Kapitel 2 Raegan
Als ich durch das Tor zu Moms Anwesen in Brentwood trete, hat das allzu vertraute Jucken an der Innenseite meines Unterarms eingesetzt und beim Anblick von Adeles schwarzem Lexus in der Auffahrt wird es noch schlimmer. Mit dem Handballen reibe ich über die rosafarbenen Flecken und dabei stoße ich einen müden Seufzer aus – wegen des Stressausschlags, wegen des Notrufs auf meinem Display und wegen des Traums, der fast hätte in Erfüllung gehen können, wäre nur mein Name nicht gewesen.
Ich schlüpfe unangekündigt ins Haus und gehe gleich zu Moms Küche durch – die seit vier Jahren auch meine Küche ist, denn Adele hat nach Daddys Tod darauf bestanden, dass es für Mom das Beste wäre, wenn ich zu ihr ziehe. Man sollte meinen, Moms langjährige Haushälterin Jana, mit der sie schon seit Ewigkeiten gut befreundet ist und die an fünf Tagen die Woche herkommt sowie an den meisten Sonntagnachmittagen, um mit ihren Enkeln den Swimmingpool zu nutzen, wäre Gesellschaft genug. Aber mit Adele zu diskutieren, bringt überhaupt nichts.
Wieder kratze ich mich am Unterarm. Die Flecken sind inzwischen schon bis über die Ellbogen gewandert, und so gerne ich auch den Grund für Adeles dringende Textnachrichten in Bezug auf meine mittlere Schwester wüsste, werde ich weder ihr noch sonst jemandem eine Hilfe sein, wenn ich nicht zuerst ein Antihistaminikum auftreibe.
Ich krame gerade im Medizinschränkchen, als ich aus dem Wohnzimmer Adele im Befehlston telefonieren höre. Sie benutzt
Juristensprache, die ich nicht verstehe, aber es überrascht mich nicht, dass sie am Handy hängt, nachdem sie mich herbeordert hat. Benjamin Franklin hat sich geirrt: Nicht nur zwei Dinge auf Erden – der Tod und die Steuer – sind uns ganz sicher.
Versteckt zwischen den Mitteln gegen Magenprobleme finde ich eine Schachtel mit abgelaufenen Allergietabletten. Ich schlucke zwei davon mit einem großen Glas Wasser – nur für den Fall, dass sie wegen des Verfallsdatums weniger gut wirken – und dann mache ich mich auf die Suche nach Antworten. Wo ist Hattie?
Ich gehe den Flur hinunter in Richtung Salon und Bibliothek und spitze die Ohren, ob ich Moms sanfte, tiefe Stimme höre oder das Geräusch ihrer Strasshausschuhe auf dem Hartholzboden.
Vielleicht kann sie Licht ins Dunkel bringen, was für ein Drama sich heute abgespielt hat. Aber das Einzige, was ich höre, sind
Adeles energische Worte, die in der Stille widerhallen.
Als ich den Salon betrete, gefriert mir das Blut in den Adern. Hattie – fast elf Jahre älter als ich und drei Jahre jünger als Adele – liegt wie erschlagen auf dem Sofa und zu ihren Füßen stehen drei voluminöse schwarze Müllsäcke. Sie schnarcht und an den dicken, angetrockneten Mascara-Spuren auf ihren Wangen erkenne ich sofort, dass sie geweint hat. Da ich sie selten in einem so verletzlichen Zustand sehe, kann ich den Blick nicht von ihrer schlafenden Gestalt abwenden, während ich eine Decke über ihre nackten Füße und Beine lege und mir das Hirn nach einer Erklärung zermartere.
»Wie es aussieht«, sagt Adele hinter mir, »wurde die Anhörung auf heute Nachmittag verlegt. Und sie ist allein hingegangen.«
Ich fahre zu ihr herum. »Was?«
»Sie hat den Sorgerechtsprozess verloren.«
»Nein. Nein.« Ich schüttle den Kopf, als könnte das die Umstände oder das Urteil in etwas Sinnvolles verwandeln.
Adele deutet in Richtung Flur und verlässt das Zimmer. Ich folge ihr und senke die Stimme. »Wie ist das denn passiert? Ich wusste nichts von einer Terminverlegung.«
Als wir stehen bleiben, mustert Adele mich mit einem Blick, der sagt: Es ist DEIN JOB, das zu wissen, Raegan.
