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Stachlige Persönlichkeiten

Wie Sie schwierige Menschen entwaffnen

Einleitung

Warum haben schwierige Menschen so viel Einfluss? Müsste es nicht umgekehrt sein? Sollten nicht faire und liebevolle Menschen bestimmen, wie wir miteinander umgehen? Und müssten im Job nicht diejenigen führen, die teamfähig sind und an den gemeinsamen Erfolg denken? Leider sieht die Realität oft anders aus. Gerade weil sich schwierige Menschen nicht an Regeln halten, haben sie mehr Macht als andere. Weil sie Beziehungen an den Rand des Abgrunds führen, geben andere nach, auch wenn das ungerecht ist und Kraft kostet. Psychosomatische Kliniken und therapeutische Praxen sind voller feinfühliger, oft sozial eingestellter Personen, die eine schwierige Beziehung an den Rand des Nervenzusammenbruchs geführt hat. Berufliche Projekte fahren an die Wand, weil ein schwieriger Mensch in seiner Unvernunft nicht gestoppt wurde. Auch Umwege und Brüche in der Karriere sind meist auf schwierige Menschen zurückzuführen. Deshalb sollte jeder verstehen: Was gibt schwierigen Menschen so viel Macht? Wie kann man sich wehren und ein faires Miteinander möglich machen?

Schon als junger Psychotherapeut ist mir aufgefallen: Die psychologischen Werkzeuge, die ich habe, sind völlig ungeeignet, wenn wir es mit schwierigen Menschen zu tun haben. Was hilft es, gut zu kommunizieren, wenn sich ein anderer gar nicht verständigen, sondern durchsetzen will? Was nützen Selbstsicherheit und soziale Kompetenz, wenn ein anderer zu Machtmitteln greift? Was bringt es, wenn sich jemand seiner Würde und seiner persönlichen Grenzen gewahr wird, er dann aber am nächsten Tag im Büro gedemütigt wird? Schwierigen Menschen können wir nur mit Wachsamkeit und psychologischer Raffinesse begegnen. Dabei kommt es vor allem auf einen klugen Umgang mit Macht an. Unsere Menschlichkeit muss dabei nicht auf der Strecke bleiben. Es gibt auch faire Strategien, mit denen man unfairem Verhalten begegnen kann. Das schützt uns letztlich auch besser, als wenn wir in das gefährliche Spiel von Täuschung, Manipulation und Gemeinheiten einsteigen würden. Wir bewahren unsere Werte und Vertrauenswürdigkeit.

Wie wir den Menschen sehen

Mit diesem Buch richte ich mich besonders an sozial eingestellte und christlich geprägte Leserinnen und Leser. Sie machen in meiner Praxis den größten Teil meiner Patienten aus. Gleichzeitig sind sie die perfekten Opfer für schwierige Menschen. Denn sie verwechseln oft Liebe mit lieb sein. Sie sind auch dann noch verständnisvoll, großzügig und entgegenkommend, wenn sie längst ausgenutzt oder in eine gefährliche Situation manövriert werden. Doch weder eine soziale Einstellung noch die Nächstenliebe erfordern, dass man sich zum Opfer schwieriger Menschen macht. Wenn ich einmal aus Menschlichkeit oder Klugheit ein Opfer bringe, ist das etwas anderes, als wenn ich mich zum Opfer mache oder machen lasse. Es gibt auch eine starke Liebe, die sich wehren kann und zu einem guten Miteinander einlädt.

Ich hoffe, Sie haben vor dem Kauf des Buches diese Einleitung im Internet gelesen oder zumindest bemerkt, dass es in einem christlichen Verlag erschienen ist. Andernfalls werden Sie von Passagen überrascht, die den christlichen Glauben aufgreifen. Damit will ich niemanden bedrängen. Vielleicht kann Sie diese unerwartete Perspektive trotzdem bereichern. Schwierige Menschen konfrontieren uns auch mit weltanschaulichen Fragen, für die es keine wissenschaftlichen Antworten gibt:

• Was bedeutet Freiheit und wo sind wir anderen Menschen verpflichtet?

• Was kann man vergeben?

• Wie viel Wahrheit vertragen unsere Beziehungen?

• Wann darf man einen Menschen aufgeben und seinem Unglück überlassen?

Im Umgang mit schwierigen Menschen brechen solche Fragen auf, wenn wir es am wenigsten brauchen. Idealerweise finden wir schon vorher unsere Antwort darauf. Dann haben wir bereits eine Haltung, die uns Orientierung gibt, wenn wir unter Druck kommen oder verunsichert werden.

In einer weltanschaulichen Frage brauchen wir Beweglichkeit. Sie betrifft unser Menschenbild. Sind Menschen einzigartig und damit stets überraschend? Oder lassen sich Menschen einordnen? Dann könn-

ten wir im Fall schwieriger Menschen die Probleme voraussehen. Die meisten wollen andere nicht in Schubladen stecken. Das finde ich sympathisch. Trotzdem geschieht in diesem Buch genau das. Wir ordnen einen Menschen, unter dem wir leiden, einem Typen zu und entdecken in ihm einen Grenzüberschreiter, einen Blender oder einen anderen Typen. Wenn wir in Not sind, erleichtert es sehr, ein psychologisches Werkzeug an die Hand zu bekommen. Es führt uns von der Verwirrung zum Durchblick. Wir finden aus einer Hilflosigkeit heraus und entdecken Handlungsmöglichkeiten. Wenn wir dann mit einer Situation zurechtkommen, können wir das psychologische Werkzeug wieder aus der Hand legen. Wir dürfen andere dann wieder in ihrer Einzigartigkeit sehen und uns überraschen lassen, statt jemanden auf bestimmte Eigenschaften festzulegen.

Schwierige Menschen erkennen

Rein statistisch ist die Chance groß, auf angenehme Menschen zu treffen. Bei der Frage, wie viele Menschen schwierig sind, können wir uns an der Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen orientieren. Wenn schwierige Persönlichkeitszüge so ausgeprägt sind, dass sie einem Menschen und seinen Bezugspersonen zu schaffen machen, spricht man von Persönlichkeitsstörungen. Sie betreffen etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Das schätzen Studien zur Verbreitung psychischer Störungen. 1 Die diagnostische Kategorie der Persönlichkeitsstörungen deckt sich allerdings nicht ganz mit den schwierigen Persönlichkeiten, die in diesem Buch beschrieben sind. Manche Menschen erfüllen die diagnostischen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung, sind aber trotzdem sehr angenehme Menschen. Andere erfüllen die Kriterien nicht, rauben einem aber viel Kraft und Nerven. Trotzdem erscheint mir eine Größenordnung von etwa zehn Prozent realistisch, wenn wir uns fragen, mit welcher Wahrscheinlichkeit uns die Charaktere dieses Buches begegnen. Es ist deshalb kaum möglich, schwierigen Menschen zu entgehen. Andererseits bleiben mehr als genügend Menschen, um angenehme Beziehungen zu pflegen.

1 Zum Beispiel für Deutschland: Maier, W., Lichtermann, D.; Klingler, T.; Heun, R. (1992): Prevalences of personality disorders (DSM-III-R) in the community. J Personal Disord 6. S. 187-196.

Natürlich gibt es auch Konflikte zwischen Menschen, die nicht schwierig sind. Hier entschärft es Situationen oft schnell, wenn wir unsere eigenen Schwächen erkennen und korrigieren. Deshalb ist es so wichtig, dass wir unterscheiden können: Haben wir es hier mit einem Menschen zu tun, der normal schwierig ist wie wir alle? Oder könnte mir jemand gefährlich werden, weil er uneinsichtig, unkorrigierbar und so selbstbezogen ist, dass man es kaum glauben kann? Im ersten Fall sollten wir unserer Intuition folgen: erst mal selbstkritisch, ausgleichend und kompromissbereit sein. Im Fall schwieriger Menschen könnte uns genau das zur Falle werden. Hier müssen wir ganz an unserer eigenen Wahrnehmung festhalten, die Machtfrage in den Blick nehmen und jedes Entgegenkommen konsequent daran knüpfen, dass sich ein anderer fair verhält. Wie das in unterschiedlichen Konstellationen möglich ist, werden Sie in vielen Beispielen entdecken. Auch wenn ich die Gefährlichkeit schwieriger Menschen ernst nehme, sehe ich sie doch auch mit Sympathie und Mitgefühl. Warum ich als Psychotherapeut gar nicht anders kann, möchte ich an einem ersten Fallbeispiel zeigen.

