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Wie angle ich mir einen Prediger?

1. Kapitel

Burleson County, Texas – 1885

Crockett Archer streckte seine Beine in den Gang, als der Zug langsam aus der Caldwell Station hinausrollte. Nur noch ein kurzer Zwischenhalt in Somerville und dann würde er endlich in Brenham ankommen – dem Ort, wo er sein Lebenswerk beginnen sollte. Ein breites Grinsen trat auf sein Gesicht, während er über seine Zukunft nachsann.

Hatte sich so Abraham gefühlt, als er nach Kanaan gereist war? Voller Vorfreude, die durch den gesamten Körper pulsierte? Glaubensgewissheit, die mit jedem Herzschlag durch den Körper strömte? Dieses ganz besondere Gefühl der Zufriedenheit, das sich nur einstellte, wenn man dem Ruf Gottes gehorchte?

»Mama, der Mann lacht über deinen Hut.« Ein kleiner Junge starrte Crockett über seinen Sitz hinweg an und zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn.

Seine Mutter schnaubte und tätschelte ihren Hut – als wäre er persönlich beleidigt worden. »Manche Menschen haben eben keine Manieren«, murmelte sie und warf einen verletzten Blick über ihre Schulter, während sie versuchte, den Arm ihres Sohnes zu erwischen und ihn wieder auf seinen Platz zu ziehen.

»Ich wollte Ihren Hut nicht beleidigen, Ma’am.« Crockett beugte sich vor, um sich zu entschuldigen, aber als er einen genaueren Blick auf die hutmacherische Gräueltat warf, musste er sich wirklich das Lachen verkneifen. Blaue Federn ragten an allen Ecken und Enden heraus, als hätte sich ein Pärchen Eichelhäher den Platz zum Brüten ausgesucht. Crockett versuchte, seine Belustigung zurückzudrängen, und zwang seine Gesichtszüge in eine ernste Miene. »Meine Gedanken waren anderswo, das versichere ich Ihnen.«

»Und warum haben Sie dann so breit gegrinst?« Die Stimme des Jungen klang angespannt.

Und das war auch kein Wunder. Wenn das Schmuckstück vor ihm ein Hinweis darauf war, was die Frau sonst so trug, war der arme Kerl wahrscheinlich daran gewöhnt, die Ehre seiner Mutter zu verteidigen.

»Ich habe nur an all die wunderbaren Dinge gedacht, die mich am Ende meiner Reise erwarten, und das hat mich glücklich gemacht.« Crockett zwinkerte dem Jungen zu. »Freust du dich auf das Ziel eurer Reise?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich. Wir besuchen meine Großtante Ida.« Er sah Crockett gequält an. »Sie riecht ganz komisch.«

»Andrew Michael Bailey! Wie kannst du nur so etwas sagen? Und dann auch noch zu einem Fremden!« Andrews Mutter zog ihn herum und Crockett ließ sich schnell zurück in seinen Sitz fallen, während die Frau ihrem Sohn eine geflüsterte Standpauke hielt.

Immerhin schien sie durch die Äußerung ihres Sohnes die angebliche Beleidigung ihres Hutes vergessen zu haben. Crockett entschied, das als Segen zu werten. Wenn die alte Tante Ida in Brenham lebte, war es das Beste, wenn ihre Nichte gedanklich mit dem losen Mundwerk ihres Sohnes beschäftigt war und nicht mit der angeblichen Meinung des neuen Predigers über ihren Hut.

Der neue Prediger. Crocketts Herz schwoll in seiner Brust an.

Nach drei Jahren Ausbildung bei dem Pfarrer in Palestine, nahe der Ranch, auf der er aufgewachsen war, und Gastpredigten in jeder Gemeinde, die ihn auf die Kanzel gelassen hatte, hatte er endlich eine Vollzeitstelle angeboten bekommen.

Nun gut, es gab noch einen zweiten Bewerber für die Stelle, aber Crockett wusste tief in seinem Inneren, dass seine Zeit gekommen war.

Der Herr hatte ihn genau hierher geführt, und das seit seinem fünfzehnten Geburtstag. Damals hatte sein Bruder Travis ihm vorgeschlagen, die geistlichen Dienste für die Familie zu über-

nehmen. Zuerst war es einfach nur eine Aufgabe wie jede andere gewesen, aber dann war sie sehr schnell zu einer Berufung geworden. Da ihre Eltern früh gestorben waren und die vier Archerbrüder ein sehr isoliertes Leben geführt hatten, hatten sie einen Glauben gebraucht, der über ein Tischgebet vor dem Essen hinausging. Sie hatten einen Glauben benötigt, der jeden Teil ihres Lebens durchdrang. Crockett hatte die Aufgabe übernommen, sich um das Füttern der Seelen seiner Familie zu kümmern, aber seit sie alle erwachsen waren, war in ihm das drängende Verlangen gewachsen, dies auch für andere Menschen zu tun.

Und jetzt führte ihn dieses Verlangen nach Brenham.

Crockett stützte seinen Ellbogen auf die Tasche, die neben ihm auf dem Sitz stand, und ging in Gedanken noch einmal die Hauptpunkte der Predigt durch, die er für den morgigen Gottesdienst vorbereitet hatte. Seine Konzentration richtete sich nach innen und die Landschaft draußen verschwamm vor seinen Augen. Er zitierte still einen Vers aus dem ersten Petrusbrief, aber bevor er fertig war, ging ein Ruck durch den Waggon und die Räder des Zuges fingen an zu kreischen.