»Der Richter hat ihm für diesen Sommer die ganzen beantragten sechs Wochen mit den Kindern zugesprochen, von heute an, weil es ihr reguläres gemeinsames Wochenende ist.«
Adele nennt den Namen unseres Ex-Schwagers praktisch nie. Was sie betrifft, hat Peter San Marco – oder Cheater Peter, wie ich ihn nach seinem Betrug insgeheim nenne – sowieso schon viel zu viel Aufmerksamkeit von uns bekommen. Adele hat immer noch mit den Folgen des Skandals zu tun, den er vor fast zwei Jahren bei Farrow Music Productions ausgelöst hat.
Ihr Blick wandert zu unserer schlafenden Schwester im Wohnzimmer. »Du kannst dir vorstellen, wie überrascht ich war, als ich gerade in eine Sitzung mit unseren Juristen gehen wollte und dann auf meinem Handy die Info aufploppte, wo Hattie ist. Ich habe dir geschrieben und dich angerufen, aber da ging sofort die Mailbox dran.« Sie mustert mich. »Wo warst du heute Nachmittag?«
»Ich habe mir eine Stunde freigenommen und war zum Kaffee verabredet«, antworte ich mit ruhiger Stimme, aber mein Herz hämmert wie wild in meiner Brust. Ich schiebe die offensichtliche Missbilligung meiner Schwester beiseite und denke stattdessen daran, wie ungerecht das für meinen Neffen Aiden und meine Nichte Annabelle ist. Und dann, voller Wut, an meine Schwester Hattie.
»Wie kann er ihr das antun? Sie ist ihre Mutter.« Ich war noch nie so dicht daran, jemanden zu hassen. »Er kann doch nicht einfach … Er kann sie ihr doch nicht einfach wegnehmen, oder? Sie waren noch nie länger als drei Nächte voneinander getrennt. So war es doch vereinbart.«
»Mir ist die Vereinbarung durchaus bekannt, Raegan. Schließlich habe ich selbst sie mit den Anwälten aufgesetzt. Deshalb bin ich ja auch so entsetzt, dass sie alleine zu der Anhörung gegangen ist. Wir wissen beide, dass sie nicht mal ansatzweise dafür bereit
war.« Adele seufzt und zieht ihren Rock zurecht. »Mir scheint, der Betrüger hat einen Kompromiss vorgeschlagen, den der Richter gut fand. Er bekommt die Kinder in diesem Sommer sechs Wochen lang und im Gegenzug gilt dasselbe nächstes Jahr für Hattie.«
»Aber warum besteht er auf sechs Wochen?«
Glühender Zorn lässt den Blick meiner Schwester blitzen. »Weil er will, dass sie Francescas Familie in Griechenland kennenlernen.«
Ich öffne den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Es gibt keine Worte, die dem gerecht werden würden. Francesca ist Anfang zwanzig und nicht nur der Grund, warum Peter unsere Schwester verlassen hat; sie war außerdem die umsatzstärkste Künstlerin bei Farrow Music Productions, bis Peter – der ehemalige Rechtsberater des Labels – eine Klausel in Francescas Plattenvertrag eingebaut hat, mit der sie ohne irgendeine Vertragsstrafe gehen konnte, kurz nachdem er seine Familie verlassen hatte.
Bei dem Gedanken daran, wie sehr Hattie leiden muss, stockt mir vor Mitgefühl der Atem.
Früher war sie der Mittelpunkt jeder Party. Diejenige, die Veranstaltungen und Urlaube, Familienausflüge und wöchentliche Essen bei unseren Eltern geplant hat. Aber diese Version von Hattie kommt mir heute beinahe ebenso fremd vor wie die Version, die wir kennengelernt haben, nachdem sie Peter San Marco geheiratet hat.
»Wie geht es ihr?«, frage ich.
»Mom sagt, sie hat sofort ein Beruhigungsmittel genommen, kaum dass sie durch die Tür war. Zwanzig Minuten später ist sie eingeschlafen.«
Ich starre Adele an. »Aber Hattie hasst es, Tabletten zu nehmen.«
»Stimmt, aber sie hasst es auch, wenn ihr die Kinder weggenommen werden.«
Dagegen kann ich nichts sagen.