Magenschmerzen vor der Arbeit

Die Kollegen beobachten aufmerksam, wie sich Julian durch die Flure des Altenheims bewegt. So spüren sie, was heute auf sie zukommt. Mal eilt er mechanisch zu seinem Ziel, den Blick starr geradeaus, eine Zornesfalte über der Nasenwurzel, seinen Kaugummi malmend wie ein zähes Stück Fleisch. Besucher weichen Julian unwillkürlich aus. Kollegen grüßen ironisch oder gehen achselzuckend an ihm vorbei. In dieser Stimmung tritt Julian auf, als wären nur die Heimbewohner wichtig, die er betreut. Wer ihm entgegentritt und gleiche Rechte einfordert, riskiert einen Zornausbruch. Julian stößt dann Vorwürfe aus, die so unsachlich sind, dass die Kollegen kaum wissen, was sie darauf antworten sollen.

An anderen Tagen schlendert Julian durch das Altenheim, eine Hand in der Tasche seiner weißen Hose. Wenn er gedankenverloren am Schwarzen Brett steht und die Aushänge studiert, wirkt es, als gelte der Zeitdruck nur für die anderen. Kollegen fällt auf, dass Julian von Zusatzaufgaben verschont wird, weil er so schnell aus dem Gleichgewicht

gerät. Julian steht meist als Letzter von der Frühstückspause auf. Die Kollegen mussten ihn häufig drängen, damit er seinen Beitrag für die Kaffeekasse zahlt. Trotzdem lässt es sich am besten mit ihm aushalten, wenn er in einer entspannten Stimmung ist. Er hat dann den Charme eines verwöhnten Jungen.

Weil man mit Julian schlecht reden kann, redet man über ihn. Die stellvertretende Stationsleiterin offenbart: »Wenn ich allein mit ihm Dienst habe, gehe ich mit Magenschmerzen zur Arbeit. Diese Gereiztheit und Unberechenbarkeit machen mich fertig.«

Der Stationsleiter hält dagegen: »Julian macht einen guten Job. Wenn er mir beim Dienstplanmachen über die Schulter schaut, zeigt er eine Kombinationsgabe, die mich verblüfft. Ich glaube, er ist echt intelligent. Es ist ein Jammer, dass er die dreijährige Ausbildung samt Examen nie gemacht hat. Man muss ihn zu nehmen wissen, im Grunde ist Julian echt in Ordnung.«

»Wenn du den Sozialarbeiter spielen willst«, kontert ein älterer Pfleger, »kannst du das ja tun. Aber wir alle machen einen Teil seiner Arbeit mit. Das weiß jeder und das geht auf Dauer nicht.«

Schweres in die Wiege gelegt

Schwierige Menschen bringen andere an ihre Grenzen. Gleichzeitig erahnt man das schwere Schicksal, das sich hinter den unangenehmen Reaktionen verbirgt.

Alleinsein war das vorherrschende Gefühl in der Kindheit von Julian. Es müssen viele Stunden gewesen sein, die Julian vor dem Küchenfenster verbracht hat, die Nase an die Scheibe gedrückt, den schmalen Weg zur Tür des Reihenhauses im Blick. Ab und zu wischte er mit dem Ärmel die vom Atem beschlagene Scheibe wieder frei. In jedem Schlagen einer Autotür sah Julian ein Zeichen für die Rückkehr seiner Mutter. Sie hat ihren kleinen Jungen zu früh und zu lange allein gelassen. In manchen Wochen war es die Tür zum Schlafzimmer, vor der Julian lauschte. Das Geräusch einer Schublade oder einer Schranktür kündigte an, dass Julians Mutter wieder am häuslichen Leben

teilnahm. Dann ließ ihr die Depression ein paar Stunden Kraft, die sie benötigte, um das Bett zu verlassen. Julians Lieblingsplatz war die Eckbank in der Küche, wo er spielte, aber auch die Mutter im Blick behielt. Ihm war, als ob die Mutter verschwindet, sobald er sie aus dem Auge verliert. Der Vater war oft nicht da, verwöhnte Julian aber mit Geschenken und Ausflügen, als müsste er etwas gutmachen. Dafür erwartete er absolute Rücksichtnahme auf die Mutter. Auf lautes Spiel oder einen Trotzanfall reagierte der Vater mit einer Schärfe, die Julian traurig machte: »Wenn du brav wärst, würde es der Mama nicht so schlecht gehen.«

Solche Erfahrungen kann man sich nur vorstellen, wenn man selbst Ähnliches erlebt hat. Trotzdem erahnen viele die innere Not, die einem schweren Schicksal entspringt. Das weckt Mitgefühl und Toleranz. Auf der anderen Seite sind die Probleme, die schwierige Persönlichkeiten verursachen, nicht zu verleugnen. Soll man unter jemandem leiden, nur weil er eine schwere Kindheit hatte, und das womöglich jahrelang?

Was uns schwierige Menschen zumuten

Soll man unter jemandem leiden, nur weil er eine schwere Kindheit hatte, und das womöglich jahrelang?

Schwierige Menschen haben schwere Erfahrungen gemacht, dafür verdienen sie unser Verständnis. Um ihre Ziele zu erreichen, greifen sie allerdings zu Mitteln, die eine kluge Gegenwehr erfordern. Schützen kann sich nur, wer ungute Verhaltensweisen rechtzeitig bemerkt. Zu diesen gehören vor allem Manipulation, das Verletzen zwischenmenschlicher Spielregeln, Verantwortungsflucht und Täuschung.

Manipulation. Unter diesem Begriff lassen sich alle Verhaltensweisen zusammenfassen, die andere auf unfaire Weise beeinflussen: drohen, erpressen, verführen, täuschen, dominieren oder ein schlechtes Gewissen machen. Wer manipuliert wird, lässt geschehen, was er nicht will, oder tut sogar etwas, das er nicht will. Manipulation weckt häufig

ein Gefühl von Angst oder Druck, weil es wirkt, als könnte man sich der Beeinflussung eines anderen nicht entziehen.

Verletzung zwischenmenschlicher Spielregeln. Gute Umgangsformen machen das Zusammenleben angenehm und berechenbar. Wir lassen andere ausreden, informieren sie über Dinge, die sie betreffen, versuchen das Geben und Nehmen in einem fairen Gleichgewicht zu halten und gehen mit den Schwächen anderer rücksichtsvoll um. Schwierige Menschen brechen diese Regeln. Das macht das Miteinander unangenehm und unberechenbar. Manchmal sind schwierige Menschen so mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Spielregeln aus dem Blick verlieren. Manchmal brechen sie Regeln aber auch bewusst. Sie glauben, nur so zu bekommen, was sie brauchen, und sich nur so schützen zu können.

Verantwortungsflucht. Reife Menschen übernehmen Verantwortung für ihre Aufgaben und für das eigene Leben. Sie leisten ihren Beitrag zum Gelingen von Beziehungen und haben im Blick, wie sich ihr Verhalten auf andere auswirkt. Genau das gelingt schwierigen Menschen oft nicht. Sie entziehen sich anstrengenden Aufgaben, auch wenn sie eindeutig in ihren Verantwortungsbereich fallen. Sie gefährden sich manchmal selbst, indem sie ungesund leben, mit den eigenen Kräften Raubbau treiben oder impulsiv handeln. So geraten wohlmeinende Menschen schnell in eine Elternrolle und versuchen schwierigen Menschen zu helfen, besser mit sich selbst umzugehen. Die Beziehungen schwieriger Menschen funktionieren oft nur, solange andere die Verantwortung für das Gelingen der Beziehung übernehmen.

Täuschung. Wieso kommen schwierige Menschen mit ihren Verhaltensweisen überhaupt durch? Sie müssen andere glauben machen, dass ihr Verhalten nicht so schlimm oder sogar notwendig ist. Daher setzen schwierige Menschen immer auch Täuschungen ein. Sie untertreiben und übertreiben. Sie verleugnen unangenehme Tatsachen. Manchmal lügen sie bewusst, oft sind die Täuschungen aber auch subtil. Wenn ein schwieriger Mensch in einer Situation auftritt, als hätte er ein Recht auf eine bestimmte Sache, glauben andere ihm erst einmal. Denn viele Situationen im Leben sind mehrdeutig. Wir haben nicht immer alle Hintergrundinformationen. Auch deshalb fällt eine Täuschung nicht immer auf.

