen anders mit mir umgingen, als meine eigenen Eltern das taten.
Auch 1969 machten sich meine Eltern zusammen mit meiner dreijährigen Schwester und mir auf die Reise zu dem kleinen Marktflecken Küps. Das heutige Autobahnnetz existierte damals noch nicht, weswegen wir acht Stunden unterwegs waren. Trotz der langen Fahrt fühlte ich mich wie im Paradies Ein Grund dafür war, dass meine Mutter sich während dieser wenigen Wochen des Jahres völlig anders verhielt. Sie wirkte freundlicher, gelöster und weniger gereizt als sonst.
Jedes Mal, wenn wir bei meiner Patentante in Küps ankamen, bei der wir in den Ferien wohnten, tauchte ich in eine absolut andere Welt ein. Für die kommenden drei Wochen konnte ich mich frei bewegen und fühlte mich von Menschen umsorgt, die mich wirklich liebten. Darüber hinaus war ich von einer Landschaft umgeben, wie sie schöner nicht sein konnte. Ich blühte während dieser kurzen Zeit richtig auf. Die Geräusche der Natur und die Stille an den Abenden waren ein wirklicher Genuss für mich. Was für eine Wohltat, nicht die schrillende Straßenbahn hören zu müssen! In dieser Welt war ich umgeben von Wäldern, zuhause dagegen von eng aneinander gebauten, hohen Häusern. Während ich den Rest des Jahres dem unerträglichen Gestank des Verkehrsstroms ausgesetzt war, befand ich mich hier inmitten von riesigen Kornfeldern und ausgedehnten Wiesenlandschaften mit Tausenden von bunten Blumen. An einem dieser wunderschönen Tage war unsere ganze Familie in der Wohnküche meiner Patentante versammelt. Plötzlich kniete sich meine Großmutter nieder und bat mich, zu ihr zu kommen. Als ich vor ihr stand, legte sie mir ihre rechte Hand auf den Kopf, die linke Hand hatte sie auf den Fußboden gestützt. Ich war völlig verwirrt und wusste nicht, wie mir geschah. Plötzlich begann sie in einer mir unbekannten Sprache etwas vor sich hinzumurmeln, das ich
nicht verstehen konnte. Nach ungefähr fünfzehn Minuten war der Spuk schließlich vorbei.
Als sich meine Großmutter wieder erhoben hatte, drehte ich mich um und sah die ganze Familie hinter mir stehen (Patentante, Großvater, Vater und meine Schwester auf dem Arm meiner Mutter). Ich wusste nicht, was da soeben vor sich gegangen war, doch intuitiv verstand ich, dass es etwas Außergewöhnliches gewesen sein musste. Meine Patentante gab schließlich die Antwort auf meine ungestellte Frage:
„Weißt du, was du da gerade erhalten hast? Es ist die Hexenweihe. Das ist etwas ganz Besonderes. Das bekommt nicht jeder. Du wirst merken, dass du schon bald viele Dinge wissen, sehen und hören wirst, die anderen Menschen verborgen bleiben. Du hast ein ganz besonderes Geschenk von deiner Großmutter erhalten!“
Ich stand noch immer wie versteinert da und konnte mit den Worten meiner Patentante gar nichts anfangen. Mein Blick fiel in diesem Moment auf das Gesicht meiner Mutter, in dem sich maßlose Enttäuschung spiegelte, als sie sagte: „Warum hat er das bekommen, warum nicht ich?“ Dann wendete sie sich vollkommen frustriert ab. Bereits drei Tage später nahm ich intensiv wahr, dass sich in meinem Inneren etwas drastisch zu verändern schien. Mit jedem neuen Tag spürte ich es nun mehr, sodass es mir schon unheimlich wurde. Bald konnte ich mich den Personen um mich herum kaum noch mitteilen.
Meine Großmutter, die selbst als „Hexe“ geweiht war, übersprang bei der Weitergabe ihrer übernatürlichen Fähigkeiten eine Generation und übertrug sie auf mich. Möglicherweise hatte sie aus dem unsichtbaren Geistraum dazu Anweisung erhalten oder die „Berufung“ auf mir „gesehen“. Schließlich hatte sie miterlebt, dass mir als Dreijährigem meine Urgroßmutter nach ihrem Tod begegnet war. Vielleicht hielt sie aber auch meine auf sich selbst bezogene Mutter nicht für würdig, die Weihe zu empfangen.
Es war das letzte Mal, dass ich meine Großmutter physisch sah. Sie starb ein Jahr später. Vielleicht auch, weil sie das geahnt hatte, hielt sie den Zeitpunkt für gekommen, ihre Weihe weiterzugeben, um sie zu bewahren.
Hexen, Druiden, Schamanen und andere Menschen, die sich der Geistwelt bewusst sind, „bewegen“ sich im Geist in diesem unsichtbaren Raum um uns herum. Sie haben eine Fähigkeit und üben sich darin, die Geistwesen dieser anderen Welt wahrzunehmen und ihnen zu begegnen. Sie empfangen „Informationen“ aus diesem Bereich und bekommen häufig auch Handlungsanweisungen. Es ist ihnen bis zu einem gewissen Grad möglich, aus dieser unsichtbaren Dimension heraus zu handeln. Allerdings ist das noch nicht „das Ende der Fahnenstange“. Es gibt eine Autoritätsebene über dieser Geistwelt. Wenn man diese kennt, muss man nichts anderes mehr fürchten. Doch davon später.
Abschied von der Großmutter
Zuhause vergingen mehrere Tage, bis ich mich wieder an das triste Leben in unserer Stadt Herne mit ihren vielen Fabriken, Zechen und schäbigen, völlig verdreckten Hinterhöfen gewöhnt hatte. Was mein Leben besonders erschwerte, war auch der ewige Streit meiner Mutter mit ihrer Schwiegermutter. (Meine Großeltern väterlicherseits lebten eine Etage höher im selben Reihenhaus.) Es gab keinen Tag, an dem sie sich nicht lauthals stritten, was den Hass meiner Mutter immer mehr schürte. Am Ende eines jeglichen Streits, ließ sie ihre Wut und Frustration und auch ihren Egoismus grenzenlos an mir aus. Schon der kleinste „Fehler“ meinerseits war Anlass für sie, ihn mir mit unbarmherzigen, absolut brutalen Schlägen „auszutreiben“. In einer Novembernacht des Jahres 1969 bemerkte ich mit einem Mal eine „Präsenz“ neben meinem Bett. Ich öffnete meine Augen und sah in das Gesicht meiner Großmutter mütterlicherseits, die doch Hunderte von Kilometern entfernt in der Wohnung meiner Patentante in Oberfranken wohnte und von der ich erst vor ein paar Monaten die Hexenweihe erhalten hatte. Wie konnte das sein, dass sie plötzlich hier neben meinem Bett stand? Mit ihrer Hand streichelte sie mir über die Wange. Obwohl es stockdunkel im Zimmer war, konnte ich ihr Gesicht sehen, das von einem weißen Kopftuch mit großen schwarzen Punkten umrahmt war. Ich erkannte auch ihr dunkelblaues Kleid mit den kleinen, weißen Punkten. Plötzlich