Wir recken beide den Hals und sehen wieder zu unserer Schwester hinüber. Wenn Adele und ich uns in einer Sache einig sind, dann in unserer Verachtung für Hatties Ex und seine manipulative Art, mit der er alles, was er will, bekommt, koste es, was es wolle. Wäre nicht überraschend Crossing Bridges neu durch die Decke gegangen, wäre Farrow Music Productions in echten Schwierigkeiten. Adele schweigt sich über die Einzelheiten aus, aber ich weiß, dass Peter, nachdem sie seine Affäre aufgedeckt und ihn gefeuert hatte, unerhörte Dinge behauptet hat – dass unsere Künstler schlecht gemanagt würden und die Stimmung im Studio nicht gut sei. Natürlich hat er sich selbst als unschuldigen Zuschauer dargestellt, der heldenhaft die Wahrheit sagt, nicht als den Betrüger, der er ist. Er hat das Unternehmen wegen unrechtmäßiger Kündigung verklagt und gewonnen. Danach hat Adele die Regeln für alles verschärft: die Finanzen, das Personal, Interviews, Schweigepflichtserklärungen, Moms öffentliche Auftritte. Und der eiserne Griff, mit dem sie ihre beiden jüngeren Schwestern in Schach hält, ist ebenfalls noch unnachgiebiger geworden.
Adele senkt die Stimme. »Wir beide müssen besprechen, wie die nächsten sechs Wochen laufen sollen, damit wir Hattie aus den Medien raushalten.«
Sie sagt das, als wäre besprechen etwas, das wir Farrow-Schwestern tun. Dabei kann ich mich nicht einmal daran erinnern, wann sie mich das letzte Mal an irgendeiner Entscheidung beteiligt hat – schon gar nicht an einer, die unsere Familie betrifft.
»Das gilt auch für Mom. Sie muss sich auf ihren Auftritt beim Watershed Festival nächsten Monat konzentrieren. Sie ist einer der Top Acts auf einer der größten Bühnen für Countrymusik. Für das Label hängt viel von einem erfolgreichen Auftritt ab.«
Ich sehe hinter mich in Richtung Flur. »Wo ist Mom denn? Ist sie zu Hause?«
»Sie ist vor ein paar Minuten mit Jana weggefahren, kurz bevor du gekommen bist. Ich war bei der Arbeit, als Jana Hatties Zeug
vorbeigebracht hat, und dann hat Mom gesagt, sie muss vor dem Familientreffen heute Abend noch schnell was erledigen.«
Obwohl Jana theoretisch als Moms Haushälterin auf der Gehaltsliste steht, ist sie eher ein Teil unserer Familie als eine Angestellte der Firma. Sie war es, die mir das Alphabet beigebracht hat und mit mir in die Bücherei gefahren ist, während meine Eltern unermüdlich arbeiteten, um das Plattenlabel und Moms Karriere aufzubauen.
Mein Blick wandert zu den riesigen Mülltüten in Moms Salon.
»In diesen Säcken sind … Hatties Sachen?«
»Jana konnte die Koffer nirgends finden.« Adele zuckt geistesabwesend mit den Schultern. »Also habe ich ihr gesagt, dass sie sich was einfallen lassen und die Klamotten irgendwie herbringen soll.«
»Das hätte Jana nicht zu tun brauchen. Ich kann bei Hattie bleiben, bis sie sich an die Situation gewöhnt hat und –«
»Nein.« Adele schüttelt den Kopf. »Das Risiko können wir nicht eingehen. Hattie kommt allein nicht gut klar, das weißt du. Es ist das Beste, wenn sie hierbleibt, bis die Kinder zurückkommen. Wenn sie auf der anderen Seite vom Flur wohnt, ist es für dich einfacher, sie im Auge zu behalten. Vielleicht könnt ihr zwei ja irgendein gemeinsames Hobby finden, um euch die Zeit zu vertreiben.« So hat Adele also vor, die nächsten sechs Wochen mit mir zu »besprechen«: indem sie sich etwas überlegt und mich davon in Kenntnis setzt.
Es ist nicht so, dass ich Hattie nicht helfen will. Das will ich – und habe es auch schon getan. Aber mir einfach so eine Mitbewohnerin vor die Nase zu setzen, ohne Rücksicht auf meine Pläne zu nehmen, löst in mir diese besondere Art der Verärgerung aus, die für herrische große Schwestern reserviert ist.