Wer nicht zum Opfer schwieriger Menschen werden will, muss sich etwas einfallen lassen.

Mit Julian habe ich einen Menschen beschrieben, der viele schwierige Verhaltensweisen zeigt. Daher finden wir bei ihm auch alle vier Kategorien schwieriger Verhaltensweisen. Mit seinem grimmigen Auftreten und seinen Wutausbrüchen beeinflusst er seine Kollegen, die in vielen Situationen lieber nachgeben, als sich auf einen Streit einzulassen. Julian hat bei seinem Verhalten keine manipulative Absicht, dennoch ist die Wirkung seines Verhaltens manipulativ. Julian bricht außerdem viele Spielregeln des kollegialen Miteinanders, zum Beispiel jene, die besagen, dass die Geräte der Station jedem Mitarbeiter gleichermaßen zustehen und mal der eine, mal der andere warten muss. Auch die Höflichkeitsregeln lässt Julian fast gänzlich außer Acht. Verantwortung übernimmt Julian nur für seine Routinetätigkeiten, für vieles andere nicht. Die Verantwortung für eine einigermaßen gedeihliche Kollegenbeziehung liegt ganz bei den anderen. Das Auftreten von Julian suggeriert, er verhalte sich ganz angemessen und übernehme im gleichen Maß wie andere Verantwortung. Hierin liegt eine Täuschung.

Auf diesem Hintergrund können wir nun genauer beschreiben, was genau den Umgang mit Julian schwierig macht. Er übt mehr Einfluss aus, als ihm zusteht, und bewirkt das mit unfairen Mitteln. Er bricht viele zwischenmenschliche Spielregeln und entzieht sich in vielem seiner Verantwortung. Über all das täuscht er andere hinweg, sodass Kollegen manchmal an ihrer Wahrnehmung zweifeln. Solche Merkmale zeichnen alle schwierigen Menschen aus.

Die Psychologie schwieriger Menschen

Das einführende Beispiel zeigt die Probleme, vor die uns schwierige Menschen stellen. Auch wenn ihr Verhalten offenkundig unangemessen ist, kann man es oft nicht einfach ändern. Wer nicht zum Opfer schwieriger Menschen werden will, muss sich daher etwas einfallen lassen.

Sozial eingestellte Menschen geraten in ein besonderes Dilemma. Muss man nicht gerade schwierige Zeitgenossen tolerieren, in Schutz nehmen und ihnen helfen? Wo aber liegen die Grenzen der eigenen

Opferbereitschaft? Und selbst wenn man es gut mit schwierigen Menschen meint: Darf man sie einfach gewähren lassen? Ist man ihnen nicht auch Korrektur schuldig?

Solche Fragen bespreche ich immer wieder mit Betroffenen, die unter einem schwierigen Menschen leiden. Die Begegnung führt sie auf eine Gratwanderung zwischen Mitgefühl und Selbstschutz. Ein solcher Weg kostet Kraft, am Ende haben Betroffene aber auch viel gelernt.

In der Regel machen uns aggressive Verhaltensweisen am meisten zu schaffen. Daher gehören die meisten schwierigen Verhaltensweisen, die in diesem Buch beschrieben sind, dieser Kategorie an: Grenzüberschreiter, Blender, Einschüchterer, Abwerter und Rächer. Aber auch Nichtstun kann anderen Probleme bereiten. Deshalb ist auch den Vermeidern ein Kapitel gewidmet. Schließlich befasst sich ein Kapitel mit Menschen, die in Stresssituationen eine kindliche Rolle einnehmen. Weil das andere viel Zeit und Kraft kosten kann, habe ich sie Energieräuber genannt. Hier gebe ich Ihnen einen Überblick, für welche Verhaltensweisen die einzelnen Typen stehen.

Da sind zum einen die Grenzüberschreiter. Sie vereinnahmen andere. Aus ihrer überschwänglichen Umarmung wird schnell ein Schwitzkasten, aus dem man erst entlassen wird, wenn man ihren Wünschen nachgegeben hat.

Dann gibt es die Blender. Sie sind Meister der Selbstdarstellung. Sie vermitteln ein Bild von sich, das andere anzieht und Hoffnungen weckt. Doch wer hinter die Kulisse blickt, entdeckt eine enttäuschende Kehrseite. Was Blender als herausragend verkauft haben, ist in Wahrheit mittelmäßig. Ihre Freundschaft ist nicht so tief, ihre Einsatzbereitschaft nicht so leidenschaftlich, wie wir dachten.

Ein weiterer Typ setzt sich gerne durch. Dazu setzen Einschüchterer eine bedrohliche Körpersprache ein. Sie werden laut. Sie drohen und demonstrieren ihre Macht.

Abwerter dagegen streben eine andere Art der Überlegenheit an. Sie stellen sich auf einen Sockel und urteilen negativ über andere. Ihre niederschmetternden Bemerkungen beschäftigen Betroffene oft lange.

Ein weiterer Typ begleicht offene Rechnungen. Denn Rächer sammeln Groll an, wenn sie sich in ihren Rechten übergangen fühlen. Dann warten sie auf den richtigen Moment. Sie verletzen durch Worte, die wunde Punkte treffen. Durch Tratsch schaden sie dem Ruf anderer. Sie verursachen Pannen, verbummeln wichtige Anliegen und verhindern so, dass ein anderer seine Ziele erreicht.

Auch Vermeider sind erst auf den zweiten Blick als schwierige Menschen zu erkennen. Ihnen erscheint das Leben gefährlich. Sie verweigern sich Aufgaben, die ihnen Angst machen. Aus diesem Grund entziehen sie sich auch manchen Verpflichtungen und enthalten anderen vor, was in Beziehungen selbstverständlich ist. Betroffene fühlen sich von Vermeidern oft im Stich gelassen.

Schließlich gibt es noch die Energieräuber. Diese sind von der Kompliziertheit der Welt überfordert. Die Härte des Lebens setzt ihnen zu, Entscheidungen machen ihnen Angst. Eigentlich bräuchten sie noch eine Mama oder einen Papa, die sie durchs Leben geleiten und ihnen beibringen, wie man Herausforderungen bewältigt. Doch wer sich zu sehr um Energieräuber kümmert, der erschöpft sich.

Vielleicht fragen Sie sich, wie ich auf diese sieben Typen komme. Andere Bücher über schwierige Menschen gehen von den sogenannten Persönlichkeitsstörungen aus, für die es eine gute Forschungsgrundlage gibt. Allerdings sind diese Typen, zum Beispiel narzisstische oder paranoide Persönlichkeitsstörungen, ausgesprochen kompliziert. Selbst Fachleute tun sich schwer, diese Typen zu verstehen, und wenn Sie zwei Fachleute fragen, werden Sie zwei unterschiedliche Antworten erhalten, worum genau es bei einer bestimmten Persönlichkeitsstörung geht. Entsprechend kompliziert wird es bei der Frage, was man denn tun kann, wenn man unter narzisstischem, paranoidem oder anderem Verhalten leidet.

Deshalb bin ich einen anderen Weg gegangen und habe beobachtet, welche Schutzmechanismen für die Probleme verantwortlich sind, die im Umgang mit schwierigen Menschen auftreten. Das sind vor allem die sieben Schutzmechanismen, die ich beschrieben habe. Ich habe sie Stacheln genannt. Denn sie tun anderen zwar weh, trotzdem sind sie nicht böse gemeint. Menschen versuchen nur, sich mithilfe ihrer Stacheln vor den Erfahrungen zu schützen, die sie am meisten fürchten. Diese Schutzmechanismen habe ich mit vielen Fällen, die ich persönlich kenne, und auch mit der Literatur zum Thema abgeglichen. Sieben Stacheln reichen aus, um die schädlichen Verhaltensweisen schwieriger Menschen zu verstehen. Wir können auch mit Komplexität umgehen, wenn zum Beispiel eine narzisstische Persönlichkeit sowohl täuscht (Blenden), Grenzen überschreitet und als emotionaler Vampir an unseren Kräften

Ich habe beobachtet, welche Schutzmechanismen für die Probleme verantwortlich sind, die im Umgang mit schwierigen Menschen auftreten.

zehrt (Energie rauben). Wir reagieren einfach auf das Verhalten, das sich im Augenblick zeigt, mit einer entsprechenden Strategie. In einer Situation müssen wir mit Täuschungen umgehen, in einer andern mit dem Versuch, unsere Grenzen zu überschreiten. Hier können wir den Überblick behalten. Mehr dazu erfahren Sie im Kapitel über kombinierte Persönlichkeiten.