Seine Hand flog an den Sitz vor ihm und so konnte er sich in letzter Sekunde vor einem Sturz in den Gang bewahren, als er nach vorne geschleudert wurde. Die Räder des Zuges kreischten immer weiter. Passagiere flogen durch den Wagen. Frauen kreischten. Kinder schrien. Der Zug wurde immer langsamer, während das Kreischen anhielt.

»Was ist los, Mama?«, rief Andrew seiner Mutter zu, die ihre Arme beschützend um ihren Sohn geschlungen hatte.

»Vielleicht liegt irgendwas auf den Schienen.« Crockett erhob seine Stimme, damit er über das Chaos hinweg zu hören war. »Wenn der Zug steht, wird die Mannschaft es wegräumen und unsere Reise geht sofort weiter. Du brauchst keine Angst zu haben, kleiner Mann.«

Doch noch während er die Worte aussprach, machte sich ein Gefühl des Unbehagens in ihm breit. Eine Frau ein paar Reihen vor ihm stieß einen lauten Schrei aus und zeigte aus dem Fenster.

Der Mann an ihrer Seite schob sie weg, um einen besseren Blick zu haben. Dann rief er ein Wort, dass allen Reisenden das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Banditen!«

Crocketts Hand fuhr automatisch an seine Hüfte, nur um dort ins Leere zu greifen. Er hatte seinen Revolver auf der Ranch gelassen. Über ein Jahrzehnt lang hatte er auf der Ranch gearbeitet und immer ein Gewehr oder einen Revolver griffbereit gehabt. Meistens beides. Und jetzt war er in diesen Raubüberfall hineingeraten, mit nichts anderem als seinem Verstand ausgerüstet, weil sein Mentor ihn davon überzeugt hatte, dass nur Wanderprediger bewaffnet reisten.

Er hätte auf Travis hören sollen, der ihm geraten hatte, wenigstens eine Waffe in seine Gepäcktasche zu stecken. Dann hätte er jetzt nicht wehrlos hier gesessen. Aber er war zu sehr darauf bedacht gewesen, einen guten Eindruck zu machen.

Doch Crockett war niemand, der tatenlos blieb, also sprang er trotzdem auf und kämpfte wankend gegen die Fliehkraft an, die der Zug beim Bremsen erzeugte. Er hangelte sich mit den Händen rechts und links an den Banklehnen entlang und schob sich so weit nach vorne, dass er einen guten Blick durch die Fenster erhaschen konnte.

Er zählte vier Männer. Mit Waffen im Anschlag. Und vermummten Gesichtern. Ihre Pferde überbrückten die Distanz zum Zug in wenigen Sekunden.

»Gott, steh uns bei«, betete Crockett leise.

Als der Zug nur noch rollte, lenkten die Gesetzlosen ihre Pferde neben den Passagierwaggon. Ein Reiter ließ sich zurückfallen und verschwand aus Crocketts Sichtfeld. Die anderen drei kamen näher.

Vom hinteren Eingang her erklang ein dumpfer Schlag. Der erste Mann war an Bord.

Crockett lief zurück zu seinem Sitz.

Im selben Moment, in dem die hintere Tür aufgetreten wurde, stürmten zwei der Männer durch die vordere herein.

»Alle halten ihre Hände so, dass ich sie sehen kann!« Der An-

führer zog eine zweite Pistole aus seinem Holster. Mit einer Waffe in jeder Hand zielte er auf beide Seiten des Waggons und beobachtete vor allem die männlichen Reisenden, von denen die größte Gefahr ausging.

Während er das tat, kam der Zug endlich zum Halten, was die Passagiere noch einmal durchschüttelte. Der Anführer wankte nicht einmal. Er stand so fest wie ein alter Seebär an Deck eines Schiffes.

Panisches Gemurmel entstand unter den Reisenden und wurde immer lauter, bis eine Frau aufsprang.

»Ich muss hier raus. Lassen Sie mich gehen!«

Die linke Waffe des Anführers beschrieb einen Bogen und richtete sich genau auf ihr Herz. »Beruhig lieber deine Frau, Mann.« Seine stählernen Augen über dem Halstuch wurden schmal. »Ich will kein Blut vergießen, aber das kann sich ziemlich schnell ändern.«

Der Begleiter der Frau zog sie von hinten zurück auf ihren Platz. Sie wimmerte und verbarg ihr Gesicht an der Schulter des Mannes, sagte aber nichts mehr.

Zufrieden wandte der Gesetzlose seine Aufmerksamkeit wieder den anderen Anwesenden zu. »Es gibt keinen Grund zur Aufregung, Leute. Sobald wir haben, was wir wollen, verschwinden wir wieder.«

Er trat einen Schritt in den Gang. Dann noch einen. Der Bandit, der mit ihm in den Zug gekommen war, blieb vorne beim Kohlenofen stehen.

Crockett warf einen schnellen Blick nach hinten. Der dritte Kerl blockierte den Ausgang. Seine Waffe zitterte nicht. Crockett richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Anführer.

Irgendwas an diesen Männern war seltsam. Nach dem zu urteilen, was Crockett bisher gehört und gelesen hatte, wurden Zugüberfälle von jungen, hitzköpfigen Aufschneidern begangen, die ihren schnellen Umgang mit der Waffe beweisen wollten. Diese Männer hier waren zu ruhig. Zu beherrscht. Zu … alt.