»Ich kann sie nicht mit Basteln und Malen davon ablenken, dass sie ihre Kinder vermisst, Adele.« Ich hole tief Luft und atme dann langsam aus. »Und findest du nicht, dass sechs Wochen eine lange Zeit sind, in der ich vielleicht selbst was vorhabe?«
Sie zieht eine ihrer perfekt geformten Augenbrauen hoch. »Ich habe im Familienkalender nachgesehen. Du scheinst nicht viele Termine zu haben – oder sehe ich das falsch?«
Wenn es irgendeine technische Errungenschaft gibt, die ich am liebsten ungeschehen machen würde, dann ist das die Erfindung eines gemeinsamen Kalenders. Ich hasse ihn. Und im Gegensatz zu Adele, die nie hinterfragt wird, wenn sie Treffen ohne nähere Infos einträgt, werde ich zu allem und jedem ausgequetscht.
»Das ist nicht der Punkt, ich –«
»Ist es doch. Wenn du dir nicht die Mühe machst, deine Termine in den Kalender einzutragen, wie soll ich dann deine Pläne berücksichtigen? Wie gesagt, das Wichtigste ist, dass vor dem Festival in Washington nichts nach außen dringt, was Moms Ruf gefährden könnte.«
Bevor ich etwas erwidern kann, geschweige denn die Chance habe zu erwähnen, dass Tav zu Besuch kommt, ertönt irgendwo draußen eine Hupe, gefolgt von Musik. Und zwar nicht irgendwelcher Musik, sondern dem Refrain eines Liedes, das wir alle auswendig kennen: My Darlin’ Daughters Three – der Song, den Mom für uns – ihre drei geliebten Töchter – geschrieben hat, als sie Mitte der 90er-Jahre gerade ihre Solokarriere begonnen hatte. Adele ist zusammengezuckt. »Was in aller Welt ist das?« Sie geht zur Haustür.
»Klingt nicht wie der Eiswagen«, witzele ich, aber sie hat keinen Sinn für meinen Humor. Wenn ich darüber nachdenke, weiß ich nicht einmal, wann sie überhaupt das letzte Mal gelacht hat. Die Stimme unserer Mutter erklingt und ihre Worte hören sich überlaut und verzerrt an, als würde sie durch ein Megafon rufen. »Meine Lieben, könnt ihr drei bitte mal vors Haus kommen? Ich habe eine Überraschung für euch!«
Adele marschiert, ohne zu zögern, nach draußen und lässt mich allein mit Hattie zurück, die so aussieht, als könnte nur die Wiederkunft Christi sie wecken. Ich nähere mich ihrer schlafenden Gestalt auf dem Sofa und berühre sanft ihre Schulter. »Hey,
Hattie. Mom will, dass wir rauskommen. Sie sagt, sie hat eine Überraschung für uns.«
»Später«, murmelt Hattie. »Zu … müde.«
»Verstehe ich.« Ich unterdrücke selbst ein Gähnen. »Es tut mir so leid, was bei der Anhörung passiert ist. Ich wünschte, ich hätte von der Terminverschiebung gewusst …« Ich schlucke die Schuldgefühle hinunter. »Aber das wird schon.« Irgendwie.
Der einzige Hinweis darauf, dass Hattie mich gehört hat, ist ein Flattern ihrer Lider.
Von der Auffahrt her ist ein erneutes kurzes Hupen zu hören, also lasse ich Hattie auf der Couch liegen und trete durch die Haustür nach draußen. Weiter komme ich nicht.
Adele ist zwei Stufen unter mir auf der Verandatreppe stehen geblieben und ich brauche nicht zu fragen, was los ist. Der alte goldene Tourbus mit seinen getönten Scheiben und einer leuchtend roten Schleife auf dem Dach ist nicht gerade unauffällig. Genauso wenig wie unsere Mutter, die in dessen offener Tür steht und tatsächlich ein Megafon umklammert.
»Jetzt steht da nicht mit offener Kinnlade rum!«, ruft sie. »Wo ist Hattie?«
Adele dreht sich um und funkelt mich an, als wäre sie die Kommandantin und ich ihre Rekrutin.
»Die schläft«, sage ich zu dem gigantischen Goldbarren auf Rädern.