Wie Sie dieses Buch nutzen

Inzwischen haben mehrere Zehntausend Leserinnen und Leser die Stachligen Persönlichkeiten kennengelernt, mehrere Tausend meine Vorträge und Seminare dazu besucht und nicht zuletzt habe ich weit über hundert Betroffene im Umgang mit schwierigen Menschen persönlich begleitet. Die Sichtweisen und Strategien der Stachligen Persönlichkeiten funktionieren gut, auch wenn man in extremen Fällen eine persönliche Begleitung braucht. Vor allem, wenn man zu spät bemerkt, wie schädlich eine Beziehung ist, machen die eigenen Nerven nicht mehr mit. Die beste Strategie hilft nicht mehr, wenn das Gehirn in den Panikmodus schaltet. Dann braucht man einen Schutzraum, in dem man wieder zu sich selbst und zu der eigenen Widerstandsfähigkeit finden kann. Beim nächsten schwierigen Menschen ist man allerdings besser gewappnet. Man erkennt viel früher, dass etwas nicht gut läuft, und kennt Möglichkeiten, wie man sich schützen und der Beziehung dennoch eine Chance geben kann. Vielleicht kann Ihr Mitfühlen mit den Charakteren dieses Buches sogar etwas Ähnliches leisten. Denn alle Fallbeispiele sind zwar anonymisiert, aber echt. Indem Sie ein wenig von dem Leid und dem Schrecken anderer fühlen, bauen sich in Ihnen erste Widerstandskräfte auf.

Vielleicht leiden Sie gerade unter einem schwierigen Menschen. Dann haben Sie sicher schon einen Verdacht, welcher Typ Ihnen zu schaffen macht. Springen Sie dann einfach gleich in das entsprechende Kapitel.

Keine Angst vor schwierigen Menschen

• »Jahrelang hat mir mein schwieriger Kollege zu schaffen gemacht. Seit ich Ihr Buch gelesen habe, kann ich mit ihm umgehen.«

• »Seit ich erkannt habe, dass meine Schwester eine Blenderin ist, erwarte ich nicht mehr, was sie mir nicht geben kann. Es ist immer noch traurig, aber ich bin freier geworden und denke nicht mehr so oft über sie nach.«

In den letzten zehn Jahren habe ich viele Rückmeldungen wie diese bekommen. Ich freue mich über alle, die sich von Belastungen einer schwierigen Beziehung befreien.

Vielleicht wollen Sie irgendwann einmal das, was Sie in diesem Buch entdecken, in einem Literatur- oder Gesprächskreis, in ihrer Kirchengemeinde oder einer beruflichen Fortbildung weitergeben. Dazu stelle ich Ihnen gerne eine Präsentation zum Thema »Stachlige Persönlichkeiten« zur Verfügung. Mailen Sie mir dazu einfach. Wenn Sie mögen, tragen Sie sich auch in den Stachel-Newsletter ein (www.stacheln.com/ newsletter). Alle sechs bis acht Wochen erhalten Sie dann eine kleine Auffrischung und Informationen zu neuen Entwicklungen.

Nun wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre und positive, befreiende Erfahrung mit »Ihren« schwierigen Menschen. Wie übrigens der Altenpfleger Julian einzuschätzen ist und wie sein Team reagiert, werden Sie noch erfahren.

Grenzüberschreiter

Grenzüberschreiter gehen zu weit. Sie wollen über Sie bestimmen und drängen Sie, Dinge zu tun, die Sie gar nicht tun wollen. Sie reden in Ihre Entscheidungen hinein und reagieren gekränkt, wenn Sie sich nicht beeinflussen lassen. Manche Grenzüberschreiter bedienen sich sogar an Ihrem Eigentum. Sie setzen einfach voraus, dass Sie damit einverstanden sind. Das geschieht mitunter liebenswürdig, sodass man sich gar nicht wehrt.

Wo liegt das Problem? In unserem Zusammenleben gibt es Gren-

zen. Es gibt einen Unterschied zwischen Mein und Dein, zwischen meinem Verantwortungsbereich und dem von anderen. Es gibt eine Privatsphäre, die nur die betreten dürfen, die ich dazu einlade. Wer ungebeten kommt, überschreitet Grenzen. Das engt ein und man fühlt sich seiner Freiheit beraubt. Genau diese Erfahrung muten uns Grenzüberschreiter zu. Unser Wohlbefinden hängt davon ab, ob andere unsere Grenzen wahren. Auch im Beruf kommt man in Not, wenn ein anderer häufig versucht, über einen zu bestimmen. Die Probleme mit Grenzüberschreitern entstehen oft in einem schleichenden Prozess, wie das folgende Fallbeispiel zeigt.

Adrian ist mit seiner Familie in das benachbarte Reihenhaus eingezogen. Schon kurz darauf fragt er, ob er sich den Rasenmäher ausleihen darf. Später bittet er die Nachbarn, für zwei Tage seine Katzen zu füttern. Adrian ist seinerseits großzügig. Er reicht Grillwürstchen über den Zaun und stellt die Mülltonne von Vera und Mark gleich mit auf die Straße. Als Adrian aber um ihr Auto bittet – seines sei in der Werkstatt und die Tochter müsse dringend zum Arzt –, wird es Mark zu viel. »Ich habe heute einen wichtigen Termin«, behauptet Mark und schämt sich im gleichen Moment für die Notlüge. Warum kann er Adrian nicht einfach offen sagen, dass er jemandem, den er kaum kennt, sein Auto nicht leihen will? Vera und Mark fühlen sich überhaupt nicht mehr wohl. Trotzdem können sie nicht recht greifen, was sie eigentlich stört.

Grenzüberschreiter leben in einer Welt ohne Zäune und Türen. Deshalb verfügen sie über die Zeit, die Mittel und Möglichkeiten anderer, als wären es die eigenen. Sie erleben es als Ablehnung, wenn sich andere abgrenzen, statt sich gegenseitiger Hilfe, persönlichem Austausch und positiver Beeinflussung zu öffnen. Betrachten wir die Welt noch einen Augenblick durch die Brille von Grenzüberschreitern. Sobald andere Grenzen setzen, fügen sie ihnen etwas Ähnliches zu wie Mobber ihren Opfern: Sie grenzen die Betroffenen aus. Sie schließen sie von Entscheidungsprozessen aus, sie entziehen ihnen den Zugang zu Ressourcen. »Moment mal«, werden

Sie einwenden, wenn Sie im Kontakt mit einem Grenzüberschreiter stehen. »Aber es geht doch um meine Privatsphäre, meine Entscheidungen und mein Eigentum!« Aber wer bestimmt denn, was Sie für sich allein beanspruchen dürfen? Das ist Definitionssache. Grenzüberschreiter definieren den gemeinsamen Bereich sehr weit und erleben die Abgrenzung anderer daher als eine Art Mobbing. Sie fühlen sich zurückgewiesen, ausgegrenzt und um das betrogen, was für sie selbstverständlich ist. Diese Erfahrung haben sie häufig gemacht und sie haben deshalb gelernt, ihre angeblichen Rechte zu schützen – durch Ausdauer, geschickte Überredung und Selbstbehauptungsstrategien, die es jedem ungemütlich machen, der sie vermeintlich ausgrenzt. Zu ihren Strategien gehören zum Beispiel:

• den anderen unterbrechen;

• sich mehr Redezeit nehmen als die anderen;

• ein Nein ignorieren;

• Entscheidungen treffen, ohne den anderen zu fragen, den es auch betrifft;

• keinen Kompromiss eingehen, in der Hoffnung, dass sich der andere dann irgendwann fügt;

• so tun, als hätte jemand sein Einverständnis schon gegeben;

• nach den Gründen für ein Nein fragen, um die Gründe dann sofort in Zweifel zu ziehen;

• dem anderen durch eine beleidigte Reaktion ein schlechtes Gewissen machen (in der Hoffnung, dass jemand dann doch noch nachgibt).

