Vienna nahm ihre Handtasche, stieg aus und verriegelte per Fernbedienung ihren Wagen. Das war in Hope Harbor wahrscheinlich gar nicht nötig, aber nachdem sie zehn Jahre in Denver gewohnt hatte, war sie das einfach so gewohnt.
»Vienna! Willkommen in Hope Harbor!«
Bei der begeisterten Begrüßung drehte sie sich zu dem Buchladen herum, dessen Tür schwungvoll aufgerissen wurde, und ging auf die Frau zu, die auf den Gehsteig trat.
Mit ihrem leuchtenden, bunt gemusterten weiten Kleid, das besser nach Hawaii passte als in eine kleine Küstenstadt in Oregon, und dem lila Streifen in ihren langen, gewellten Locken verkörperte Mama nach wie vor ihren typischen Vintagestil. Die silbernen Strähnen in ihrem Haar waren seit ihrer letzten Begegnung auf der Feier anlässlich von Mamas Pensionierung vor zwei Jahren in Eugene zwar deutlich mehr geworden, aber ihre Miene strahlte eine überschwängliche Freude aus. Ihr neues Leben tat ihr sichtlich gut.
Obwohl sich Vienna stark bemühte, solche Gefühle nicht zuzulassen, regte sich angesichts dieser Ironie des Schicksals ein gewisser Neid in ihr. Die Frau, die nie das Ziel gehabt hatte, die Karriereleiter zu erklimmen, die ihren Beruf von 8 bis 17 Uhr mit Leidenschaft ausgeübt, aber danach ihre Freizeit in vollen Zügen genossen hatte, deren Lebensphilosophie es war, von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck zu leben und das zu tun, was ihr Spaß machte, war nach drei Jahrzehnten im öffentlichen Dienst in den Ruhestand gegangen und hatte ihren Traum, einen eigenen Buchladen zu eröffnen, verwirklicht, während ihre Tochter, die ihrem Arbeitgeber immer alles hatte recht machen wollen und rund um die Uhr für den Job gelebt hatte, eiskalt vor die Tür gesetzt worden war. Das Leben war manchmal wirklich unfair!
Vienna verdrängte diese niederdrückenden Gedanken und ging um das Auto herum.
Ihre Mutter kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen und zog sie herzlich an ihre Brust.
Der vertraute Duft nach Jasmin hüllte sie ein und weckte Erinnerungen an die Gutenachtküsse, die ihre Mutter ihr jeden Abend gegeben hatte, wenn sie sie ins Bett gebracht und geflüstert hatte: »Träum was Schönes, liebes Mädchen. Und vergiss nie, wie sehr Mama dich liebt.«
Viennas Kehle war wie zugeschnürt. Wie traurig, dass ihre gegensätzlichen Persönlichkeiten immer wie eine Mauer zwischen ihnen gestanden hatten, obwohl sie sich von ganzem Herzen liebten.
»Hi, Mama.« Sie bemühte sich um einen lockeren Tonfall, während sie ihre Mutter ebenfalls umarmte und den Kopf ein wenig von den lila Haaren abwandte, die sie in der Nase kitzelten.
»Deine verlorene Tochter ist zurückgekommen.«
»Verlorene Tochter.« Mit einem Schnauben ließ Mama sie los und tat Viennas Worte mit einer lässigen Handbewegung ab. »Diese Bezeichnung impliziert, dass jemand das Geld zum Fenster hinauswirft, rücksichtslos ist und völlig unüberlegt handelt. Das alles ist dir absolut fern.«
Das stimmte. Vienna schulg eher nach ihren Großeltern mütterlicherseits, vielleicht auch nach ihrem Vater. Allerdings hatte Mama ihr nie so viel über ihn erzählt. Jedenfalls hatte sie von ihrer Mutter nicht so viel geerbt.
»Trotzdem ist es lange her, seit ich dich das letzte Mal besucht habe.«
»Das finde ich auch. Viel zu lange. Aber ich weiß, dass du beruflich sehr eingespannt bist. Komm erst einmal an. Später will ich alles über deine neuesten Abenteuer erfahren.«
Irgendwie gelang es Vienna, sie weiterhin anzulächeln. Rückblickend wäre es vielleicht besser gewesen, Mama schon am Telefon von ihrer beruflichen Katastrophe zu erzählen. Doch sobald sie gesagt hatte, dass sie Mama in Hope Harbor besuchen wollte, war es schwer gewesen, noch etwas anderes zu sagen oder die Begeisterung ihrer Mutter zu dämpfen.
Es war auch nicht dringend nötig, es ihr jetzt sofort zu erzählen. Sie wollte lieber erst einmal Luft holen, nachdem sie am
frühen Morgen ins Flugzeug gestiegen war und dann die letzte Strecke von North Bend nach Hope Harbor mit dem Auto zurückgelegt hatte.
