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Lynn Austin Bebes Vermächtnis

Kapitel 1

Es war schon paradox.

Ich lag in meiner Gefängniszelle auf der unteren, quietschenden Eisenpritsche eines Stockbetts, starrte zu der fleckigen Matratze über mir hinauf und dachte an den Tag, an dem ich zum ersten Mal die Bedeutung des Wortes paradox verstanden hatte. Ich musste einfach über die … na ja, über die paradoxe Tatsache schmunzeln, dass die Geschichte sich zu wiederholen schien. Die Bedeutung war mir vor ziemlich genau zehn Jahren klar geworden, an dem Tag, an dem meine Großmutter, Beatrice Monroe Garner, verhaftet worden war.

Dieser Tag war ebenfalls ein Samstag gewesen – wie der heutige Tag. Meine Mutter hatte beinah einen Nervenzusammenbruch erlitten. Schließlich würde Grandma Bebe, wie wir sie nannten, am nächsten Tag den Gottesdienst verpassen, wenn mein Vater nicht zum Gefängnis ging und ihr aus der Patsche half.

»Sie kann doch nicht den Sonntag im Gefängnis verbringen!«, hatte meine Mutter wieder und wieder gejammert. »Bitte, John. Wir müssen sie da rausholen!«

Während ich mich an damals zurückerinnerte, wurde mir mit einem Mal bewusst, dass ich in dieser Woche vermutlich auch nicht am Gottesdienst würde teilnehmen können. Ob sich wohl spontan jemand bereit erklären würde, meine Sonntagsschulklasse mit den zehnjährigen Mädchen zu übernehmen? Wäre mein Vater jetzt hier, würde er zweifellos sagen: »Du hättest dir um ihr Wohlergehen Gedanken machen sollen, bevor du dich in Schwierigkeiten gebracht und verhaften hast lassen, Harriet.«

Als Grandma Bebe damals im Gefängnis gelandet war, war ich genauso alt gewesen wie meine Sonntagsschulmädchen. Meine Schwester Alice und ich hatten gerade mit unseren Eltern am Frühstückstisch gesessen, als das Telefon klingelte. Damals, im Jahr 1910, war

das Gerät noch nagelneu gewesen, und wir hatten alle aufgehört zu essen und gespannt gewartet, ob das Amt unseren Gemeinschaftsanschluss dreimal kurz läuten lassen würde. Als das der Fall war, nahm meine Mutter die Hörmuschel vom Haken und hielt sie sich ans Ohr, wobei sie sich auf die Zehenspitzen erheben musste, um in das kleine kegelförmige Mundstück sprechen zu können. Kaum hatte sie den Hörer wieder eingehängt, brach sie in Tränen aus.

»Das … das war … die Polizei!«, brachte sie zwischen ihren Schluchzern heraus. »Sie haben meine Mutter verhaftet und … und … sie ist im Gefängnis!«

Meine ältere Schwester sog scharf die Luft ein. Sie war von der empfindsamen Sorte Mädchen, die ständig seufzten oder die Luft anhielten. »Verhaftet! Aber warum? Was hat Grandma denn getan?«

»Wie können die ihr das nur antun?« Meine Mutter weinte. »Sie ist doch keine Verbrecherin!«

»Gibt es noch Kaffee?«, fragte mein Vater ruhig. »Ich hätte gerne noch eine Tasse, wenn es dir recht ist.«

»Oh, John! Wie kannst du jetzt Kaffee trinken? Ist es dir denn vollkommen egal, was mit meiner Mutter passiert?«

»Beatrice Garner schert sich kein bisschen um den Ruf ihrer Familie, warum sollte es mich also kümmern, was mit ihr geschieht? Sie wusste, mit welchen Folgen sie rechnen muss, wenn sie zusammen mit ihren Abstinenzler-Freundinnen herumläuft und Whiskeyfässer zerschlägt. Sie hat sich diese Suppe selbst eingebrockt, als sie beschloss, eine zweite Carrie Nation zu werden. Jetzt muss sie sie auch auslöffeln.«

Seine Worte riefen bei meiner Mutter einen neuerlichen Tränenschwall hervor. Alice stand auf, um sie zu trösten. Mein Vater hingegen seufzte nur tief und reichte mir seine leere Tasse. »Schenk mir doch bitte noch etwas ein, Harriet. Sei so gut.« Unser Mädchen hatte an diesem Vormittag frei, also ging ich gehorsam mit seiner Tasse in die Küche, um sie erneut mit Kaffee zu füllen. Doch ich kehrte so schnell wie möglich an den Tisch zurück, setzte mich wieder hin und wartete auf den zweiten Akt des Dramas.