Wir treten zögernd ein paar Schritte näher, als auf einmal eine ohrenbetäubende Sirene ertönt, die selbst Schnapsleichen wecken könnte, die nach einer durchzechten Nacht auf dem Broadway ihren Rausch ausschlafen. Obwohl ich mir die Ohren zuhalte, verstehe ich die nächste Megafonansage meiner Mutter klar und deutlich: »Harriet Josephine Farrow, Sie werden um Ihre Anwesenheit in der Auffahrt gebeten.«
»Sie hat einen harten Tag hinter sich, Mom«, versuche ich es noch einmal.
»Und genau deshalb habe ich beschlossen, meine ursprüngli-
chen Pläne für unser Treffen heute Abend zu ändern. Harte Tage bleiben nur hart, wenn man sie lässt. Es hat keinen Sinn, über etwas nachzugrübeln, was man nicht mehr ändern kann. Ihr alle braucht eine ordentliche Portion guter Laune und deshalb ist das hier genau das Richtige.«
Wenige Augenblicke später taumelt Hattie durch die Tür. Ihre schwarze Jogginghose ist verdreht, sodass die Kordel im Bund nicht in der Mitte, sondern auf ihrem rechten Hüftknochen sitzt, der in den Monaten seit ihrer Scheidung noch stärker hervorgetreten ist. Hatties Figur ist die weibliche Version von der meines Vaters: groß gewachsen und schlaksig mit langen, schmalen Gliedern – sportlich und perfekt für den Laufsteg. Auf dem Weg über die Veranda bemüht sie sich vergeblich, das blonde Durcheinander auf ihrem Kopf zu bändigen, bevor sie den Versuch aufgibt. Als sie endlich hochguckt und den Bus sieht, bleibt auch sie wie angewurzelt stehen.
Unsere Mutter posiert dort – ganz die Berühmtheit, die sie ist – mit ihrer bewundernswert schmalen Taille in den hoch geschnittenen Jeans, mit Strassgürtel und schwarzem Glitzertop, das über ihrer üppigen Oberweite den Schriftzug Drama Mom trägt. Meine Mutter besitzt nicht ein einziges Kleidungsstück, das nicht irgendwas Funkelndes an sich hätte. Eine meiner vielen Fragen für den Himmel ist, warum sie ausgerechnet Adele einen Großteil ihrer genetischen Merkmale vererbt hat, obwohl die nie etwas anderes trägt als Hosenanzüge in neutralen Farben und Schuhe mit Blockabsätzen. Und einen Blazer. Immer einen Blazer. Man würde nie vermuten, dass sich unter den ganzen Geschäftsfrauen-Outfits eine fantastische Figur versteckt.
Ich hingegen habe weder den schmalen Körperbau meines Vaters noch die Sanduhrfigur meiner Mutter. Stattdessen bin ich die glückliche Erbin einer rezessiven Genkombination, die Modeprofis in den sozialen Medien als »Birnenform« bezeichnen. Zumindest habe ich genügend Hüfte und Hintern, um jederzeit einen Hula-Hoop-Wettbewerb zu gewinnen. So ziemlich das
Einzige, was ich mit allen Farrow-Frauen gemeinsam habe, sind meine Haare. Jede von uns vieren ist irgendwo auf dem Lockenspektrum angesiedelt, obwohl nur meine Nichte Cheyenne und ich uns dafür entschieden haben, uns nicht gegen unsere natürliche Haarstruktur zu wehren.
Mom hält sich am Handlauf fest, als sie die Stufen hinuntersteigt, um den Bus zu verlassen. Ich frage mich, wie sie es überhaupt geschafft hat, dieses Riesenteil hierher zu manövrieren. Sie hat seit Jahrzehnten nicht mehr selbst hinterm Steuer gesessen und Jana hat definitiv nicht die Fahrerlaubnis für etwas so Großes.
Mom winkt jemandem, der noch im Bus ist. »Mädels, das ist Eddie. Er ist derjenige, der mein geheimes Projekt ermöglicht hat.«
Eddie, der aussieht wie ein typisch amerikanischer Mechaniker in einer dieser Reality Shows im Fernsehen, hebt verlegen die Hand zum Gruß.
»Du kannst gerne zu Eistee und Kuchen bleiben«, lädt sie ihn ein, nachdem sie uns ihm ebenfalls vorgestellt hat.