Wie Sie Grenzüberschreiter realistisch sehen

Grenzüberschreiter sind beziehungsorientierte Persönlichkeiten, die ein starkes Gemeinschaftsgefühl haben. Sie leisten dort am meisten, wo Einmischung notwendig ist, zum Beispiel in der Kleinkinderziehung. Kinder von Grenzüberschreitern berichten oft, dass sie eine innige, harmonische Kindheit hatten. Erst in der Pubertät sind schwere Konflikte ausgebrochen, wenn Kinder das Recht auf eigene Entscheidungen und eine Privatsphäre in Anspruch genommen haben. In sozialen Berufen sind Grenzüberschreiter mit ihrer Energie, Dinge für

Grenzüberschreiter leben in einer Welt ohne Zäune und Türen.

andere zu regeln, oft hilfreich. Dass sie hier und da zu weit gehen, nehmen Menschen oft dankbar in Kauf. Auch im Vertrieb oder wo Dinge zu kontrollieren sind, können sich Grenzüberschreiter bewähren. Allerdings besteht dort immer das Risiko, dass schwere Konflikte aufbrechen, dann nämlich, wenn sich jemand gegen die dominanten Seiten von Grenzüberschreitern zu wehren beginnt. Schulgründungen, Bürgerinitiativen oder Hilfswerke sind nicht denkbar ohne die Energie von Grenzüberschreitern, die andere motivieren, für eine gute Sache auch einmal über die eigenen Grenzen hinauszuwachsen.

Doch auch wenn es jahrelang gut geht: Früher oder später setzen grenzüberschreitende Menschen einen Machtkampf in Gang, der sich hochschaukelt. Manchmal unterliegen sie dann und werden ausgegrenzt. Kluge Grenzüberschreiter halten aber so lange durch, bis andere aufgeben. Überfordert von den ständigen Kämpfen räumen andere schließlich das Feld. Viele Versetzungen, Kündigungen, Vereins- und Kirchenaustritte sind Grenzüberschreitern geschuldet. Die nahen Bezugspersonen von Grenzüberschreitern leiden oft unter psychosomatischen oder depressiven Beschwerden. Manche passen sich an und schrumpfen zu einer kindlich-abhängigen Persönlichkeit. Sie erleben dadurch eine harmonische Beziehung zu Grenzüberschreitern. Danach brauchen Betroffene aber oft professionelle Hilfe, um wieder zu sich selbst zu finden.

Verhängnisvollerweise bringen sich Grenzüberschreiter am liebsten dort ein, wo intensive Zusammenarbeit gefragt ist, zum Beispiel in Teams, größeren Unternehmen und Vereinen. Gleichzeitig schätzen sie den Einfluss, den Menschen in Führungspositionen oder als Ausbilder haben. Damit tauchen Grenzüberschreiter genau da auf, wo Machtkämpfe den größten Schaden anrichten.

Von manchen Grenzüberschreitern geht anfangs eine große Freundlichkeit aus. Sie verlocken mit ihrem Engagement und ihren guten Umgangsformen. Sie stecken andere an mit ihrer Sehnsucht nach Harmonie, großzügiger Gemeinschaft und einem Leben ohne geschlossene Türen. Erst nach und nach entdecken Betroffene, wie sie ihre Entscheidungsfreiheit und Privatsphäre verlieren.

Folgende Frühwarnzeichen weisen auf die falsche, unrealistische Harmonie hin, die das Beziehungsangebot von Grenzüberschreitern ausmacht:

• Grenzüberschreiter überspringen ein Kennenlernen und einen Vertrauensaufbau. Sie stellen sofort Nähe her. Sie erwarten sofortige Offenheit.

• Grenzüberschreiter gehen davon aus, dass Sie die Dinge genauso sehen wie sie und die gleichen Ziele haben.

• Grenzüberschreiter können nicht bitten in dem Sinne, dass sie auch für ein Nein offen sind. Sie setzen Ihr Einverständnis einfach voraus.

Natürlich haben Grenzüberschreiter das gleiche Recht auf Offenheit, Hilfsbereitschaft und Kooperation wie alle anderen Menschen, aber eben zu den gleichen Bedingungen wie alle anderen: Achtung vor der Privatsphäre, dem Eigentum, der Selbstbestimmung, den Sichtweisen, Zielen und Wünschen anderer und schließlich der Bereitschaft, Interessenskonflikte auf faire Weise auszutragen. Wer diese Voraussetzungen nicht mitbringt, darf auch keine Nähe, Offenheit und Kooperation erwarten.

Wo Nächstenliebe ansetzen kann

So richtig sympathisch dürften Ihnen Grenzüberschreiter nach dieser Einführung nicht vorkommen. Wir beleuchten hier ja deren dunkle Seiten. Von diesen abgesehen können sie wunderbare Menschen sein. Wie können wir einen Zugang zu diesen positiven Seiten finden? Alles beginnt damit, dass man den wunden Punkt erahnt, der hinter den Grenzüberschreitungen steht. In der Lebensgeschichte von Grenzüberschreitern findet sich oft die Erfahrung, um die eigenen Rechte betrogen worden zu sein. Das Bedürfnis danach, wahrgenommen zu werden, Bedürfnisse gestillt zu bekommen, ein Recht auf Schutz, Wohlbefinden, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung, all das ist oft in traumatischer Weise verletzt worden. Ich höre das und denke: »Wie konnte das ein Kind überhaupt ertragen? Kein Wunder, dass sich eine Person heute so übertrieben behauptet und lieber bestimmen will, als sich bestimmen zu lassen.«

Auch wenn wir uns gegen die Grenzüberschreitungen wehren müssen, können wir dies in einer Haltung von Wertschätzung und Respekt tun, die wie eine Salbe auf die Kindheitswunde wirkt. Wenn wir die Gefahr früh erkennen und rechtzeitig Grenzen setzen, kann alles gelassener und sanfter geschehen. Denn wenn wir Grenzüberschreitungen erst zulassen und uns dann abrupt verschließen oder wütend Grenzen setzen, tragen wir zu einer Eskalation bei. Grenzüberschreiter erleben das als Missachtung ihrer Interessen. Sie rüsten sich zum Kampf.

Wenn wir respektvoll bleiben und auf berechtigte Interessen eingehen, kann ein Miteinander vielleicht doch gelingen – obwohl wir unsere Grenzen verteidigen. Nächstenliebe heißt dann:

• kleinere Grenzüberschreitungen akzeptieren, wegen derer sich eine Auseinandersetzung nicht lohnt;

• annehmen, dass eine Person nicht von sich aus Grenzen wahren kann, sondern unsere Hilfe dabei braucht;

• wertschätzend, respektvoll und unterstützend bleiben, obwohl es eine Person vielleicht nicht verdient.

Beachten Sie, dass in dieser Aufzählung weder Freundschaft noch emotionale Nähe vorkommen. Dazu verpflichten auch eine soziale Einstellung oder Nächstenliebe nicht. Nahekommen darf uns nur, in dessen Gegenwart wir uns wohl und sicher fühlen. Und das trifft auf manche Menschen leider nicht zu.

Grenzüberschreiter befrieden

In manchen Fällen steht es in unserer Macht, die Grenzen so zu setzen, wie wir es wollen, besonders wenn es um unser Eigentum, unsere Entscheidungen, unsere Verantwortungsbereiche und unsere Zeit geht. Dann geht es im Wesentlichen um die Kunst des Neinsagens. Sie geht taktvoll vor. Gleichzeitig bietet sie möglichst wenig Angriffsfläche für Verhandlungen. Hier ein paar Tipps dafür:

• Auch wenn Ihr Zorn berechtigt ist, sollten Sie ruhig und freundlich bleiben. Grenzüberschreiter sind sehr sensibel dafür, ob Sie die Umgangsformen wahren.

• Machen Sie Ihr Nein mit Ihrer Körpersprache glaubwürdig: durch einen direkten Blickkontakt, eine feste Stimme, eine aufrechte Körperhaltung.

