Kapitel 2
Emilies Pinsel glitt über das raue Zeichenpapier. Die verschiedenen Farben vereinten sich in bunten Wirbeln miteinander. Sie hielt ihre Malerei in die Sonne und schaute ihr beim Trocknen zu. Dann tauchte sie den Pinsel in das Zinnoberrot und beobachtete das Tagpfauenauge, das sich auf der Mauer neben ihr niedergelassen hatte. Im nächsten Moment flatterte es zu einem nahe gelegenen Lavendelbusch, doch Emilie hatte sich die bunten Muster seiner Flügel bereits eingeprägt. Dennoch wagte sie kaum zu atmen, während sie seine Pracht auf Papier festhielt.
Was für ein Glück, dass sie im Oktober noch einen Schmetterling gefunden hatte. Abgesehen von ihm war der Garten von Gut Eichenstedt zu dieser Jahreszeit ein trostloser Anblick, der nichts mehr bot, was es wert wäre, gemalt zu werden.
Sie saß auf einer der Bänke, deren weiße Farbe schon bessere Tage gesehen hatte, umgeben von Rosen- und Fliederbüschen, die noch nicht von den verblühten Resten befreit worden waren. Der einst hübsch angelegte Garten war nur noch ein Schatten seiner selbst. Auf den Kieswegen spross das Unkraut und die Buchsbäume waren den ganzen Sommer über nicht zurückgeschnitten worden. Die kugelrunde Form war nur noch zu erahnen. Wenn ihr Bruder aus Lüneburg zurück war, musste sie mit ihm unbedingt über den Zustand des Gartens sprechen. Vielleicht war es an der Zeit für einen neuen Gärtner. Eigentlich müsste sich Ferdinand als Gutsherr selbst darum kümmern, nicht sie!
Emilie ließ Papier und Pinsel sinken. Wo blieben sie nur? Ihr Geschäftstermin schien länger gedauert zu haben als gedacht. Ihre Mutter hatte vorgehabt, am späten Abend zurück zu sein.
Nun war es bereits kurz vor elf am nächsten Morgen. Anscheinend war es so spät geworden, dass sie und Ferdinand sich ein Hotelzimmer genommen hatten, anstatt die Rückreise anzutreten. Dabei musste Emilie Mutter doch dringend vom gestrigen Abend berichten – natürlich in zensierter Form. Wann würde sie Leopold wiedersehen? Erst an ihrem Geburtstag? Oder würde er sie vorher noch einmal besuchen?
»Fräulein von Eichenstedt?«
Flatternd erhob sich der Schmetterling von dem Lavendelbusch und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Hilde Böttcher, ihre Haushälterin, stand auf der Terrasse des Gutshauses und bedeutete Emilie, ins Haus zu kommen. Waren Mutter und Ferdinand also endlich zurückgekehrt? Sie packte ihre Malsachen zusammen und ging zum Haus zurück.
Das Gutshaus ragte mit seinen drei Geschossen und dem kleinen Türmchen auf dem roten Walmdach hoch über ihr auf. Sie konnte sich noch an die Zeit erinnern, als Gut Eichenstedt eins der schönsten Häuser der Umgebung gewesen war. Als seine weiße Fassade mit dem hellblauen Fachwerk geradezu gestrahlt hatte. Nun rankte der Wein wild an den Wänden empor und verdeckte sogar teilweise die weißen Sprossenfenster. Dazwischen blitzten grauer Putz und abblätternde Farbe hervor. Immerhin verliehen die Weinblätter dem Haus nun ein herbstliches Rot.
Es schmerzte sie, wie sehr Ferdinand alles verkommen ließ. Sie sollte wirklich ein ernstes Wort mit ihm sprechen. Auch wenn sich das für sie als jüngere Schwester vielleicht nicht geziemte. Aber so konnte es einfach nicht weitergehen!
Emilie stieg die Stufen zur Terrasse hinauf, doch als sie oben angekommen war und Frau Böttchers sorgenvolle Miene sah, stockten ihre Schritte.
»Frau Böttcher, was haben Sie denn?«
»Ich weiß es nicht. Der Dorfarzt ist hier und möchte Sie sprechen.«
»Der Arzt? Ich habe ihn nicht rufen lassen. Haben Sie etwas von meiner Mutter und meinem Bruder gehört?«
»Nein, gnädiges Fräulein. Es kam keine Nachricht.«
Stirnrunzelnd betrat Emilie den Salon, in dem der Arzt bereits wartete.
Bei ihrem Eintreten erhob sich Dr. Neumann. Sein Haupthaar war bereits ergraut, doch sein stattlicher Backenbart noch vollkommen schwarz. Hinter einer Nickelbrille blickten sie gutmütige Augen an.