»Bitte, John, ich flehe dich an«, bettelte meine Mutter. »Bitte hol sie aus diesem schrecklichen Gefängnis.«

»Und was noch dazukommt ...«, knüpfte mein Vater nahtlos an seine vorherige Argumentation an, »... was für ein Vorbild ist sie eigentlich für unsere Töchter?« Er goss Sahne in den Kaffee, den ich ihm gebracht hatte, und rührte so langsam und konzentriert um, als erwarte er keine Antwort.

Abgesehen vom Betteln und Weinen konnte meine Mutter nichts tun, um Grandma Bebe zu helfen – was irgendwie paradox war, da Grandma alles dafür tat, um Frauen zu mehr Macht zu verhelfen. Und Grandma Bebe verachtete Tränen. »Frauen sollten sie niemals als Waffen einsetzen«, proklamierte sie immer, »vor allem nicht, um einen Mann dazu zu bringen, dass er seine Meinung ändert.« Und doch war meine Mutter, so paradox es auch war, aufs Weinen verfallen, um meinen Vater umzustimmen. Grandma Bebe wäre das nicht recht gewesen.

Aber Grandma war im Gefängnis.

Und schließlich waren es die Tränen, die meinen Vater dazu brachten, in die Stadt zu gehen und sie auszulösen. Alice war ebenfalls in Tränen ausgebrochen, und mein Vater besaß nicht genug Stärke, um sich der Flut in den Weg zu stellen oder standhaft zu bleiben. Kein Mann war stark genug dazu. Das Herz meiner Schwester war so weich und klebrig wie Haferbrei. Sie konnte die Tränendrüsen auf- und zudrehen wie einen Wasserhahn und die salzige Flüssigkeit eimerweise produzieren.

Alice war sechzehn und so schön, dass selbst die intelligentesten Männer in ihrer Gegenwart zu stammelnden Idioten wurden. Sobald die ersten Tränen in ihre großen blauen Augen traten, zog jeder Mann in Sichtweite ein weißes Taschentuch aus seiner Tasche und reichte es ihr, als hisse er die weiße Flagge. Grandma Bebe hatte kein Verständnis für sie.

»Deine Schwester könnte unserer Sache sehr helfen«, hatte sie einmal zu mir gesagt. »Alice ist die Sorte Frau, für die Männer in den Krieg ziehen – wie Helena von Troja. Aber bei ihr ist diese Gabe

völlig vergeudet, fürchte ich. Sie fällt bestimmt auf den erstbesten Schwindler herein, der ihr Komplimente macht. Das ist bei Frauen wie ihr immer so. Schade.« Grandma seufzte schwer. »Deine Schwester glaubt die Lüge, dass die Frauen das schwache Geschlecht sind. Und: Ihr erstaunlicher Träneneinsatz erhält diesen Mythos aufrecht … Aber in dich setze ich einige Hoffnung, Harriet«, fügte Grandma Bebe hinzu. Immer wenn die Rede auf Alices umwerfende Schönheit kam, tätschelte Grandma mein störrisches braunes Haar und sagte: »Zum Glück bist du ein unscheinbares Kind. Du musst dich auf deinen Verstand verlassen.«

Die Tatsache, dass es Alice mit ihren Tränen war, die Grandma rettete, ist doch paradox, oder? Ich habe an jenem Morgen nicht zu der Tränenflut beigetragen. Ich wollte Grandma nicht enttäuschen.

Ich liebte meine Großmutter sehr und bewunderte ihre Wildheit und Leidenschaft. Natürlich waren das keine Eigenschaften, die von der vornehmen Gesellschaft geschätzt wurden, zumindest nicht bei Frauen, aber mich faszinierten sie. Trotzdem wollte ich nicht wie meine feurige Großmutter sein und eines Tages im Gefängnis enden. Ebenso wenig wollte ich eine gehorsame Ehefrau und Mutter oder eine tugendhafte Sirene wie Alice sein. Aber wie sollte ich als moderne Frau, die ich kurz vor dem Anbruch des zwanzigsten Jahrhunderts geboren worden war, sonst leben? Das war die Frage, mit der ich gerungen hatte, bevor ich im Gefängnis gelandet war.