• Wenn möglich, bieten Sie eine Alternative an. Das kann sich so anhören: »Zu der Besprechung kann ich in dieser Woche nicht kommen, ich werde aber das Protokoll gründlich lesen.« Oder: »Was meinen Kleidungsstil angeht, entscheide ich lieber selbst. Ich würde mich aber freuen, wenn ich dich um Rat fragen dürfte, wenn es ums Kochen geht.«

• Manchmal mildert es ein Nein, wenn man um eine kurze Bedenkzeit bittet. Das zeigt, dass Sie den Wunsch des Grenzüberschreiters ernst nehmen. Außerdem gewinnen Sie Zeit, um über eine Begründung nachzudenken. Danach wählen Sie einen Kommunikationsweg, der Ihnen am angenehmsten ist: die persönliche Begegnung, ein Anruf, eine E-Mail oder eine Textnachricht.

Oft ist es aber mit einem Nein nicht getan. Ein Nein ist eher wie der Aufschlag beim Tennis, der den Ball ins Spiel bringt. Grenzüberschreiter sind hartnäckig und einfallsreich, wenn es darum geht, ein Nein auszuhebeln. Manchmal reagieren sie auf ein Nein, als hätten sie es gar nicht ehört. Kurze Zeit später versuchen sie genau das zu erreichen, was andere gerade abgelehnt haben, so als wäre das Nein nie ausgesprochen worden. Das kann wütend machen oder bedrohlich wirken. Am besten hilft dann eine Gelassenheit weiter, wie man sie gegenüber Schwerhörigen zeigt: die Dinge einfach wiederholen – deutlich, aber bemüht, trotzdem freundlich zu klingen. Man lässt die Wiederholung beiläufig klingen und variiert sie ein wenig, dann wirkt sie wie ein normaler Fortgang des Gesprächs.

Manchmal reagieren Grenzüberschreiter auch mit einem ungläubigen Schweigen oder dem Ausdruck großer Überraschung, wenn sie ein Nein hören. Damit rufen sie bei anderen einen Drang hervor, sich zu erklären, der stark werden kann wie ein Juckreiz. Eine Erklärung macht aus dem Nein allerdings eine verhandelbare Sache, Grenzüberschreiter sind hartnäckig und einfallsreich, wenn es darum geht, ein Nein auszuhebeln.

deren Für und Wider man gemeinsam diskutieren kann. Den Ballwechsel gewinnt daher nur, wer rechtzeitig einen Schlusspunkt setzt: »Ja, so weit dazu.« – »Kann ich sonst etwas für Sie tun?« – »Ich räume jetzt noch den Tisch ab.«

Wer ausdauernd und taktvoll Nein sagen kann, kommt mit Grenzüberschreitern oft gut zurecht.

Besonders schwer kann es werden, mit einem plötzlichen Stimmungswechsel umzugehen. Grenzüberschreiter reagieren auf ein Nein manchmal gekränkt, beleidigt, brüskiert, empört oder sogar feindselig, was sich in ihrer Körpersprache und entsprechenden Kommentaren zeigt. In der Welt der Grenzüberschreiter bedeutet ein Nein unter Umständen eine Ausgrenzung, eine persönliche Zurückweisung oder Benachteiligung. Angesichts solcher Reaktionen kann man sich böse oder schuldig fühlen. Viele Menschen reagieren darauf, indem sie ihr Nein abmildern oder sogar ganz zurücknehmen. Angemessen ist stattdessen ein kurzer, mitfühlender Blick wie der eines Arztes, der seinem Patienten einen Schmerz zufügen muss. Nach einem körpersprachlichen Zeichen von Mitgefühl können Sie zu etwas anderem übergehen.

Wer ausdauernd und taktvoll Nein sagen kann, kommt mit Grenzüberschreitern oft gut zurecht. Wenn man von einem Grenzüberschreiter abhängig ist, wird es allerdings schwierig.

Wenn Grenzüberschreiter Macht haben

Grenzüberschreiter nehmen sich mehr Einfluss, als ihnen zusteht. Wenn Sie tatsächlich Dinge entscheiden dürfen, zum Beispiel als Vorgesetzte oder Vermieter, entstehen die schwierigsten Situationen. Folgendes Beispiel illustriert dies.

Sabrinas Einstieg als Leiterin eines Kindergartens wirkt vielversprechend. Sie bietet allen im Team das Du an. Sie sorgt für Tee und Gebäck. Doch bald verändern sich die Besprechungen. Sie ziehen sich in die Länge und drehen sich fast nur noch um Sabrinas Anliegen. Wenn die ausführlich besprochen sind, bleibt

für die Themen der Kolleginnen keine Zeit mehr. Deshalb schlägt Dorothee vor, eine Tagesordnung einzuführen und zu Beginn die Besprechungspunkte zu sammeln. Darauf lässt sich Sabrina ein, versteht es aber, ihre Punkte nach vorne zu ziehen: »Darauf muss ich leider bestehen, weil die Zeit drängt.« Oft geben die Kolleginnen schon deshalb nach, weil sie nicht wieder zu spät in ihre Gruppen kommen wollen. Viele Entscheidungen, die die Erzieherinnen bisher selbstständig getroffen haben, zieht Sabrina an sich. Sie findet fast immer eine Vorschrift, mit der sie dies begründen kann. Sabrina belehrt die Kolleginnen, wie sie sich im Herbst vor Infekten schützen können und welchen Einfluss es auf die Kinder hat, wenn Erzieherinnen Markenkleidung tragen. Einmal verliert Dorothee die Selbstbeherrschung: »Jetzt hör doch auf, mich zu erziehen. Ich bin ein erwachsener Mensch und eine ausgebildete Fachkraft.« »Wie redest du denn mit mir?«, kontert Sabrina ruhig, aber streng. »Wir wollen respektvoll miteinander umgehen. Ich erziehe niemanden. Ich achte nur auf einige Dinge, die es braucht, damit es hier gut läuft.« Dorothee bringt eine entschuldigende Erklärung hervor und räumt das Feld. Es kommt ihr so vor, als ob Sabrina nun in ihrer Gruppe häufiger nach dem Rechten schaut.

Wo Grenzüberschreiter Macht haben, können die Zusammenarbeit oder das Zusammenleben zum Albtraum werden. Betroffene entwickeln Angststörungen, Depressionen oder Burn-out-Zustände. Doch selbst wenn man von einem Grenzüberschreiter abhängig ist, gibt es Strategien, die eine Grenzziehung ermöglichen. Dazu müssen wir wissen: Grenzüberschreiter leben mit dem chronischen Gefühl, dass ihnen Unrecht geschieht oder zumindest droht. Deshalb schätzen sie Regeln, Gesetze und Autorität. Auch der Gedanke von Gerechtigkeit und Gleichbehandlung zieht Grenzüberschreiter an. Einem grenzverletzenden Vermieter könnte man einen Auszug aus dem Miet-

Grenzüberschreiter leben mit einem chronischen Gefühl, dass ihnen Unrecht geschieht oder droht.

recht vorlegen. Dabei darf man nicht den Eindruck erwecken, ein Gesetz als Machtmittel zu missbrauchen. Vielmehr wird das Gesetz wie ein fairer Schiedsrichter angerufen: »Ich habe mir Gedanken gemacht, wie wir diese Sache fair regeln können. Dazu habe ich in das Mietrecht hineingelesen und ich glaube, dass da ein fairer Interessensausgleich gelungen ist.«

Im Arbeitsleben können Sie sich auf fachliche Autoritäten, Dienstanweisungen oder Unternehmensgrundsätze berufen. Nicht jedem macht es Freude, sich in Regelwerke, Leitbilder, Vorschriften oder Gesetze einzulesen. Aber im Umgang mit Grenzüberschreitern gilt auf besondere Weise: Wissen ist Macht.

Wer Glück hat, findet eine Autorität, die dem Grenzüberschreiter übergeordnet ist. Im Fall von Sabrina fanden die Erzieherinnen einen Rückhalt beim Träger des Kindergartens. Sie dokumentierten die Grenzüberschreitungen und trugen sie auf eine höhere Ebene. Der Träger nahm Gespräche mit Sabrina auf. Als sich dennoch nichts änderte, drängte dieser auf den Vorruhestand von Sabrina, in den sie schließlich einwilligte. Dieses Ergebnis war einerseits erleichternd, andererseits auch traurig. Denn Sabrina war eine Chefin, die ihre Aufgaben engagiert und kompetent erledigte. Aus diesem Grund kann man sich auch nicht sicher sein, dass eine höhere Ebene in den Grenzüberschreitungen ein Problem sieht. Dann kann man mit den Strategien dieses Kapitels vielleicht einen erträglichen Zustand herstellen und die berufliche Zufriedenheit aus Dingen ziehen, die gut sind. Manchmal sichern die Strategien gegen Grenzüberschreitungen nur das emotionale Überleben, bis eine berufliche Veränderung möglich wird. Die Erleichterung, von der Betroffene berichten, die sich von einem Grenzüberschreiter befreit haben, gleicht einem ungeahnten Glück.