»Ich verspreche, dir alles zu erzählen, aber zuerst will ich deinen Laden sehen.«
Mama ließ ihren Blick befriedigt über die Fassade von Bevs Bücheroase wandern. »Ich bin so stolz auf meinen Laden. Und froh, dass ich ihn habe.« Mit einem strahlenden Gesicht machte sie die Tür auf und setzte dabei ein schön klingendes Windspiel in Gang. Vienna wusste, dass ihre Mutter dazu neigte, jeden Winkel mit Farbe, Kunstwerken und Gegenständen zu überladen, die sie bei ihren Auslandsreisen oder auf diversen Flohmärkten gesammelt hatte. Auch Dinge aus der Natur wie Federn, Muscheln, glänzende Steine und leere Vogelnester stellte sie gern zur Schau. Daher wappnete sie sich schon einmal innerlich gegen einen brutalen Angriff auf ihre Sinne.
Nach wenigen Schritten blieb sie abrupt stehen.
Auf der Website des Ladens war nur das Gebäude zu sehen gewesen und die Fotos, die ihr Mama gemailt hatte, als sie alles für die Eröffnung vor sechs Monaten vorbereitet hatte, waren Nahaufnahmen von Bücherregalen und der Inneneinrichtung gewesen, aber dadurch war es nicht möglich gewesen, sich einen Gesamteindruck zu verschaffen.
Auf den Bildern war nicht zu erkennen gewesen, dass dieser Buchladen wirklich eine einladende Oase war.
Ja, es gab eklektische Elemente, die dem Raum eine eigene Note verliehen. Ein Rattan-Schaukelstuhl in einer Ecke mit bequemen Kissen. Ein filigraner Makramee-Wandbehang. Getöpferte Lampen. Einige wellenförmige Treibholzstücke in den Bücherregalen. Ein gemusterter Sisalteppich auf dem polierten Hartholzboden. Zwei gewebte Körbe, die mit Glaskugeln gefüllt waren. Eine Holztruhe mit einem flachen Intarsiendeckel und einem marokkanischen Motiv, daneben zwei Rattansessel mit Kissen.
Viele dieser Gegenstände hatten früher in ihrer Wohnung ge-
standen und waren in dem allgemeinen Chaos untergegangen, da Mama ihre Schätze auf viel zu engem Raum gehortet hatte.
Aber hier setzten sie die richtigen Akzente und betonten die ruhige, friedliche, einladende Atmosphäre.
»Du bist sprachlos.« Mama nahm sie am Arm und zog sie mit funkelnden Augen weiter in den Raum hinein.
»Ähm … Es sieht ganz anders aus, als ich erwartet habe.«
»Das beweist wieder einmal, dass man ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen sollte.« Augenzwinkernd strich sich Mama übers Kleid.
Das mochte zwar grundsätzlich stimmen, aber in der Vergangenheit hatte dieses Sprichwort auf Mama nicht zugetroffen. Bei Bev Price bekam man normalerweise das, was man von außen sah. Offenbar traf das Sprichwort aber jetzt zu. Das Orchideen- und Farnmuster ihres weiten Kleides bildete einen starken Kontrast zu der friedlichen, beruhigenden, mit Büchern gefüllten Oase, die sie in ihrem Laden geschaffen hatte. »Ich habe einfach gedacht, du hättest mehr … Der Laden wäre …« Vienna brach ab.
»…vollgestopft mit allem Möglichen, wie unsere Wohnung in Eugene?« Mama tätschelte ihr verständnisvoll den Arm. »Das ist vorbei. Es ist so, wie es auf dem Schild im Fenster steht: Als ich hierherzog, habe ich ein neues Kapitel aufgeschlagen. Ich habe im wörtlichen und im übertragenen Sinn Inventur in meinem Leben gemacht und viele Dinge losgelassen, die ich viel zu lange festgehalten hatte.«
Damit hätte Vienna nie gerechnet. Und es war auch ein bisschen beunruhigend. Welche anderen überraschenden Veränderungen erwarteten sie noch?
Diese Frage wirbelte die bereits aufgewühlten Gewässer ihrer Welt noch mehr durcheinander. Und das nach nur wenigen Minuten. Sie hatte sich von dem Besuch bei ihrer Mutter Trost versprochen und erwartet, alles wäre vorhersehbar.
Das Windspiel erklang erneut und ein Mann und eine Frau mittleren Alters betraten den Laden.
»Willkommen in Bevs Bücheroase.« Ihre Mutter hob zur Begrüßung die Hand. »Ich bin gleich bei Ihnen.«
»Das hat keine Eile. Im Urlaub hat man Zeit, ein wenig mit seiner Liebsten zu stöbern.« Der Mann schob den Arm um die Frau an seiner Seite. »Besonders am Hochzeitstag.«
»Herzlichen Glückwunsch. Wenn Sie wollen, können Sie sich auch den Schmuck neben der Kasse ansehen. Ich habe jedes Stück selbst angefertigt. Vielleicht finden Sie dort ein Souvenir, das Sie später an diese Reise erinnert.«
»Sehr gerne. Danke.«
Während das Paar zur Schmuckvitrine schlenderte, nahm Mama Vienna am Arm und zog sie ins Hinterzimmer.