Aber an jenem schicksalhaften Tag, an dem Grandma verhaftet wurde, war ich erst zehn und noch so klein, dass ich meistens gar nicht beachtet wurde, es sei denn, mein Vater wollte noch Kaffee. Ich war jedoch eine aufmerksame Beobachterin und sog alles, was um mich herum geschah, in mich auf. Währenddessen begann ich, einen Plan für mein Leben zu zeichnen. Grandma Bebe hatte mir erklärt, dass jedes Leben irgendwohin führe, also müsse ich einen Plan haben.

»Nimm das Ruder in die Hand und lenk selbst, Harriet. Lass dich nicht einfach treiben. Wenn du keine Karte hast, läufst du vielleicht

irgendwo auf Grund oder fährst gegen einen Felsen. Du musst immer wissen, wohin du willst.«

Sie hatte es aufgegeben, meine Mutter und Alice zu erziehen – die paradoxerweise jetzt ihre Retterinnen waren –, und stattdessen begonnen, mit allen Mitteln mich zu formen. Diese Entscheidung hatte sie getroffen, nachdem sie einmal Zeuge gewesen war, wie ich Tommy O’Reilly gegen das Schienbein getreten hatte, weil er versuchte, mich dazu zu zwingen, ihm meine Süßigkeiten zu geben. Tommy war der Sohn des Polizeichefs und er schikanierte alle Kinder in der Stadt. Aber an jenem Tag machte ich einen Schritt nach vorne, tat so, als wolle ich ihm meine Zimtstange geben, und trat ihm dann gegen das Schienbein.

»Du, meine Liebe, hast Potenzial!«, sagte Grandma, als Tommy jammernd auf einem Bein herumhüpfte. »Du wirst nie stromabwärts treiben, Harriet. Du weißt, wie man paddelt!«

Meine Karte war bisher noch eine Bleistiftskizze. Doch im Laufe der letzten Jahre hatte ich sie ausgeschmückt, und jede Einzelheit hatte das Bild ein wenig mehr vervollkommnet. Mit der Zeit hatte ich gelernt, die Gefahren zu erkennen, denen ich aus dem Weg gehen musste, und all die Fallen, vor denen ich mich besser in Acht nahm. Ich versuchte stets, Grandmas Rat zu befolgen, aber hatte sie selbst ihn befolgt? Hatte sie sich absichtlich ins Stadtgefängnis begeben oder hatte sie das Ruder losgelassen? Oder war ihr ihre Karte etwa abhandengekommen? Ich nahm mir fest vor, sie danach zu fragen, falls sie jemals wieder aus dem Gefängnis kommen sollte.

»Bitte, Papa, bitte!«, bettelte Alice. Inzwischen kniete sie zu seinen Füßen, was mich spontan an die Fußwaschung in der Bibel denken ließ. »Bitte lass Grandma nicht für immer dort!« Alice hatte sich in eine solche Hysterie hineingesteigert, dass sie kurz davor war, in Ohnmacht zu fallen. Sie war Weltmeisterin im Ohnmächtigwerden – noch eine der weiblichen Eigenschaften, die Grandma hasste. Alice brauchte nur ihre zierliche Hand an die Stirn zu führen und mit den Wimpern zu klimpern, und schon rannte jeder Mann in Sichtweite los, um sie aufzufangen, bevor sie in sich zusammensackte.

Mein Vater stellte seine Kaffeetasse ab und wandte sich mir zu. »Hol das Riechsalz, Harriet, sei so gut.«

Alice kniete noch immer, sodass sie diesmal wenigstens nicht weit fallen konnte. Während ich nach oben rannte, um das Fläschchen Ammoniaksalz zu holen, hörte ich meinen Vater sagen: »Also gut. Ihr könnt aufhören zu heulen. Ich gehe und hole Beatrice aus dem Gefängnis.«

Ich konnte es meinem Vater nicht verübeln, dass er vor den steigenden Fluten floh. Schnell rannte ich in die Küche zurück, zog den Korken aus dem Riechsalzfläschchen und hielt es unter Alices zierliche Nase. Als alles wieder in Ordnung war, folgte ich meinem Vater in die Diele.