Crockett schaute sie sich genauer an. Der neben dem Ofen drehte sich gerade um und warf einen Blick aus dem Fenster.

Crockett sah graues Haar unter seinem Hut hervorblitzen. Der Bandit in der Mitte hatte lederne Haut und zumindest der Teil seines Gesichts, den man trotz des Halstuches vor Nase und Mund sehen konnte, wirkte wie das eines älteren Mannes. Die tiefen Furchen um seine Augen ließen Crockett vermuten, dass er ein Leben an der frischen Luft geführt und die Augen oft gegen die Sonne zugekniffen hatte. Und obwohl der Blick des hinteren Mannes stahlhart war, erinnerte seine Haltung Crockett doch an die seines sechzigjährigen Mentors, der nach einem Tag harter Arbeit erschöpft in sich zusammensank.

Crockett war immer noch mit seinen Beobachtungen beschäftigt, als ein Mann in einem Anzug den Banditen eine wertvolle Golduhr entgegenstreckte. »Hier, nehmen Sie sie und verschwinden Sie.«

Der Anführer starrte auf die Uhr, als wäre das eine Beleidigung.

»Steck den Mist weg«, knurrte er. »Deshalb sind wir nicht hier.«

Warum waren sie in den Passagierwagen eingestiegen, wenn sie nicht daran interessiert waren, die Reisenden auszurauben? Wollten sie einfach nur die Leute unter Kontrolle halten, während der vierte Mann im Gepäckwagen nach etwas suchte?

Crockett beugte sich gerade so weit vor, dass er aus dem gegenüberliegenden Fenster schauen konnte. Der vierte Mann hatte die Pferde an der Westseite der Schienen versammelt und hielt sein Gewehr auf die Lokomotive gerichtet.

»Weshalb sind Sie dann hier?«, wollte der Mann mit der Uhr wissen. »Sagen Sie es uns, damit wir es Ihnen geben können und fertig mit Ihnen und Ihren Kumpanen sind.«

Die Falten um die Augen des Mannes vertieften sich, als er den Zug nach dem absuchte, was er haben wollte. Als sein Blick den von Crockett traf, hielt er einen Moment inne, bevor er weiterwanderte. Crocketts Mund wurde trocken.

Die Brauen des Mannes zogen sich missmutig zusammen, während er seine Suche fortführte. Ein Knurren entwich der Kehle des Mannes, das sich zu einem lauten Ausruf steigerte.

»Ich will den Prediger!«

2. Kapitel

Crockett versteifte sich.

Er will … was? Bestimmt spielte ihm sein Verstand einen Streich. Der Mann konnte unmöglich gesagt haben, was Crockett sich gerade einbildete gehört zu haben.

Der Gesetzlose funkelte die Passagiere an und ließ seine Revolver von einer Seite zur anderen wandern. »Wer von euch ist der Prediger? Glaub nicht, dass du mich in die Irre führen kannst, nur weil du keinen weißen Kragen trägst. Ich weiß, dass du hier bist, und ich gehe nicht, bevor ich dich gefunden habe.«

Crocketts Hände wären fast an seinen Kragen geflogen, aber er konnte sich im letzten Moment zurückhalten. Er hatte nie ein Kollar getragen. Bruder Ralston war der Meinung gewesen, dass der Charakter eines Mannes Hinweise auf seine Berufung geben sollte und nicht seine Kleidung. Dass er sich die Einstellung seines Mentors zu eigen gemacht hatte, würde ihm jetzt vielleicht das Leben retten.

»Du!«, bellte der Bandit einen Geschäftsmann an. »Du siehst aus wie ein Prediger mit deinen übertriebenen Klamotten und den weichen Händen.«

»N-n-nein, Sir.« Der Mann, der seine Hände in der Sekunde gehoben hatte, in der die Banditen den Zug betreten hatten, drehte jetzt seine Handflächen nach innen und betrachtete sie ängstlich. »Ich b-b-bin nur ein Handelsvertreter. Sehen Sie?« Er öffnete langsam seinen Koffer. »Medikamente.«

»Pah!« Der Bandit wendete sich angewidert ab und fuhr herum, um sich Crockett genauer anzuschauen.

Blasse, stahlblaue Augen musterten ihn. Da er es gewohnt war, ungewollte Eindringlinge niederzustarren, um seine Ranch zu beschützen, hielt er dem Blick des Mannes stand, obwohl das weitaus leichter gewesen war, als er selbst eine Waffe in der Hand

gehabt hatte. Die Augen des Mannes verengten sich zu Schlitzen, dann sah er sich Crocketts Kleidung an. Eine Braue hob sich, als der Mann den guten Stoff bemerkte, aber nachdem sein Blick weiter zu Crocketts harten Arbeiterhänden gewandert war, schnaubte er kurz und ging an ihm vorbei.

Noch nie war Crockett so dankbar für all die Schwielen und Narben gewesen.

Als der Bandit seine Untersuchung fortsetzte, sah Crockett sich seine Mitreisenden selbst genauer an. Wer von ihnen war der Prediger, den sie suchten? Der Mann ganz vorne, der seine Uhr angeboten hatte? Der Mann zwei Reihen vor Crockett, der zwar wie ein Farmer aussah, seinen Kopf aber wie im Gebet geneigt hielt?