Eddie schaut auf sein Handy. »Danke für die Einladung, Ms Farrow, aber meine Mitfahrgelegenheit kommt gleich. Und danke für die ganzen signierten Sachen. Meine Frau und meine Kinder werden jetzt richtig cool finden, was ich mache. Wenn ich den Bus irgendwo anders hinbringen soll, bevor die Tour losgeht, sagen Sie einfach Bescheid.«
»Danke, Schätzchen, das mach ich.« Mom zieht an dem Ärmel seines Overalls, bis Eddie sich weit genug herunterbeugt, damit sie ihm einen Kuss auf die Wange drücken kann. Sein Gesicht leuchtet mit einem Mal in verschiedenen Rosatönen.
Unsere Mom weiß einfach nicht, was ein Fremder ist.
Als Eddie sich auf den langen Weg zum Tor macht, stützt sie die Hände in die Hüften und mustert uns alle mit fragendem Blick. »Möchte eine von euch vielleicht raten, was dieses Schmuckstück hinter mir hier macht?«
Adele nimmt die Herausforderung an und betrachtet das glitzernde Gefährt mit einem solchen Kennerblick, als wäre sie plötzlich Expertin in Sachen Beförderungsmittel. »Auf jeden Fall ist es nicht der Tourbus, den Raegan für deine Reise nach Washington mieten sollte.« Adele sieht mich an. »Ich habe explizit um ein neues Modell gebeten, schwarz und mindestens einen Meter länger.«
»Das habe ich auch bestellt. Gib mir eine Sekunde, dann rufe ich die Bestätigungsmail auf.« Während ich in meinem Smartphone nach der entsprechenden Nachricht suche, meint Mom fröhlich: »Mach dir keine Umstände, Liebes. Den Auftrag habe ich storniert.«
»Du hast … was?« Adele erstickt fast an den Worten. »Warum in aller Welt solltest du das tun?«
»Weil ich nicht in einem Bus zu einem Festival fahren werde, wo mein musikalisches Vermächtnis gefeiert wird, der nichts mit meiner Geschichte zu tun hat.« Moms Lächeln wird breiter. »Und deshalb habe ich Eddie angeheuert, damit er Old Goldie aus seinem langen Schlaf erweckt und ihm ein längst überfälliges Facelifting verpasst. Ich liebe, wie das Gold in der Sonne glänzt – ihr nicht auch? Eddie hat gesagt, es ist eine Metal-Flake-Lackierung. Es sieht noch besser aus als ursprünglich.«
»Du meinst ›Old Goldie‹ wie … wie der alte Tourbus, den du noch aus den 90ern hast?«, fragt Hattie, die allmählich zu sich zu kommen scheint.
»Genau der. Innen ist er auch komplett renoviert. Alles ist hell und einladend und es wurden bequemere Möbel eingebaut. Aber das Beste ist die ganze nostalgische Dekoration – Eddie und sein Team haben die ganzen Fotos für uns neu gerahmt. Ich kann es kaum erwarten, euch alles zu zeigen.« Sie strahlt uns an. »Das wird der beste Sommer, den wir jemals zusammen verbracht haben!«
Kurz frage ich mich, ob ich als Einzige außen vor gelassen wurde, aber den offenen Mündern der anderen beiden nach zu urteilen, hatten sie auch keine Ahnung.
Wie immer übernimmt Adele die Führung, bevor jemand anders es tun kann. »Wovon redest du, Mom? Ich bin die Einzige, die mit dir zum Watershed fährt. Nur wir beide in einem gemieteten Bus mit viel Platz und einem Büro, von dem aus ich arbeiten kann. Und deine Band treffen wir dann vor Ort, weißt du noch?«
Unsere Mutter sieht aus, als hätte sie ihr ganzes Leben auf diesen Augenblick gewartet. Als wäre die Tatsache, dass sie unzählige Male vor Beginn einer Konzertübertragung in der Radioshow Grand Ole Opry oder an Hunderten Locations auf der ganzen Welt hinter den Kulissen darauf gewartet hat, dass ihr Auftritt angekündigt wird, nichts gegen das hier.
»Ich habe einen neuen Plan gemacht.« Mom lässt den Blick über unsere Gesichter schweifen und erklärt uns nach einer Pause, in der ich einen imaginären Trommelwirbel zu hören glaube: »Vor dem Festival will ich mit meinen drei Töchtern einen Roadtrip machen, der an einem meiner liebsten Orte endet. Nur wir vier plus ein Fahrer. In einer Woche geht es los!«
Niemand von uns wagt zu atmen, geschweige denn zu sprechen. Wir stehen nur da und starren sie an, sie, den Bus und dann einander.