»Darf ich mitkommen, um Grandma zu retten?«

»Kommt nicht infrage! Ein Gefängnis ist kein Ort für eine feinfühlige junge Dame.«

Damals glaubte ich ihm nicht, aber jetzt, wo ich in meiner eigenen Gefängniszelle lag, wurde mir bewusst, dass er recht gehabt hatte.

Mein Vater nahm seinen Mantel und die Autohandschuhe vom Garderobenhaken. Dann setzte er den Hut auf seinen langsam kahl werdenden Kopf und murmelte missmutig etwas über Grandma Bebe vor sich hin, während er zur Tür hinausging. Ich begleitete ihn hüpfend und nickte immer wieder zustimmend. Während mein Vater den Ford Modell T anließ, sprang ich auf den Beifahrersitz. Das Auto knatterte und hustete bis zur nächsten Straßenecke, bevor meinem Vater bewusst wurde, dass ich immer noch da war.

»Warte! Harriet … was … du kannst nicht mitkommen!«

Ich bettelte und weinte nicht. Ich sah ihn nur an, sah ihm direkt in die Augen, das Kinn ein wenig vorgereckt. So blickte ich Tommy O’Reilly immer an, wenn er in der Schule versuchte, mich zu schikanieren – ich starrte ihn wortlos an, die Arme verschränkt, den Fuß auf sein Schienbein gerichtet. Der Blick, den ich meinem Vater zuwarf, war nicht ganz so trotzig wie der, den ich bei Tommy gebrauchte, aber er hatte die gleiche Wirkung.

»Ach, was soll’s, Harriet! Jetzt bist du nun mal da …« Mein Vater

wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Auto zu, das spuckte und beinahe verendete.

»Du musst das Drosselventil ein bisschen weiter ziehen«, sagte ich und zog an dem Griff. »Und zünde den Motor ein bisschen vor.«

»Aber du kommst nicht mit hinein, Harriet. Das meine ich ernst.

Ein Gefängnis ist kein Ort … und deine Großmutter hat nicht das Recht …«

Ich nickte gehorsam – und folgte ihm trotzdem in die Polizeiwache.

Mein Vater ging direkt zu Thomas O’Reilly senior, dem Polizeichef. Er erzählte uns, dass Grandma Bebe verhaftet worden war, nachdem sie am Abend zuvor versucht hatte, den Saloon zu schließen. Die meisten anderen Mitglieder der Abstinenzvereinigung Christlicher Frauen waren friedlich nach Hause gegangen, als die Polizei kam, um die Demonstration zu beenden, aber Grandma nicht. Sie hatte sich geweigert, den Kampf gegen den Teufel Rum aufzugeben.

»Ich fürchte, ich musste ihre Axt konfiszieren«, beendete Thomas O’Reilly seinen Bericht.

Mein Vater nickte und zahlte die geforderte Strafgebühr. Im Handumdrehen war Grandma Bebe wieder auf freiem Fuß. Wir hörten sie schon von Weitem. Ihr Protest schallte unüberhörbar den Gang hinunter, als ein Polizist versuchte, sie aus ihrer Zelle zu holen.

»Nein, warten Sie! Lassen Sie mich sofort los! Ich will noch nicht gehen! Dieses Gefängnis ist voller Betrunkener – genau die Leute, die ich retten will.«

Constable O’Reilly verdrehte die Augen. »Es war eine sehr lange Nacht, John. Bringen Sie sie hier raus. Bitte.«

»Wussten Sie«, fuhr Grandma fort, während der Polizist ihr ihre Handtasche und den Mantel wiedergab, »dass in diesem Land ein Saloon auf dreihundert Menschen kommt? Das sind mehr Saloons als Schulen, Büchereien, Krankenhäuser, Theater oder Parkanlagen – und ganz sicher sind es mehr Saloons als Kirchen.«

Wir fuhren Grandma nach Hause.

Wie die tapferen Soldaten, die fünfundvierzig Jahre zuvor in den Krieg gezogen waren, um für die Abschaffung der Sklaverei zu kämp-

fen, war meine Großmutter bereit, wenn nötig ihre eigene Freiheit zu opfern, um Männer von der Sklaverei des Alkohols zu befreien. Und das war das größte Paradox, dachte ich, während ich auf der klumpigen Gefängnismatratze lag und über meine eigene Verhaftung nachdachte. Grandma Bebe hatte vor Kurzem den Kampf gegen den Teufel Rum gewonnen. Der achtzehnte Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten war erst vor wenigen Monaten, am 16. Januar 1920, Gesetz geworden und hatte die Herstellung, den Verkauf und den Transport von alkoholischen Getränken streng verboten. Und ich saß im Gefängnis, weil ich mich darüber hinweggesetzt hatte.