Die Tatsache, dass sie nach einem Prediger suchten, ließ Crockett natürlich nicht kalt. Trotzdem war er sich sicher, dass sie nicht ihn meinen konnten. Er war noch nie hier in der Gegend gewesen. Bis vor ein paar Jahren war er noch nie irgendwo gewesen. Zudem wusste außer seiner Familie, Bruder Ralston und den Ältesten aus Brenham niemand, dass er in diesem Zug sein würde.

»Ich verlier bald die Geduld, Leute«, knurrte der Anführer, als er wieder nach vorne stapfte. »Wenn der Prediger sich nicht stellt, werde ich ziemlich nervös. Und wenn ich nervös bin, zuckt mein Finger ziemlich leicht.« Wieder ließ er die Revolver über die Sitzreihen wandern.

»Mama, wird dieser Mann uns erschießen?« Andrews leise Stimme schnitt Crockett ins Herz.

»Still, Andy«, zischte seine Mutter und versteckte ihn noch tiefer in ihren Armen.

Crockett biss die Zähne zusammen. Das ist nicht richtig. Frauen und Kinder einzuschüchtern ... Er musste etwas unternehmen.

»Woher wisst ihr, dass der Mann, den ihr sucht, überhaupt hier im Zug ist?« Crockett erhob sich langsam und hielt seine Hände dabei so hoch, dass die Banditen sie gut sehen konnten.

»Lies ihm den Zettel vor«, befahl der Anführer.

Der Mann neben dem Ofen kramte in seiner Tasche und zog einen zerknitterten Zettel hervor. »›Treffen Sie …‹« Er hielt inne, räusperte sich und hielt dann den Zettel weiter von sich weg. Mit zusammengekniffenen Augen las er weiter. »Treffen Sie die Prediger. Heißen Sie unsere beiden Kan-, ähm, Kan-di-da-ten für Brenham am Samstagnachmittag willkommen. Sie treffen mit dem Mittagszug aus Houston und dem Zwei-Uhr-fünfzehn-Zug aus Milano ein. Für Plätzchen und Limonade ist gesorgt.«

Ein schweres Gewicht legte sich auf Crocketts Brust, als die Worte des Banditen ihn erreichten wie Nägel, die seinen Sarg verschlossen.

Wie …? Wie konnte er der Prediger sein, den sie suchten? Am liebsten hätte er diese Tatsache verleugnet, aber stattdessen schob er die Schultern zurück. Das Warum war egal. Was zählte, war, diese Gesetzlosen endlich aus dem Zug zu bekommen.

»Ich bin euer Mann.«

»Du bist kein Prediger, Junge.« Der Anführer winkte ab. »Setz dich.«

Crockett blieb stehen. »Untersucht meine Tasche. Ihr findet darin meine Bibel und die Notizen für meine nächste Predigt.«

Der Anführer zielte jetzt mit dem Revolver genau auf Crocketts Brustkorb. »Geh zur Seite, Kleiner.«

Crockett gehorchte und trat in den Gang.

Ohne den Blick von Crockett abzuwenden, steckte der Mann die Waffe aus seiner Linken ins Holster und griff nach dem Gepäckstück. Crockett dachte ernsthaft darüber nach, dem Mann die Pistole aus der Hand zu schlagen, sobald er einen Blick in die Tasche warf, aber der Bandit gab ihm keine Chance dazu. Sobald er Crocketts Tasche in der Hand hatte, warf er sie dem Mann am Ende des Zuges zu, ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde lang von Crocketts Gesicht abzuwenden.

»Es stimmt, Boss«, sagte der dritte Bandit. »Hier ist eine Bibel. Und Notizen. Er hat hier sogar ein paar Magazine – alle mit irgendwelchen religiösen Namen.«

»Also gut, Leute«, rief der Anführer. »Sieht so aus, als hätten wir

gefunden, wofür wir gekommen sind.« Er umfasste Crocketts Arm mit eisernem Griff. »Also, Prediger, lass uns von hier verschwinden, damit diese guten Menschen den Rest ihrer Reise genießen können.«

Crockett fügte sich vorerst. Der Lauf der Pistole stach ihm in den Rücken, um ihn ruhig zu halten. Momentan hatten die Banditen die Oberhand, aber seine Zeit würde kommen. Wenn erst einmal keine Frauen und Kinder mehr in Gefahr wären, bräuchte er keine Rücksicht mehr zu nehmen. Er würde seine Chance nutzen, sobald sie sich bot.

Er hatte immerhin eine wichtige Verabredung und musste einen Job ergattern. Kein Bandit würde sich zwischen ihn und seinen Plan stellen.

Eine Stunde lang ritten sie hart, dann rief der Anführer, dass sie anhalten sollten. An einem Flussbett kamen sie zum Stehen. Crockett hatte es irgendwie geschafft, im Sattel zu bleiben, auch wenn seine Hände hinter dem Rücken gefesselt worden waren. Seine Schultern brannten und seine Oberschenkel hatten nach einem Ritt noch nie so schrecklich wehgetan. Aber die Schmerzen hatten seinen Verstand wach und seine Sinne geschärft gehalten.

Der Mann, der während des Überfalles bei den Pferden geblieben war, stieg als Erster ab. »Wir können es immer noch, Silas.« Er sah den Anführer an. »Kühehüten ist längst nicht so spannend, was?« Er zog sein Halstuch ab und nahm einen Schluck aus seiner Blechflasche. Offensichtlich war ihm nicht bewusst, dass Crockett jetzt sein Gesicht sehen konnte.