»Fräulein von Eichenstedt, gut, dass ich Sie antreffe. Ich war mir nicht sicher, wie schnell der Wachtmeister Ihnen die Nachricht überbringen würde, deshalb wollte ich es Ihnen persönlich mitteilen, bevor Sie es noch durch den Dorftratsch hören.«
»Wovon sprechen Sie bitte?« Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit und ließ ihre Stimme beben.
»Es wäre mir lieber, wenn Sie sich setzen.«
Emilie strich ihr königsblaues Tageskleid glatt, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen. War Mutter vielleicht krank? Mit weichen Knien ließ sie sich auf ein Kanapee gegenüber dem Doktor sinken. Sie griff nach dem Glöckchen, um das Dienstmädchen zu rufen, aber der Arzt legte ihr väterlich die Hand auf den Arm. »Ich brauche wirklich keinen Tee. Dieser Besuch ist nicht zum Vergnügen.«
Er räusperte sich und blickte ihr dann fest in die Augen. »Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich Herrn von Eichenstedt und Adelheid von Eichenstedt tot aufgefunden habe. Ihr Bruder und Ihre Mutter sind verstorben.«
Kalte Meeresfluten schlugen über Emilie zusammen, umschlossen ihr Herz und nahmen ihr die Luft zum Atmen. Die eisigen Wasser rauschten in ihren Ohren und überspülten schließlich auch ihr Gesicht, die Welt um sie herum wurde dunkel.
Als Emilie die Augen wieder öffnete, blickte sie zu ihrem Betthimmel hoch. Die Vorhänge waren geöffnet und Tageslicht strömte in ihr Zimmer. Im Garten rief eine Krähe. Vollständig bekleidet lag sie auf dem Bett. Was war geschehen?
Stück für Stück kam die Erinnerung zurück. Frau Böttcher, die sie ins Haus gerufen hatte. Der Arzt im Salon. Was er gesagt hatte. Doch das konnte nicht wahr sein. Es durfte nicht wahr sein! Nur warum schlief sie mitten am Tage?
Sie drehte ihren Kopf zur Seite und erblickte Frau Böttcher, die neben ihrem Bett saß. Wie oft hatte sie so neben Emilie gesessen, als sie noch ihr Kindermädchen gewesen war und gewartet hatte, bis sie einschlief? Doch damals hatte ihr mütterliches Gesicht nicht so traurig ausgesehen.
Mit einem Ruck setzte Emilie sich auf. »Es war nur ein Traum, nicht wahr? Bitte sagen Sie mir, dass es nur ein Traum war!«
Frau Böttcher schüttelte den Kopf und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Die Erkenntnis legte sich wie ein Schatten über Emilie. Mutter und Ferdinand waren tot. Nun war nur noch sie übrig. Sie ganz allein. Das letzte Familienmitglied, das außer ihr noch am Leben war, hatte sie schon damals alleingelassen, nachdem vor acht Jahren ihr Leben schon einmal aus den Angeln gehoben worden war. Sie hatte die Welt nicht mehr verstanden, als ihr Vater bei einem Jagdunglück ums Leben gekommen war. Und sie hatte Gott nicht mehr verstanden. Tausend Fragen hatte sie gehabt, die ihr niemand beantworten konnte. Viele blieben bis heute unbeantwortet. Warum ausgerechnet er? Warum so früh? Warum hatte Gott es zugelassen?
Und nun wiederholte sich die Geschichte. Eine unfassbare Tragödie. Warum bloß? Hasste Gott sie etwa? Was sollte jetzt mit ihr geschehen? Wie konnte sie ganz allein überleben?
Emilies Kopf brummte, eine tiefe Ungewissheit nagte an ihr, Fragen überschlugen sich, doch nur eine formte sich auf ihren Lippen: »Wie ist es passiert?«
Frau Böttcher atmete einmal tief durch. »Dr. Neumann hat mir
alles erzählt, nachdem er Sie ins Zimmer getragen hatte. Im Eichengrund ist eine Kutsche verunglückt. Heute Morgen hat ein Bauer auf dem Weg zum Markt die Unfallstelle entdeckt.« Sie musste mehrmals schlucken, bevor sie weiterreden konnte. »Er warf nur einen kurzen Blick hinein und rannte sogleich weiter ins Dorf, um den Arzt zu holen. Er hat die beiden direkt erkannt, konnte aber nur noch ihren Tod feststellen. Sehr wahrscheinlich sind sie sofort umgekommen.« Zum Ende hin waren ihre Worte immer tonloser geworden. Eine Träne rann ihr die Wange hinab, die sie hastig fortwischte. »Wie genau es zu dem Unfall kam, weiß der Doktor natürlich nicht. Aber die Deichsel war gebrochen, vielleicht sind sie gegen einen Stein gefahren.«
Ein kalter Schauer durchfuhr Emilie. Ein morsches Stück Holz hatte ihr also ihre restliche Familie geraubt? Ein Unfall ohne Schuldigen? Ohne die Möglichkeit, Gerechtigkeit walten zu lassen?