Ja, ich fand meine Lage wirklich paradox. Für mich würde es keine Tränen des Mitgefühls von meiner Mutter oder Alice geben – und von Grandma Bebe natürlich erst recht nicht. Und mein Vater würde mit Sicherheit sagen: »Du hast dir die Suppe eingebrockt, Harriet, also musst du sie jetzt auch auslöffeln.«

Aber wie war ich eigentlich zur Kriminellen geworden? Über diese Frage dachte ich bereits die ganze Nacht lang nach. Vielleicht fände sich die Antwort am ehesten, wenn ich ganz vorne anfing.

Kapitel 2

Meine Großmutter war in jungen Jahren überhaupt nicht selbstsicher. Ich kann mir das zwar nicht vorstellen, weil ich weiß, was für eine Frau sie heute ist, aber sie hat geschworen, es sei wahr, und meine Großmutter lügt nicht. »Das Selbstbewusstsein, das ich inzwischen habe, ist aus der Notwendigkeit heraus entstanden, Harriet«, behauptete sie immer steif und fest. »Ich wurde ohne das geringste Selbstbewusstsein geboren. Man könnte sogar sagen, ich war das genaue Gegenteil.«

Sie wurde im nordöstlichen Zipfel von Pennsylvania geboren, auf dem Hof ihrer Eltern, der in einem Tal der Pocono Mountains lag. Beatrice Aurelia Monroe erblickte an demselben Tag das Licht der Welt, an dem die erste Women’s Rights Convention stattfand: am 19. Juli 1848. Natürlich war sie am Tag ihrer Geburt noch zu klein, um zu erkennen, welch bedeutungsschwerer Zufall das war, aber später sollte sie ihren Geburtstag als Wink des Schicksals bezeichnen.

Während Elizabeth Cady Stanton, Lucretia Mott und die anderen Mitglieder der illustren Gruppe von Frauen in Seneca Falls, New York, eine Erklärung unterzeichneten, die Männer und Frauen gleichberechtigt erklärte und das Wahlrecht für Frauen forderte, und damit den ersten Schuss im Kampf für die Frauenrechte abfeuerten, kämpfte meine Urgroßmutter Hannah Monroe ebenfalls, und zwar mit den Wehen. Sie kämpfte damit, Grandma Bebe zur Welt zu bringen – die so kühn war, rückwärts herauszukommen. Bebe war prädestiniert dafür, alles im Leben auf unkonventionelle Weise zu tun, und ihre Ankunft mit den Füßen zuerst war nur der Anfang. Außerdem war sie so vermessen, ein Mädchen zu sein. Ihr Vater, Henry Monroe, hatte seiner Frau befohlen, einen Jungen zu bekommen – was mir ein wenig selbstsüchtig erscheint, denn er hatte bereits vier Söhne: James, neun Jahre alt, William, sieben, Joseph, fünf, und Franklin, drei Jahre alt.

»Was soll das heißen, er ist ein Mädchen?«, fragte ein entrüsteter Henry die Hebamme, als sie ihm die Neuigkeit mitteilte. Er stapfte mit seinen Arbeitsstiefeln ins Schlafzimmer und warf einen Blick in die Windel des Babys, weil er davon überzeugt war, dass die Hebamme ein wichtiges Detail übersehen hatte. Als ihm klar wurde, dass dem nicht so war, gab er das heulende Bündel seiner Frau zurück. »Das sollte ein Junge werden, Hannah. Ein Mann kann nie genug Söhne haben, die ihm helfen.«

»Ich weiß, mein Lieber«, sagte sie sanft, »aber der gütige Gott hat es für richtig befunden, uns diesmal eine Tochter zu schenken.«

Vielleicht hatte der gütige Gott erkannt, dass Hannah auch etwas Hilfe brauchen konnte. Hannah jedenfalls betrachtete ihre kleine Tochter als Gottes ganz besonderes, wundervolles Geschenk. Sie blickte auf das Baby hinunter und lächelte, als Henry aus dem Zimmer stürmte. »Mach dir nichts daraus, mein Kleines. Er ist immer gereizt, wenn er sein Essen nicht pünktlich bekommt.«