»Ich bin zu alt für so eine Aufregung.« Der Mann zu Crocketts Rechten stöhnte laut, als er sich im Sattel aufrichtete. »Du musstest ja nicht auf den Zug springen, Carl. Ich schwöre dir, dass ich bestimmt einen Monat lang nicht richtig laufen kann, weil ich mit der Hüfte gegen dieses Geländer geknallt bin.« Nach dem Ab-

steigen rieb er sich die besagte Stelle und humpelte übertrieben langsam zum Fluss, um sein Pferd zu tränken.

»Hör auf zu jammern, Frank.« Silas lockerte seinen Griff um die Zügel von Crocketts Pferd auch dann nicht, als er sich zu Boden gleiten ließ. Er hatte sie die ganze Zeit über festgehalten, weil er nicht darauf vertraute, dass seine Beute freiwillig folgen würde.

Schlauer Kerl.

Crockett war mittlerweile klar, dass sie ihn für irgendetwas brauchten und was auch immer das war, es würde sie hoffentlich davon abhalten, ihm eine Kugel in den Rücken zu jagen, wenn er sich aus dem Staub machte. Aber bis jetzt hatte er keine Chance dazu gehabt. Mit gefesselten Händen könnte er nicht galoppieren, ohne sich den Hals zu brechen. Also hatte er sich die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen, was er tun würde, wenn sie anhielten.

Jetzt, wo es so weit war, war es an der Zeit, zu agieren. Alles, was Crockett brauchte, war, dass der Anführer noch ein kleines Stückchen näher kam …

Silas bewegte sich … aber leider in die völlig falsche Richtung. Er ging nach vorne, um Crocketts Pferd die Nüstern zu streicheln. Crockett schluckte seine Enttäuschung herunter.

»Jasper, gib dem Prediger was zu trinken. Er sieht ein bisschen vertrocknet aus.«

Der dritte Bandit gehorchte, aber als er näher kam, sah Crockett den kritischen Blick, den er seinem Boss zuwarf. »Das ist verrückt, Mann.« Seine Stimme war nicht laut, aber trotzdem konnte Crockett ihn gut verstehen. »Du hast Martha versprochen, dass du nie wieder stiehlst. Ich hätte nie gedacht, dass du dein Wort brichst. Vor allem nicht deiner Frau gegenüber. Wir leben schon zu lange anständig, um so einen Mist zu machen.«

»Ich habe mein Wort nicht gebrochen«, knurrte Silas und sein Gesicht wurde rot. »Martha war das Beste, was mir je passiert ist, und ich würde ihr Andenken niemals beschmutzen, indem ich meinen Schwur ihr gegenüber breche. Ich habe heute nichts gestohlen und das weißt du.«

»Du hast den Prediger gestohlen.« Jasper legte seinen Kopf schief und nickte in Crocketts Richtung, aber keiner von ihnen schaute zu ihm hin. Gut – dann bemerkten sie auch nicht, dass er seine Stiefel aus den Steigbügeln genommen und die Fesseln an seinen Handgelenken gelockert hatte.

»Ich habe ihn nicht gestohlen«, beharrte Silas auf seiner Meinung. »Ich habe ihn ausgeliehen. Wir lassen ihn frei, sobald Jo ihn nicht mehr braucht.«

Jasper seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass du dein Kind liebst, Si. Das wissen wir alle. Aber das hier ist einfach nicht richtig.«

»Ich entscheide selbst, was für meine Familie richtig ist oder nicht.« Silas nahm Jasper die Trinkflasche weg und stapfte zu Crockett.

Carl und Frank tränkten ein paar Meter entfernt ihre Pferde. Jasper hatte Crockett kopfschüttelnd den Rücken zugewandt. Es würde keine bessere Möglichkeit geben.

Crockett riss sein Knie hoch, stemmte seinen Stiefel gegen Silas’ Brustkorb und trat fest zu. Die Blechflasche fiel zu Boden und Silas taumelte rückwärts. Crockett sprang vom Pferd. Er schaffte es, seine rechte Hand zu befreien und rammte Silas die Faust gegen den Unterkiefer, bevor dieser sein Gleichgewicht wiederfinden konnte. Der Bandit ging zu Boden, aber er hatte immer noch die Zügel des Pferdes in der Hand.

Der Tier wieherte erschrocken, weil der Zug plötzlich so stark war, und trippelte rückwärts, um sich zu befreien. Crockett nutzte die Ablenkung, um in Richtung der nahe gelegenen Bäume zu rennen. Im Norden hatte er ein Gebäude ausgemacht. Ein Gebäude bedeutete andere Menschen. Menschen bedeuteten Hilfe. Er betete nur, dass er mit seiner Vermutung recht gehabt hatte, dass die Männer ihm keine Kugel in den Rücken jagen würden.

Ein Schuss erklang, gefolgt von zornigen Rufen, dass er stehen bleiben solle. Aber er wurde nicht getroffen, deshalb sprintete Crockett weiter.

Er duckte sich unter den ersten Ast und rannte im Zickzack

durch die Bäume, wobei er jeglichen Schutz nutzte, den er bekommen konnte.

Das Gebäude kam näher und näher. Vielleicht eine Scheune? Er musste es einfach erreichen.