Vienna folgte ihr widerstandslos, während sie die Nachricht verdaute, dass ihre Mutter ein neues Handwerk begonnen hatte. »Ich habe den Schmuck auf einem der Fotos, die du mir geschickt hast, gesehen, wusste aber nicht, dass du ihn selbst angefertigt hast.«
»Ich habe vor ungefähr sechs Jahren einen Kurs belegt. Weißt du noch?«
Jetzt, da Mama den Kurs erwähnte, erinnerte sie sich vage. Ihre Mutter hatte alle möglichen Kurse belegt. Aber im Allgemeinen hielt ihr Interesse nicht lange an.
»Ja. Mir war jedoch nicht bewusst, dass du dich immer noch dafür interessierst.«
»Damit hatte ich selbst auch nicht gerechnet, aber ich habe mich in diesen kreativen Prozess verliebt. Es begann als Hobby, aber als Leute meinen Schmuck kaufen wollten, beschloss ich, ein Onlinegeschäft einzurichten.«
»Warum hast du das nie erwähnt?«
Mama zuckte die Achseln. »Das waren lange nur Peanuts. Aber dann haben mehrere Schmuckgeschäfte in Eugene meine Arbeiten gekauft. Wer hätte gedacht, dass sich aus einem Hobby ein profitables Geschäft entwickeln könnte?«
Noch eine Überraschung.
Mama betrat durch eine Schwingtür einen Raum, der als Lager und Büro diente, und blieb an einem Schreibtisch stehen, wo sie in ihrer Handtasche kramte. »Ich gebe dir einen Wohnungsschlüssel, damit du schon einmal auspacken kannst. Nimm dir aus dem Kühlschrank, was du möchtest. Ich habe vor, den Laden heute früher zu schließen und dich zum Abendessen einzuladen. Die Spinatquiche im Myrtle schmeckt köstlich.«
»Was hältst du davon, wenn wir es andersherum machen und ich dich zum Essen einlade?« Wenn ihre Mutter nicht auch ihre Philosophie in Bezug auf ihre Finanzen geändert hatte, hatte sie nicht viel Geld auf dem Konto. Im Price-Haushalt war Geld immer knapp gewesen. Und als ihre Tochter flügge geworden war, hatte Mama ihr schwer verdientes Geld meist für Theaterkarten, Reisen, Yogakurse und wer weiß was sonst noch alles ausgegeben. Warum sollte man auch Geld für eine eigene Wohnung sparen?
»Nein. Das erste Essen geht auf mich. Aber du darfst mich gern einmal zu Charleys Tacos einladen, solange du hier bist.«
Als Vienna von Charley hörte, freute sie sich. »Er betreibt seinen Stand also immer noch?«
»Natürlich. Dieser Mann ist eine Institution in der Stadt. Ohne ihn würde Hope Harbor etwas fehlen. Allerdings ist er im Moment in Mexiko.« Mama zog einen Schlüssel aus der Tasche und reichte ihn ihr. »Meine Wohnung ist leicht zu finden. Fahr einfach auf der Umgehungsstraße in Richtung Norden und bieg in die Seesternstraße nach links ab. Der Seeblick-Apartmentkomplex ist dann auf der rechten Seite. Da draußen gibt es nicht viel anderes.«
»Um wie viel Uhr willst du zu Hause sein?« Vienna steckte den Schlüssel ein.
»Sobald die Lieferung mit den Büchern da ist, die meine Kunden bestellt haben.«
»Meinetwegen brauchst du den Laden nicht früher zu schließen.«
»Doch. Wir sehen uns so selten, deshalb will ich deinen Besuch
voll auskosten.« Diese Bemerkung war völlig sachlich, ohne versteckte Vorwürfe, aber trotzdem bekam Vienna Schuldgefühle.
»Sind deine Kunden nicht enttäuscht, wenn sie kommen und der Laden geschlossen ist?«
»Nein. In Hope Harbor geht es bedächtig und gemütlich zu. Die Leute hier nehmen das Leben, wie es kommt. Ist es da ein Wunder, dass ich diese Stadt liebe?« Sie nahm Vienna erneut in die Arme. »Es ist so schön, dich zu sehen. Ich mag unsere Gespräche am Telefon und wenn wir zoomen, aber es ist doch etwas ganz anderes, wenn ich dich in den Arm nehmen kann.«
Während Vienna den Jasminduft einatmete und die Umarmung erwiderte, genoss sie die Liebe ihrer Mutter und saugte sie tief in ihrer Seele auf.
Es war eine gute Entscheidung gewesen, Denver für eine Weile den Rücken zu kehren. Auch wenn Mama und sie in vielem anderer Meinung waren, konnte sie sich auf ihre Mutter und ihre Liebe zu ihr immer verlassen. Im Gegensatz zu der Zukunft, die sie so sorgfältig geplant hatte.
Als Vienna den Laden verließ, blieb sie neben ihrem Mietwagen stehen und las noch einmal das Schild im Schaufenster. Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen! Diesen Spruch wollte sie während ihres Aufenthalts in Hope Harbor beherzigen. Vielleicht würde sie ja hier, in dieser beschaulichen Kleinstadt am Meer, einen neuen Weg für ihr Leben finden, nachdem eine unerwartete Wende sie völlig aus der Bahn geworfen hatte.