»Was ist mit dem Kutscher? Ist ihm auch etwas zugestoßen?«
»Nein, ich habe eben mit ihm gesprochen. Er war gar nicht da. Herr Ferdinand hat die Kutsche selbst geführt.«
Es dauerte eine Weile, bis diese Information richtig zu Emilie durchgedrungen war. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit dichtem Nebel angefüllt. Ferdinand war selbst gefahren?
»Aber warum denn?«
Frau Böttcher kniff die Lippen zusammen. »Ich bin nicht die richtige Person, um mit Ihnen darüber zu sprechen. Ich weiß dafür zu wenig. Aber der gnädige Herr ist wohl etwas grob geworden und da hat Heinz sich geweigert, ihn zu fahren. Verzeiht meine Worte, aber wahrscheinlich hatte der gnädige Herr mal wieder zu tief ins Glas geschaut.«
Emilie musste schlucken. Sie konnte es nicht leugnen: Das sah Ferdinand ähnlich. Schuld war also nur ihr Bruder selbst. Sie wollte weinen und schreien, doch in ihrem Herzen war bloß eine große Leere. Wie ein Meeresstrudel, der alles verschlang und in die Tiefe zog, hatte dieses schreckliche Ereignis alle Empfindungen in ihr ausgelöscht. Keine Wut, keine Traurigkeit, einfach nur Leere.
Im Unterkleid stand Emilie am nächsten Morgen vor ihrem Schrank, unfähig, eine Wahl zu treffen. Die vielen Stoffe verschwammen vor ihren Augen. Die Tränen, die gestern auf sich hatten warten lassen, waren in der Nacht umso reichlicher geflossen. Ihre Augen brannten und sie fühlte sich ausgelaugt. Was für einen Unterschied machte es, welches Kleid sie heute trug? Ob sie sich überhaupt anzog und ihr Zimmer verließ? Mit welch unwichtigen Entscheidungen sie sich vorher ihr Leben lang beschäftigt hatte!
In Gedanken sah sie ihre Mutter vor sich, die nach Vaters Tod ebenso vor ihrem Schrank gestanden hatte, nicht in der Lage, sich anzuziehen. Wochenlang hatte sie kaum ihr Zimmer verlassen und hatte mit leerem Blick an die Wand gestarrt. Sie war eine wandelnde Hülle gewesen – als hätte sie ihren Lebensatem zusammen mit ihrem Ehemann ausgehaucht. Bis an ihr Lebensende hatte sie nicht zu ihrer alten Fröhlichkeit zurückgefunden.
Emilie hatte Angst, dass sie das gleiche Schicksal ereilen würde. Ihr ganzes Leben lag doch noch vor ihr! Sie rieb sich die verquollenen Augen und blickte wieder auf das Meer aus Stoffen vor sich, aber ihr Kopf war wie leer gefegt und sie konnte sich einfach nicht dazu aufraffen, eines der Kleider zu wählen.
Mit einem Seufzen schloss sie die Schranktüren wieder und setzte sich auf ihr Bett. Inzwischen mussten die Neuigkeiten die Runde gemacht haben. Gestern Abend war der Wachtmeister noch vorbeigekommen, aber, wie Dr. Neumann vermutet hatte, viel zu spät. Zu dem Zeitpunkt hatte die ganze Dienerschaft bereits Bescheid gewusst. Leopold und Wilhelmine hatten es inzwischen sicherlich auch mitbekommen. Wer von beiden sie wohl eher aufsuchen würde?
»Gnädiges Fräulein! Sind Sie etwa immer noch nicht auf?« Frau Böttcher betrat ihr Zimmer, ging sogleich zum Schrank und zog ein gemustertes Morgenkleid heraus. Dann half sie Emilie in ein frisches Unterkleid, schnürte ihr das Korsett, legte ihr einen versteiften Un-
terrock um und zog schließlich das Kleid darüber. Dann bürstete sie ihr die Haare, teilte sie in der Mitte und wickelte sie zu einem Knoten im Nacken zusammen. Emilie schämte sich, dass Frau Böttcher als Haushälterin auch die Pflichten einer Kammerzofe übernehmen musste. Eine weitere Sache, über die sie mit Ferdinand hatte sprechen wollen. Wie würde es mit dem Gut weitergehen?