Hufe trommelten hinter ihm her. Crocketts Herz schlug schneller. Sie würden ihn einholen. Fast hatte er das Ende der Bäume erreicht.

Offenes Grasland lag zwischen ihm und dem eingezäunten Gelände, das das Gebäude umgab. Weiter im Schutz der Bäume zu bleiben, würde seine Gefangennahme nur hinauszögern, nicht vermeiden. Seine einzige Chance war, über diesen Zaun zu springen und zu hoffen, dass Silas und seine Bande keine Entdeckung riskieren würden, indem sie ihm auf Privatbesitz folgten.

Mit brennender Lunge brach Crockett aus dem Wald hervor und rannte auf den Zaun zu. Die Hufschläge hinter ihm wurden immer lauter.

Ein leises Zischen erreichte sein Ohr, bevor sich ein Seil um seine Schultern und seinen Brustkorb legte und ihn ruckartig von den Beinen riss. Er schlug auf dem Rücken auf und alle Luft wurde aus seiner Lunge gepresst. Crockett starrte fassungslos in den blauen Himmel.

Er war gerade eingefangen worden wie ein Kalb zur Brandzeit. Nach Luft schnappend betete er darum, dass kein heißes Eisen involviert sein würde, wenn Silas ihn seinem Sohn präsentierte. Aber wenn dieser Joe genauso verrückt war wie die Männer, die ihn entführt hatten, würde Crockett mit allem rechnen müssen. Und immerhin war es der Junge gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass sein Vater einen Prediger kidnappte.

3. Kapitel

Silas Robbins hatte keine Ahnung, was er von dem Mann am Ende von Jaspers Lasso halten sollte. Alle Prediger, denen er bisher begegnet war, waren weiche, belesene Männer gewesen, die gerne ihrer eigenen sanften Stimme beim Reden zuhörten. Silas rieb sich seinen mitgenommenen Unterkiefer und funkelte den Prediger böse an, der gerade versuchte, auf die Beine zu kommen.

Dieser Prediger war alles andere als normal.

»Ich dachte, ihr Typen glaubt daran, auch die andere Wange hinzuhalten.« Silas’ Sattel knarzte, als er sich nach vorne beugte. Der gute Anzug des Predigers war voller Staub, sein Hut war ein paar Meter weggerollt und die Arme waren ihm an den Körper gefesselt, aber trotzdem konnte Silas nicht den kleinsten Hauch von Angst erkennen.

»König David war ein großer Krieger«, antwortete der Prediger, »und die Bibel nennt ihn einen Mann nach Gottes Herzen. Wenn er seine Feinde niederringen und mit reinem Gewissen vor Gott stehen konnte, werde ich mich wohl verteidigen dürfen.«

Silas streckte sich und musste zugeben, dass er dem Mann ungewollt Respekt zollte. Unter anderen Umständen hätte er diesen Jungen vielleicht gemocht. Aber ein Prediger? Silas wäre lieber barfuß durch ein Feld Kakteen gelaufen, als einem dieser scheinheiligen Schwätzer freundschaftliche Gefühle entgegenzubringen.

»Was auch immer dich nachts besser schlafen lässt, Prediger. Gott weiß, dass der einzige Mann, der die Wahrheit noch mehr zu seinen Gunsten verdreht als ein Anwalt, ein Kirchenmann ist.«

Silas verschränkte die Hände über seinem Sattelhorn und wartete auf die Reaktion des Mannes.

Würde er es abstreiten? Ihn beschimpfen? Seinen Beruf verteidigen?

Nein.

Alles, was der Kerl tat, war, seine Augenbrauen hochzuziehen.

»Schon seltsam, dass Sie so viele Mühen auf sich nehmen, um jemanden zu kidnappen, den Sie so wenig leiden können.«

Seltsam? Es war völlig verrückt. Aber was ein Mann für seine Familie tat, ging niemanden etwas an.

»Zum Haus, Junge.« Silas nickte nach vorne. Er lenkte seinen grauen Wallach dorthin, wo der Hut des Predigers lag. Ohne langsamer zu werden, zog er sein Gewehr, beugte sich vor und hob das verstaubte Ding hoch, indem er die Mündung unter die Krempe steckte. Dann lenkte er sein Pferd mit den Knien zu dem Mann und drückte ihm den Hut auf den Kopf.

Der Mann muss für Jo einigermaßen respektabel aussehen.

Es schenkte ihm eine gewisse Befriedigung, wieder die Oberhand zu haben. Der Prediger war ein paar Jahrzehnte jünger als er, aber Silas Robbins hatte immer noch ein paar Asse im Ärmel. Der kleine König David hier würde ihn nicht noch mal überrumpeln.

»Soll ich ihn wieder aufs Pferd setzen, Boss?« Jasper wickelte das Ende des Lassos um sein Sattelhorn und wollte schon absteigen, aber Silas schüttelte den Kopf.

»Er war so versessen darauf, über unser Grundstück zu laufen, dass ich ihm seinen Wunsch gerne erfülle.«

Die Augen des Predigers flogen zu Silas, dann zur Scheune und wieder zurück. Die Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht war unbezahlbar. Der arme Kerl hatte gedacht, er würde in die Freiheit laufen, wo er doch genau auf Silas’ Haus zugerannt war. Wenn dadurch nicht die Gefahr bestanden hätte, dass er mit seinem plötzlichen Auftauchen Silas’ Überraschung für Jo ruinierte, hätte Silas es ihm vielleicht sogar durchgehen lassen, nur um seinen Gesichtsausdruck zu sehen, wenn sie in aller Ruhe auf den Hof geritten wären und ihn an der Scheunentür begrüßt hätten. Das hätte selbst den Kinnhaken wiedergutgemacht.