Wo jede Toleranz endet

Wie schon erwähnt, setzen sich Grenzüberschreiter über Wünsche und Rechte ihrer Mitmenschen hinweg:

• Sie verwenden das Eigentum anderer, ohne zu fragen.

• Über gemeinsame Ressourcen verfügen sie, als ob sie ihnen allein gehören würden.

• Sie treffen Entscheidungen, mit denen sie in die Zeitplanung und Verantwortungsbereiche anderer eingreifen.

• Sie verschaffen sich manchmal sogar Zugang zu Informationen, indem sie fremde Unterlagen, Post, Kalender, Dateien, E-Mails oder Handys einsehen.

Wer Grenzüberschreiter deswegen zur Rede stellt, stößt selten auf Schuldbewusstsein. Stattdessen spielen sie ihr Verhalten herunter. Sie finden Gründe, die es rechtfertigen. Es bleibt nichts, als Anreize zu setzen, die mehr wiegen als der Gewinn der Grenzüberschreitung. Das ermöglicht eine Kommunikationsstrategie, die im Therapeutenjargon »empathische Konfrontation« heißt:

»Wenn Sie meine Unterlagen lesen, ohne mich vorher zu fragen, dann erlebe ich das als Eindringen in meinen persönlichen Bereich. Ich spüre dann den Wunsch, alles unter Verschluss zu halten, was Sie interessieren könnte. Aber das wollen wir doch beide nicht. Grundsätzlich teile ich gerne Informationen mit Ihnen.«

Im Privatleben kann eine empathische Konfrontation so klingen:

»Ich bin dir sehr dankbar, dass ich dir die Kinder gelegentlich bringen kann. Aber wenn du erlaubst, was ich ihnen verbiete, macht mir das die Erziehung schwerer und ich bringe die Kinder mit einem unguten Gefühl zu dir. Das wäre doch schade.«

Die empathische Konfrontation weist auf negative Folgen hin, die für den Grenzüberschreiter bedeutsam sind. Die natürliche Konsequenz von Grenzüberschreitungen besteht in einer verstärkten Abgrenzung: Informationen unter Verschluss halten oder die Enkel seltener bringen. Genau das wäre aber die Beziehungserfahrung, die Grenzüberschreiter fürchten. An diesem wunden Punkt kann man sie oft packen. Das gelingt umso besser, je mehr man das Interesse an einer guten Beziehung oder Zusammenarbeit ausdrückt. Wer Grenzüberschreitern etwas Gutes tun will, schenkt ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit und kommt ihren Interessen von sich aus entgegen. Wie im Umgang mit allen schwierigen Menschen fallen dabei Mitgefühl und Eigennutz zusam-

men: Wer die Angst vor Ausgrenzung beruhigt, verringert grenzverletzendes Verhalten. Im Idealfall verwandelt sich ein Grenzüberschreiter in einen treuen Verbündeten, der für eine gute Sache kämpft.

Fast alle Grenzüberschreiter beanspruchen übermäßig viel

Redezeit, sei es in Teamsitzungen oder in privaten Gesprächen.

Doch auch wenn sich die Beziehung entspannt, wird es immer wieder Grenzüberschreitungen geben. Gegen sie hilft eine Selbstbehauptungsstrategie, die sanft, aber wirksam ist. Diese besteht ganz einfach darin, selbstsicher und ausdauernd auf dem eigenen Recht zu beharren. Dies lässt sich gut an folgendem Problem demonstrieren. Fast alle Grenzüberschreiter beanspruchen übermäßig viel Redezeit, sei es in Teamsitzungen oder in privaten Gesprächen. Gerade zurückhaltenden Menschen fällt es schwer, den Konflikt um Redezeit offen auszutragen. Dann eröffnen Höflichkeit und Respekt einen Spielraum, in dem man sich auch ausdauernd behaupten kann:

• »Darf ich meinen Gedanken noch zu Ende führen?«

• »Entschuldigung, ich war noch nicht ganz fertig. Ich möchte noch …«

• »Verzeihen Sie, wenn ich unterbreche. Ihre Informationen sind sehr hilfreich. Uns bleiben aber heute nur noch zwanzig Minuten. Diese Zeit möchte ich noch für das Thema … nutzen.«

• »Bitte lassen Sie mir noch etwas Raum für diesen wichtigen Punkt.«

• »Entschuldigung, ich habe Ihnen nun aufmerksam zugehört und werde Ihr Anliegen so gut unterstützen, wie ich es kann. Jetzt habe ich aber auch das Recht, den folgenden Punkt anzusprechen, der in meinem Verantwortungsbereich liegt.«

Variationen dieser Sätze können Sie so lange wie nötig fortführen. Mit ein wenig Übung kann man auf diese Weise ausdauernd für sein Recht eintreten. Auch das stärkste Mitteilungsbedürfnis kommt nicht gegen eine Grenze an, die so beharrlich verteidigt wird. Dann öffnet sich –endlich! – ein Raum für das eigene Anliegen. Auch andere Rechte lassen sich mit dieser Selbstbehauptungsstrategie durchsetzen.

Leben und leben lassen

Grenzüberschreiter fürchten, um ihre Rechte betrogen zu werden.

Manche fühlen sich auch schnell ausgeschlossen. Aus dieser Angst beginnen Grenzüberschreiter einen Präventivkrieg. Sie sichern sich den Zugriff auf Mittel und Informationen. Sie kämpfen um Redezeit und Einfluss. Nähe und Offenheit versuchen sie zu erzwingen. Überkompensation nennen Psychologen ein Verhalten, das aus Angst über das Ziel hinausschießt.

Wer Grenzüberschreitern etwas Gutes tun will, schenkt ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit und kommt ihren Interessen von sich aus entgegen.

Wer Grenzüberschreitern etwas Gutes tun will, schenkt ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit und kommt ihren Interessen von sich aus entgegen. Wie bei allen schwierigen Menschen fallen dabei Mitgefühl und Eigennutz zusammen: Wer die Angst vor Ausgrenzung beruhigt, verringert grenzverletzendes Verhalten. Im Idealfall verwandelt sich ein Grenzüberschreiter in einen treuen Verbündeten, der einem auch mal die Kartoffeln aus dem Feuer holt.

Folgende Investitionen machen Grenzüberschreitern das Leben leichter: Respekt und Höflichkeit, Loyalität und Zeichen der Zugehörigkeit.

Respekt und Höflichkeit. Grenzüberschreiter sind sensibel für den Respekt, den gute Manieren ausdrücken. Darüber hinaus bemerken sie jedes Zeichen der Missachtung. Daher sollte man sich im Umgang mit ihnen die Benimmregeln in Erinnerung rufen. Oft geht es dabei um Kleinigkeiten wie Aufstehen bei der Begrüßung, die höfliche Form einer Bitte, korrekte Titel und Funktionsbezeichnungen, die Aufmerksamkeit für Geburtstage und dergleichen. Idealerweise entspricht die innere Haltung dem höflichen Verhalten: »Ich respektiere und achte dich. Das drückt sich darin aus, wie ich mit dir umgehe.« Das fällt natürlich umso schwerer, je mehr ein Grenzüberschreiter selbst die Regeln der Höflichkeit bricht. Genau hier liegt aber der Grund, warum viele Menschen mit Grenz-

Grenzüberschreiter fürchten, um ihre Rechte betrogen zu werden.

überschreitern nicht gut auskommen. Sie steigen in einen Kreislauf negativer Verhaltensweisen ein, indem die zwischenmenschlichen Spielregeln immer mehr außer Kraft gesetzt werden. Deshalb ist es hier klüger, Böses mit Gutem zu überwinden und so die Angst vor Missachtung zu besänftigen, die Grenzüberschreiter umtreibt.

Im Idealfall verwandelt sich ein Grenzüberschreiter in einen treuen Verbündeten, der einem auch mal die Kartoffeln aus dem Feuer holt.