Ein unkontrollierbares Zittern ergriff ihren Körper.
Wie sollte ihr Leben jetzt weitergehen?
»Na, machen Sie sich da mal keine Sorgen. Es wird schon alles gut werden.«
Erst als Frau Böttcher antwortete, wurde Emilie bewusst, dass sie die letzte Frage laut ausgesprochen hatte.
»Aber was soll ich bloß ohne Mutter tun?«
»Gnädiges Fräulein, ich bin fest davon überzeugt, dass Sie die nötige Kraft finden werden, auf eigenen Beinen zu stehen. Warten Sie erst einmal die Verlesung des Testaments ab. Der gnädige Herr wird schon für Sie gesorgt haben. Und vielleicht werden Sie ja auch bald Frau von Eckstein heißen?«
Emilie versuchte zu lächeln, es gelang ihr aber nicht richtig. Die Freude, die sie sonst bei diesem Gedanken erfüllt hatte, blieb aus. Sie konnte nur hoffen, dass ein Teil ihrer Fragen bald beantwortet werden und die Ungewissheiten ein Ende haben würden. Die Trauer jedenfalls würde das noch lange nicht.
Der Geruch von Büchern und altem Leder lag in der Luft. Staubkörner tanzten in dem Lichtstrahl, der durch eines der hohen Sprossenfenster fiel. Die anderen waren mit schweren Vorhängen verdeckt. Eine düstere Stille umgab die Bibliothek. Emilie hatte dieses Zimmer lange nicht mehr betreten. Zu viele Erinnerungen an ihren Vater waren damit verbunden. Aber jetzt hatte sie das Gefühl, dass diese ihr vielleicht eher dabei helfen würden, sich ein wenig abzulenken. Den ganzen Tag schon war sie angespannt und ruhelos, wie
ein gefangenes Tier. Gefangen in ihrer eigenen Hilflosigkeit. Sie versuchte, tief durchzuatmen, aber ihre Brust fühlte sich eng an.
Der Raum sah noch aus wie damals. Die deckenhohen Bücherschränke, die Perserteppiche, die den Boden bedeckten, und Vaters Schreibtisch aus Walnussfurnier mit dem stolzen Hirschgeweih an der Wand darüber.
Ferdinand hatte nicht viel verändert, seit er der Hausherr geworden war. Nur die Cognac-Karaffen auf der Anrichte waren mehr geworden. Sogar die Fotografien auf dem Schreibtisch waren noch dieselben wie damals.
Emilie nahm den größten der vier Silberrahmen in die Hand und strich liebevoll über das Bild ihrer Eltern. Vater saß auf einem Stuhl und Mutter stand hinter ihm, die Hand auf seine Schulter gelegt. Beide schauten ernst zum Fotoapparat. Emilie erinnerte sich noch an den Tag, als die Bilder aufgenommen worden waren. Vater hatte eigens einen Fotografen aus London kommen lassen. Mit einem begeisterten Leuchten in den Augen hatte er dessen Erklärung gelauscht, wie der Fotoapparat funktionierte, und Mutter hatte ungläubig aufgelacht. Sie war noch voller Skepsis gegenüber der neuen Technologie gewesen.
Nun nahm Emilie die Kinderporträts in die Hand. Ferdinand, damals neunzehn Jahre alt, saß aufrecht und stolz wie sein Vater auf dem Stuhl, Emilie selbst mit ihren blonden Zöpfen wirkte dagegen klein und verschüchtert. Sie war damals elf Jahre alt gewesen. Und dann war da noch Maximilian. Als Emilie seine Fotografie in die Hände nahm, schnürte es ihr die Kehle zu und neue Tränen traten ihr in die Augen. Maximilian war nur ein Jahr jünger als Ferdinand. Er war ihr bester Freund gewesen, ihr Ein und Alles. Bis er sich von seiner Familie abgewandt hatte und einfach gegangen war. Und das zu der Zeit, als sie ihn am dringendsten gebraucht hätte. Sie erinnerte sich noch schmerzlich genau, welche Fragen sie damals gequält hatten. Warum bloß hatte er sie einfach so verlassen? Bedeutete sie ihm denn gar nichts? Sie hatten sich doch so gut verstanden!
Sie dachte daran zurück, wie sie zusammen in die Obstbäume geklettert waren und den ganzen Tag Kirschen und Pflaumen gegessen hatten. Die faulen Früchte hatten sie gesammelt und tief in Ferdinands Kleiderschubladen gestopft. Er hatte sie erst Tage später gefunden.