Silas ritt langsam auf die Scheune zu. Der Mann an Jaspers Lasso ließ sich nichts anmerken, aber nach seiner Flucht durch die Bäume musste er ziemlich fertig sein.

Außerdem wusste jeder, dass Prediger nur zu einer einzigen Sache zu gebrauchen waren – zum Reden. Es war klar, dass Jo jemanden zum Reden haben wollte. Warum sonst hätte Silas einen Prediger besorgen sollen? Aber was für ein Geschenk würde der Kerl schon abgeben, wenn er zu sehr außer Atem war, um mit Jo zu sprechen? Wenn Silas schon diese ganzen Strapazen auf sich nahm, wollte er auch, dass sein Kind sich über sein Geschenk freute.

Aber war es wirklich das richtige Geschenk?

Zweifel überkamen Silas und nagten an seinem Selbstbewusstsein. Martha war immer diejenige gewesen, die Jos Geburtstagsgeschenke ausgesucht hatte. Letztes Jahr, nach Marthas Tod, war ihre Trauer so groß gewesen, dass sie gar nicht gefeiert hatten. Aber dieses Jahr wurde Jo einundzwanzig. Sein einziges Kind verdiente es, etwas Großes zu bekommen, etwas Bedeutungsvolles, etwas, das es sich schon immer gewünscht hatte.

Ach, Martha. Als sie den Weg erreichten, der zu seiner Ranch führte, sah Silas in Richtung Himmel. Ich vermisse dich so schrecklich, Liebe meines Lebens. Du solltest das alles für Jo planen. Nicht ich. Jasper hatte recht. Martha hatte nie viel von seinen Methoden gehalten, aber bestimmt hätte sie dieses Geschenk gut gefunden. Sie war immer ziemlich darauf bedacht gewesen, sonntags in die Kirche zu gehen. Und nun würde sein einziges Kind diesen Fußstapfen folgen.

Als er sich letzte Woche nach dem Geburtstagswunsch erkundigt hatte, war die einzige Antwort gewesen: einen Prediger. Und Silas war die Ernsthaftigkeit, die hinter dieser Bitte steckte, nicht entgangen. Jo litt und aus irgendeinem Grund dachte sein Kind, dass ein Prediger helfen könnte. Silas hatte keine Ahnung von und auch keine Geduld für Religion, aber wenn Jo einen Prediger wollte, würde er sich darum kümmern.

Aber gerade, als sie in den Hof ritten und sich die Tür zum Ranchhaus öffnete, fragte Silas sich, ob er das Ende des Lassos nicht lieber wie eine Schleife hätte binden sollen. Dann würde der Prediger mehr wie ein Geschenk und weniger wie ein Gefangener aussehen.

Joanna Robbins kam aus dem Haus und sah ihren Vater an. Sein grauer Wallach hob sich von den braunen Arbeitspferden ab, genau wie er sich von seinen Männern. Mama hatte immer gesagt, dass er der geborene Anführer war und Joanna musste ihr zustimmen. Er strahlte Autorität aus, aber es war die unerschütterliche Aufopferung für diejenigen, die ihm am Herzen lagen, die ihm von allen Seiten Loyalität einbrachte. Seine Männer würden ihm folgen, wohin auch immer er sie führte. Genau wie sie. Und trotzdem hätte er seinerseits in dieser einen Sache, die wirklich zählte, ihr folgen müssen. Aber das würde er nicht tun.

Aber er war ihr Daddy und sie liebte ihn. Also verdrängte sie ihre Sorgen, als er ihr ein breites Grinsen schenkte und von seinem Pferd stieg, und flog in seine ausgestreckten Arme.

Er hielt sie fest und sie spürte die Liebe und Hingabe, die er ihr schon ihr ganzes Leben lang entgegenbrachte. Sie sah zu ihm auf und lächelte.

»Drei Tage sind eine lange Zeit, Dad. Ich habe dich vermisst.«

»Ich hab dich auch vermisst, Schätzchen.« Sein Griff lockerte sich und er lehnte sich zurück. »Aber ich habe dir etwas ganz Besonderes mitgebracht.«

»Zum Geburtstag?« Fröhliche Aufregung machte sich in ihr breit, als würde sie zwölf werden und nicht einundzwanzig. Aber da alle Männer zuschauten, unterdrückte Joanna ihre Freude.

Sattelleder knirschte und zog Joannas Aufmerksamkeit auf Jasper Mullins, den Vorarbeiter ihres Vaters. Er schwang ein Bein über den Rücken seines Pferdes und wickelte das Ende seines Lassos vom Sattelhorn. Er nahm den Hut vom Kopf und zeigte damit seine Glatze, die von einem Kranz weißer Haare umringt war. Wie ein liebevoller Onkel beugte er sich vor und küsste sie auf die Wange. Das Kitzeln seines großen Bartes zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, aber das Seil, das er ihr in die Hand drückte, ließ sie die Stirn runzeln.

»Alles Gute, Miss Jo.«

»Danke, Jasper.«

Frank Pickens und Carl Hurst riefen ihr ebenfalls ihre Glückwünsche zu, bevor sie Jasper zur Scheune folgten. Erst jetzt, wo sie ihre Pferde wegbrachten, konnte Joanna sehen, was sich dahinter versteckte.