»Mom«, sagt Adele, als wollte sie einen von tausend Gründen anführen, warum eine solche Reise niemals funktionieren kann, und ausnahmsweise bin ich dankbar für ihre Bestimmtheit. Wir vier in einem Bus – egal, wie lange –, das klingt eher nach dem Auftakt zu einem True-Crime-Podcast als nach einer schönen Reise. »Du hast noch mehrere Proben mit der Band und wegen der Choreografie, außerdem einen Termin beim Stylisten –«
»Ich kann diese Lieder im Schlaf, genau wie die Band. Und Choreografie? Ich bin doch nicht Beyoncé. Meine Bühnenshow besteht noch aus denselben drei Schritten wie vor deiner Geburt. Es spricht nichts dagegen, dass wir vier uns zwei Wochen Zeit nehmen, um vor dem Festival zusammen durchs Land zu fahren. Für die Proben brauche ich nur vierundzwanzig Stunden. Höchstens.«
Adele schüttelt den Kopf. »Es gibt einfach zu viele Unwägbarkeiten und wir dürfen nicht riskieren, dass vor der Show irgendwas schiefgeht. Für das Label steht einfach zu viel auf dem Spiel.« Sie sieht uns der Reihe nach an. »Vielleicht können wir für August was planen? Ein langes Wochenende irgendwo?«
»Nein, lieber vorher, im August kommen meine Kinder nach Hause; auf keinen Fall werde ich auch nur eine einzige Stunde mit ihnen opfern«, erwidert Hattie mit einer Heftigkeit, die mich überrascht.
»Hattie, ich wollte wirklich nicht vorschlagen, dass du …« Adele verstummt und räuspert sich, bevor sie in einem für sie völlig untypischen tröstenden Tonfall fortfährt: »Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig die nächsten Wochen für dich werden. Als Cheyenne ausgezogen ist, um aufs College zu gehen, waren Michael und ich –«
»Cheyenne ist neunzehn. Aiden und Annabelle sind acht und neun und verlassen gerade zum ersten Mal in ihrem Leben das Land, und zwar in der Obhut meines betrügerischen Ex-Mannes und seiner Geliebten. Versuch nicht, unsere Umstände miteinander zu vergleichen. Sie sind nicht vergleichbar. Du und ich sind nicht gleich.«
»Da hast du recht«, erwidert Adele kalt. »Das sind wir nicht. Ich hätte es zum Beispiel niemals gewagt, ohne juristischen Beistand oder wenigstens jemanden aus der Familie zu einer Sorgerechtsanhörung zu gehen und –«
»Du denkst also, es ist meine Schuld, dass ich verloren habe?« Hattie lacht freudlos. »Natürlich denkst du das. Dann setz es doch auf die Liste meiner Verfehlungen, Adele. Du führst ja mit Sicherheit eine.«
»Das reicht, Mädchen!«, schaltet Mom sich ein. »Ihr versteht gar nicht, worum es mir bei dieser Reise geht.«
»Was meinst du denn, Rae?«, wendet Hattie sich an mich. »Kannst du dir vorstellen, für zwei Wochen von hier zu verschwinden?«
Ich würde gerne für Hattie Partei ergreifen, aber mein allergietablettenbenebelter Verstand lässt mich sofort an die Pläne denken, die ich nicht in den Familienkalender eingetragen habe. Und die damit zu tun haben, dass Tav mich gebeten hat, ihn »bei einem Abendessen alles erklären« zu lassen, wenn er von seiner Konzerttour zurück ist. Im Moment bin ich nicht sicher, wovor mir mehr graut – davor, dass ich mir eine Reaktion auf diese Erklärung überlegen muss, oder davor, dass eine Wunde wieder aufgerissen wird, die kaum Zeit hatte zu verheilen. Es ist eine schwierige Entscheidung: zu Hause bleiben und mich mit meinem Ex treffen, um über all die Gründe zu reden, warum er mich nicht so lieben konnte wie ich ihn, oder mit Mom und meinen beiden Schwestern in einem Tourbus zu wohnen und zu hoffen, dass das Ganze nicht in Richtung der Realityshow Survivor geht. Mom, Adele und Hattie beobachten meinen stillen inneren Kampf.