Loyalität. Nachbarschaft, berufliche Zusammenarbeit oder Familienzusammengehörigkeit führen in eine Verbindung, der man treu bleiben oder untreu werden kann. Wozu eine Verbindung verpflichtet, ist unterschiedlich. Meist geht es um Verpflichtungen wie diese: nicht schlecht über den anderen reden; den anderen in Schutz nehmen, wenn er einer unfairen Behandlung ausgesetzt ist; die Interessen des anderen berücksichtigen, auch wenn er nicht persönlich anwesend ist; dem anderen Informationen zuleiten, die für ihn wichtig sind; den anderen in Entscheidungen einbeziehen, die ihn betreffen. Grenzüberschreiter setzen in den meisten Gruppen eine Dynamik in Gang, durch die sie die Loyalität anderer verlieren, weil sie eine übertriebene und unrealistische Treue erwarten. Umso mehr Pluspunkte können Sie sammeln, wenn Sie weiterhin loyal bleiben.

Zeichen der Zugehörigkeit. Neben Respekt und Loyalität ist es vor allem ein Gefühl der Zugehörigkeit, das Grenzüberschreiter entspannt. Wer das Gefühl hat, seinen Lebensraum verteidigen zu müssen, freut sich über jedes Zeichen der Daseinsberechtigung: eine Einladung zum gemeinsamen Essen oder zu gemeinsamen Unternehmungen, eine Information über aktuelle Dinge, eine Erkundigung nach dem persönlichen Befinden, nach Wünschen oder Tagesordnungspunkten gefragt werden oder E-Mails erhalten. Zu solchen Gesten muss man sich unter Umständen überwinden. Denn was jemand zu erzwingen versucht, mag man ihm nicht mehr freiwillig geben.

Ein weiterer Hinderungsgrund für freundliche Gesten besteht in der Erfahrung: Wenn ich einem Grenzüberschreiter den kleinen Finger reiche, nimmt er gleich die ganze Hand. Deshalb kann es hilfreich sein,

schon eine Einladung mit einer behutsamen Grenze zu verbinden: »Klaus, ich würde mich freuen, wenn du am Montag dein neues Vertriebsmodell vorstellst. Wir haben aber einen straffen Zeitplan, sodass ich dich nach 15 Minuten unterbrechen muss. Sei mir dann bitte nicht böse. Das muss ich bei jedem anderen auch tun, wenn er überzieht.«

Wenn ich einem Grenzüberschreiter den kleinen Finger reiche, nimmt er gleich die ganze Hand.

Wenn Sie einmal auf einen Grenzüberschreiter stoßen, werden Sie die Erfahrung machen: Je sicherer Sie darin werden, sich taktvoll abzugrenzen, umso natürlicher und offener können Sie mit Grenzverletzern umgehen. Damit kehrt sich ein negativer Kreislauf von Grenzüberschreitungen und Ausgrenzung um. Erfahrungen der Zugehörigkeit machen Grenzüberschreiter umgänglicher und ermöglichen mehr Offenheit. Die Umkehr eines solchen Kreislaufes kostet allerdings Ausdauer und gute Nerven.

Annehmen, was nicht zu ändern ist

Manchmal kommt man überraschend gut mit ihnen aus, wenn man die richtigen Strategien einsetzt, manchmal rauben einem Grenzüberschreiter den letzten Nerv. Es liegt auch daran, unter welchen Umständen man einem Grenzüberschreiter begegnet und wie viel positive Macht man hat. Im ungünstigen Fall gelingt es vielleicht, dass wir unsere Grenzen schützen, trotzdem sind die Auseinandersetzungen nervenaufreibend. Dann stellen sich Symptome wie Schlafstörungen, Unruhe, Grübeln und sogar depressive Beschwerden ein.

Bei allen Möglichkeiten, die ich aufgezeigt habe, darf man es sich natürlich auch eingestehen, wenn einen der Umgang mit einem Grenzüberschreiter überfordert. In privaten Beziehungen kann man sich in eine längere Beziehungspause retten oder die Beziehung auf einen oberflächlichen Kontakt begrenzen. Wenn man sich dabei erklären muss, ist es meist klug, dem Grenzüberschreiter keine Vorwürfe zu machen. Entwaffnende Ehrlichkeit führt am schnellsten zu einem friedlichen Abstand, zum Beispiel mit einer Formulierung wie der folgenden: »Ich komme mit manchen deiner Verhaltensweisen nicht

klar, aber das ist mein Problem. Vielleicht habe ich da wunde Punkte, vielleicht fehlen mir in manchem die Stärke und Gelassenheit. Deshalb möchte ich mich für eine Zeit aus unserer Beziehung zurückziehen. Ich hoffe, ich entwickle mich so weiter, dass es eines Tages besser geht.« Wenn es irgend geht, vermeidet man aber besser, sich zu erklären.

Denn das könnte Grenzüberschreiter zu einem Kampf darum reizen, Sie an Ihrem Rückzug zu hindern und zu beweisen, dass man mit ihnen doch klarkommen kann.

Im beruflichen Bereich dauert die Distanzierung oft länger. Manchmal lassen sich aber die Weichen so stellen, dass die Berührungspunkte mit einem Grenzüberschreiter abnehmen. Mittelfristig ist es in vielen beruflichen Bereichen möglich, sich um eine Versetzung zu bemühen. Im Notfall kann eine Krankschreibung einen sofortigen Abstand schaffen. Die unfreiwilligen Kämpfe erzeugen oft genug psychosomatische Symptome, die eine Krankschreibung rechtfertigen. Umgekehrt kann, wer die Macht dazu hat, einen Grenzüberschreiter natürlich auch entlassen oder auf eine andere Stelle versetzen. Einen solchen Schritt sollte man allerdings sorgfältig vorbereiten. Viele Grenzüberschreiter wehren sich gegen solche Trennungen, auch mit juristischen Mitteln. Was tut man jedoch, solange man sich nicht weit genug von einem Grenzüberschreiter entfernen kann?

Grenzüberschreiter beherrschen die vereinnahmende Freundlichkeit genauso wie ein zähes Ringen um Einfluss.

Dann bleibt nichts, als sich der Herausforderung zu stellen und die Strategien dieses Kapitels so gut wie möglich umzusetzen. Leichter macht es sich derjenige, der sich in einer solchen Situation professionelle Begleitung sucht, sei es durch ein Coaching, eine Psychotherapie oder vielleicht auch durch den Rat eines lebenserfahrenen Menschen, der zu regelmäßigen Gesprächen bereit ist. Auch wenn die Situation im Ganzen nicht zu ändern ist, können Veränderungen im Kleinen einen spürbaren Unterschied machen und die Entlastung kann enorm sein, wenn Betroffene Empathie und moralische Unterstützung erleben.

Grenzüberschreiter sind Meister im Nahkampf. Sie beherrschen die vereinnahmende Freundlichkeit genauso wie ein zähes Ringen um Einfluss. Ein anderer Typ schwieriger Menschen erspart sich sol-

che Auseinandersetzungen. Er spielt mit Ihren Wahrnehmungen und Gefühlen.

Auf einen Blick:

Tipps zum Umgang mit Grenzüberschreitern

▪ Lassen Sie sich nicht zu schneller Vertraulichkeit und Offenheit verführen.

▪ Auch wenn Sie verärgert sind oder sich bedroht fühlen: Wahren Sie die Form!

▪ Sagen Sie taktvoll, aber ausdauernd Nein, um Ihre Privatsphäre und Selbstbestimmung zu schützen.

▪ Setzen Sie Selbstbehauptungsstrategien ein, um sich ein faires Maß an Redezeit, Ressourcen und Einfluss zu sichern.

▪ Konfrontieren Sie Grenzüberschreiter einfühlsam, welche Auswirkungen ihr Verhalten auf Ihre Gefühle und Ihr Verhalten hat.

▪ Berufen Sie sich auf Gesetze, Bestimmungen oder Ihre Prinzipien. Wo möglich, schalten Sie gelegentlich eine höhere Stelle ein, die für einen fairen Interessensausgleich sorgt.

▪ Wo es zu Machtkämpfen kommt, prüfen Sie Bündnisse mit vertrauenswürdigen Personen.

▪ Seien Sie Grenzüberschreitern gegenüber korrekt, was deren Mitbestimmung, Information und Einbeziehung angeht.

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