»Du hast mir einen … Viehdieb mitgebracht?«

Der große Mann war der bestangezogenste – und vor allem der bestaussehende – Viehdieb, den sie je zu Gesicht bekommen hatte. Obwohl das schwarze Jackett und die dazu passende Hose ziemlich mitgenommen aussahen.

»Er ist kein Viehdieb, Jo.« Die tiefe Stimme ihres Vaters riss sie aus ihren Gedanken.

Sie sah ihn fragend an.

Er versuchte, ihrem Blick standzuhalten, senkte ihn dann aber. Schließlich stieß er den Atem aus und legte den Kopf in den Nacken. »Ach verdammt, Mädchen. Du hast gesagt, du wünschst dir einen Prediger und hier hast du ihn!«

Ein Prediger?

Joannas Knie hätten fast nachgegeben. Sie ließ das Seil fallen, als hätte es sich in eine Schlange verwandelt, und presste die leeren Hände gegen ihren Bauch. Ein Prediger. Wie lange hatte sie dafür gebetet, dass ein Mann Gottes ihren Weg kreuzen würde? Einer, der ihr helfen würde, ihrer Berufung zu folgen. Das hier sollte ein Augenblick der Freude sein. Aber stattdessen fühlte es sich falsch an.

»Hast du ihn gestohlen?« Sie unterdrückte ein Seufzen. »Dad, wie konntest du nur?«

»Ich habe ihn nicht gestohlen«, rief er schnell, als sie zu dem Fremden lief, um seine Fesseln zu lösen. »Ich habe ihn nur ermutigt, dir an deinem Geburtstag einen Besuch abzustatten. Das ist alles.«

Joanna antwortete nicht. Und sie traute sich vor allem nicht, dem Prediger in die Augen zu schauen. Sie konzentrierte sich einfach auf das Seil, das sich um seinen Brustkorb spannte. Einen ziemlich breiten Brustkorb, wie ihr auffiel.

»Ich war wirklich ziemlich vorsichtig, damit niemand verletzt wird – was man vom ihm nicht gerade sagen kann. Er hat mir fast den Kiefer gebrochen!«

Ihr Kopf fuhr hoch. »Sie haben was?«, flüsterte sie erschrocken. Der Mann zuckte mit den Schultern. »In dem Moment erschien es mir ganz angebracht. Ich wollte einer Bande Kidnapper entkommen.«

Du liebe Güte, sah der Mann gut aus. Seine Augen hatten genau den Farbton des kaledonischen Brauns in ihrem Malset, aber mit einem Funkeln, das sie so niemals auf die Leinwand gebracht hätte. Sein Unterkiefer war stark und ein bisschen eckig. Seine gerade Nase passte perfekt zum Rest seines Gesichtes.

Die Künstlerin in ihr fing an, den Verlauf seiner Wangen und seines Halses festzuhalten, und ihr Blick wanderte weiter. Was sie wieder zu viel dringenderen Angelegenheiten zurückbrachte.

»Es tut mir so leid«, sagte sie und fummelte wieder an dem Seil herum. Endlich hatte sie es genug gelockert, dass er seine Arme befreien konnte. Sofort warf er das Lasso von sich.

Sie trat instinktiv einen Schritt zurück, weil sie nicht wusste, was er als Nächstes tun würde. Das Klicken eines geladenen Gewehrs direkt hinter ihr machte deutlich, dass auch ihr Vater nichts dem Zufall überließ.

Der Prediger schien sich jedoch nichts aus der geladenen Waffe zu machen. Er rieb sich einfach nur die Arme, um die Schmerzen daraus zu vertreiben.

Seltsam. Die meisten Männer hatten selbst dann Schwierigkeiten, ihrem Vater standzuhalten, wenn er keine Waffe in den Händen hielt. Aber dieser Prediger, wenn er überhaupt einer war – sie fing langsam an, daran zu zweifeln –, verhielt sich so, als würde jeden Tag irgendjemand ein Gewehr auf ihn richten.

»Wer sind Sie?« Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie diesen Gedanken laut ausgesprochen hatte, bis er sich zu ihr umdrehte.

Er nahm den Hut vom Kopf und sie sah, dass sein Haar ziemlich zerzaust war. »Crockett Archer, Miss.« Er nickte höflich.

Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich bin Joanna Robbins.«

»Nun, Miss Robbins. Sosehr ich diesen kleinen Abstecher auch genieße und so erfreut ich über die Ehre bin, an Ihrem Festtag hier sein zu dürfen, muss ich mich jetzt leider verabschieden. Ich habe einen wichtigen Termin in Brenham. Die Ältesten der Gemeinde erwarten mich.«

In seinem Blick konnte sie keine Bösartigkeit erkennen und sein Lächeln war freundlich, aber trotzdem spürte sie eine unterschwellige Härte.

»Du gehst nirgendwohin, Prediger.« Ihr Vater kam an ihre Seite. Der Lauf des Gewehres war jetzt nur noch wenige Zentimeter von Mr Archers Brust entfernt. »Nicht, bevor meine Jo bekommen hat, was sie von dir will.«

Joanna schloss schockiert die Augen. Was seine Jo jetzt gerade wollte, war, dass sich der Boden unter ihr auftat und sie verschluckte.

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