Adeles Augen verengen sich auf diese unangenehme Art. »Jetzt sag nicht, dein Zögern hat etwas mit der Tatsache zu tun, dass Octavian zurückkommt.«
»Was? Nein«, lüge ich und verschränke die Arme vor der Brust.
»Meine Beziehung mit Tav hat überhaupt nichts damit zu tun.«
»Moment mal – deine Beziehung? Ich dachte, du hättest nach dem, was bei der letzten Tour passiert ist, endgültig Schluss gemacht!« Hattie sieht erst zu Adele und dann zu Mom, von denen sie offensichtlich Antworten erwartet. »Habe ich was verpasst?«
Adele und ich wechseln einen vielsagenden Blick. Hattie hat im letzten Jahr sicher mehr als nur ein paar Dinge verpasst, obwohl es in den meisten Fällen um die Gerüchte ging, die über das Schicksal von Farrow Music Productions kursieren, und zwar wegen des Skandals um ihren Ex-Mann.
»Nein, wir sind nicht mehr zusammen. Tav will nur ein paar Sachen besprechen – freundschaftlich«, erkläre ich, nicht bereit, mehr zu sagen.
»Das lohnt sich nicht«, sagt Hattie bitter. »Wenn du Inspiration
dafür brauchst, wie du dich an einen Betrüger hängen kannst, von dem du geliebt werden willst, brauchst du dir nur meine Katastrophe von Leben anzugucken.« Hattie zeigt auf ihr Shirt mit den Kaffeeflecken und ihre zerknitterte Jogginghose.
»Wir hatten eine Beziehungspause, als er –«
»Hast du nie Friends gesehen? Spoiler Alert: ›Beziehungspause‹ heißt ›untreu‹.«
»Er hat mich nicht betrogen, Hattie.« Jedenfalls nicht direkt. »Er hat mir ganz offen gesagt, dass … weißt du was?« Ich schüttele den Kopf. »Vergiss es. Das spielt gerade überhaupt keine Rolle – es geht hier um Moms Reise und –«
»Ein so langer Trip hätte viel früher geplant werden müssen«, schaltet Adele sich ein, bevor ich meinen Gedanken zu Ende formulieren kann, »und das Timing ist einfach schlecht.«
Mom verschränkt die Arme vor der Brust. Breitbeinig steht sie vor dem Bus, während der Luftzug der Klimaanlage ihr von hinten die Haare ums Gesicht wehen lässt. »Ich werde euch dreien mal etwas über schlechtes Timing sagen. Schlechtes Timing ist es, wenn bei deinem Auftritt in einer Weihnachtsfernsehshow mitten im Refrain von Stille Nacht auf einmal die Wehen einsetzen.
Schlechtes Timing war es, als Hattie sich zwei Minuten vor Beginn der Hochzeit unseres Drummers, bei der sie Blumenmädchen war, den Pony abgeschnitten hat. Schlechtes Timing war es, als Raegan sich im Bad meines unvergleichlichen Musikerkollegen George Strait eingeschlossen hat und wir die ganze Nacht panisch nach ihr gesucht haben, während sie seelenruhig über ihrem Bilderbuch eingeschlafen war. Schlechtes Timing ist die Hauptzutat beim Elternsein, dieser Roadtrip ist eine Entscheidung. Und deshalb ist meine Bitte, dass ihr euch dafür entscheidet, diese gemeinsame Zeit möglich zu machen. Mir zuliebe.«
Hattie geht auf Mom zu. »Ich komme mit.«
Adele und ich sind nicht annähernd so impulsiv, obwohl unser Zögern unterschiedliche Gründe hat. Adele hat einen Terminkalender, den sie nicht ohne Weiteres über den Haufen werfen kann,
und muss außerdem ihren Mann und ihre studierende Tochter in ihre Pläne miteinbeziehen. Der Großteil meines gesamten Umfelds steht hier in der Auffahrt – solange man nicht die Charaktere mitzählt, die in der separaten fiktiven Welt leben, über die ich schreibe. Aber die haben in dieser Runde noch nie viel Beachtung bekommen. Und vielleicht ist das der Grund, warum ich einen Schritt auf den goldenen Tourbus zumache. »Ich bin auch dabei.« Über die Schulter lächele ich meine älteste Schwester zuckersüß an. »Keine Angst, Adele. Ich werde dafür sorgen, dass unser Roadtrip so schnell wie möglich in den Familienkalender eingetragen wird.«