Emilie musste trotz der Tränen lächeln. Mutter hatte sie dermaßen gescholten, dass ihnen für eine Weile die Lust auf Streiche vergangen war. Aber sie hatten genug andere Ideen gehabt. Maximilian war sich nie zu schade gewesen, mit seiner sieben Jahre jüngeren Schwester zu spielen. Wenn sie eine Prinzessin war, hatte er den Ritter verkörpert, der ihr Herz bei einem Turnier eroberte. Wenn er der Pirat Störtebeker war, hatte sie die dänische Königin gespielt, die versuchte, sein Schiff mit ihrer Flotte zu versenken. Sie hatten sich gegenseitig durch den Park gejagt und sich hier in der Bibliothek unter Vaters Schreibtisch versteckt. Vater hatte sich nur zu gern auf das Ganze eingelassen und ihr Versteck nicht einmal preisgegeben, als Frau Böttcher verzweifelt nach ihnen gesucht hatte.
Das waren die guten Zeiten gewesen. Doch auf einen Schlag hatte ihre sorglose Kindheit ein Ende gefunden. Vater starb und Mutter versank in Schwermut. Nur Tage später verließ Maximilian sie für immer. Ohne ein Wort.
Aus dem Fenster ihres Schulzimmers hatte sie gesehen, wie er eine Satteltasche auf sein Pferd geschnallt hatte und davongaloppiert war. Auf ihre Nachfrage hin hatte Mutter nur gesagt, dass Maximilian nicht wiederkommen werde und sie nicht über ihn sprechen solle. Seitdem hatte Mutter seinen Namen nicht mehr in den Mund genommen. Natürlich hatte Emilie trotzdem immer mal wieder nach ihm gefragt, aber nie eine zufriedenstellende Erklärung bekommen.
Ferdinand, der sich ohnehin nur selten zu Hause hatte blicken lassen, hatte sich nach Vaters Tod noch rarer gemacht. Und das, obwohl er gerade erst das Gut übernommen hatte.
Emilie hatte sich so allein gefühlt. Nur Frau Böttcher war für sie da gewesen und hatte sie getröstet. Genau wie jetzt. Mit dem
Unterschied, dass sie sich jetzt nicht nur allein fühlte, sondern tatsächlich allein war. Wo Maximilian sich aufhielt, konnte sie ebenso wenig beantworten wie die Frage, wo die Seelen ihrer Geliebten jetzt waren. Was hielt ihn von zu Hause fern? Würde diese zweite Tragödie ihn vielleicht wieder zurückbringen? Irgendwo da draußen war er noch, dessen war sie sich sicher. Morgen war die Beerdigung, da würde er kommen. Er musste einfach. Falls Mutter oder Ferdinand der Grund für sein Fortgehen gewesen waren, dann könnte er nun endlich heimkommen. Er hatte sie doch sicherlich nicht vergessen? Irgendwann würde er schauen, wie es seiner kleinen Millie ging.
Sie klammerte sich an diesen Wunsch. Egal wie gering die Wahrscheinlichkeit war. Maximilian musste kommen.
Allein der Gedanke, dass sie ihr Leben von nun an allein bestreiten sollte, ließ sie erschauern. Wie ein großer schwarzer Schatten lauerte dieses Unbekannte vor ihr. Und das, obwohl es einen Lichtstreif am Horizont gab. Sobald sie mit Leopold verlobt wäre, würde er sich ihrer annehmen. Doch diese zweieinhalb Wochen erschienen ihr unendlich lang. Wilhelmine war heute Vormittag zu Besuch gekommen, nachdem sie von der Tragödie gehört hatte. Emilie hatte in ihren Armen geweint und war von ihr getröstet worden. Es war eine Labsal für die Seele gewesen. Doch noch mehr hatte sie sich nach Leopold gesehnt. Er hatte ihr nur eine Karte geschickt, weil er berufliche Verpflichtungen hatte. Wie gerne wäre sie jetzt schon bei ihm gewesen! Wie gerne wäre sie von ihm getröstet worden. Ihr Leben hing in der Schwebe, alles stand still. Sie hatte keinen Sinn und kein Ziel; allein trieb sie in einem Fluss, ohne die Möglichkeit zu steuern, ein Spielball für die Strömungen. Wenn sie nur erst verlobt wäre, dann würde Leopold ihr Ziel und Richtung geben, er würde das Steuer in die Hand nehmen und ihr Leben hätte wieder einen Sinn. Doch bis dahin konnte sie nur warten.