Das Essen war an diesem Tag nicht pünktlich, weil Beatrice verkehrt herum herausgekommen war und länger als geplant gebraucht hatte. Aber Hannah war eine gottesfürchtige Christin, und so kamen die anderen Frauen der Kirchengemeinde schnell zum Hof herausgefahren, um ihre eigenen Mahlzeiten mit Hannahs missmutigem Mann und den vier hungrigen Söhnen zu teilen, sobald die Hebamme die Nachricht von der Ankunft des Babys in dem kleinen Dorf New Canaan, Pennsylvania, verbreitete. Natürlich war die Speisekammer gefüllt mit Vorräten und Speisen, die Hannah für die Zeit ihrer Niederkunft zubereitet hatte, aber Henry und die Jungen waren nicht in der Lage, sich in einen so weiblichen Bereich wie die Speisekammer zu begeben, um sich ihr Essen selbst zu holen. Und noch weniger konnten sie irgendetwas davon auf dem Herd erwärmen.

Nachdem Henrys Magen erst einmal gefüllt war, schien sich seine Haltung gegenüber seiner neuen Tochter ein wenig abzumildern. »Na ja, wir werden uns schon daran gewöhnen und das Beste daraus machen«, knurrte er, als er am Abend seine Stiefel auszog und sich neben seine Frau ins Bett legte. »Es gibt ja immer noch das nächste Mal.«

Hannah schluckte eine vorschnelle Erwiderung angesichts der Erwähnung eines »nächsten Mals« herunter. Die Erinnerung an die qualvolle Steißgeburt war noch sehr frisch. Stattdessen flüsterte sie ein schnelles, leises Gebet zum Allmächtigen. Dann legte sie die Hand auf den Arm ihres Mannes und sagte: »Sie ist ein wunderschönes, gesundes Baby – dafür sei Gott gedankt. Ich würde sie gerne Beatrice nennen, wenn es dir recht ist. Beatrice Aurelia Monroe.«

Henry antwortete erst am nächsten Morgen auf Hannahs Bitte, nachdem sie ihm das Frühstück gemacht und es vor ihn auf den Tisch gestellt hatte. Er zerkaute langsam ein Stück Schinkenspeck und sagte dann: »Den Namen könnte man wohl nehmen.«

Hannah hatte in den zehn Jahren ihrer Ehe gelernt, sich in Geduld zu üben. Vor Mittag hatte sie keine Antwort erwartet. Henry brauchte genügend Zeit, um über solche Dinge zu beten, und er hatte es nicht gerne, wenn man ihn drängte.

Der dreijährige Franklin, der »Beatrice« nicht aussprechen konnte, verkürzte den Namen des Babys zu Bebe. Dieser Name blieb hängen, und so nennen meine Schwester und ich sie heute, zweiundsiebzig Jahre später, immer noch Grandma Bebe.

Nach dem, was sie erzählte, verliefen die ersten Jahre ihres Lebens ohne besondere Vorkommnisse. Sie wuchs zu einem stillen, ängstlichen Kind heran, was verständlich war, weil alle anderen auf dem Hof größer, lauter und stärker waren als sie. Mit vier älteren Brüdern, denen sie aus dem Weg gehen musste – sowie einem Pferdegespann, einem Paar Ochsen und einer Herde Milchkühe –, schien es manchmal so, als gäbe es eine Verschwörung, die arme Bebe zu zertrampeln. Der erste Satz, den sie als Kleinkind verstand, lautete: »Geh aus dem Weg, Bebe!«

»Ich war ein schreckhaftes Kind«, erzählte sie mir, »vielleicht weil ich viel Zeit damit zubrachte, mich vor Dingen zu erschrecken. Und so scheu! Ich weinte schon, wenn ein harmloser Hut zu Boden fiel –und es gab jede Menge Gelegenheiten, bei denen etwas sehr viel weniger Harmloses zu Boden fiel: Hacken und Heuballen, Räder und Winden, Stiefel, Eimer und Metzgerblöcke.«

Ich versuchte mir vorzustellen, wie es war, in einem Haus aufzuwachsen, in dem überall Metzgerblöcke herunterfielen, und zuckte unwillkürlich zusammen. Als ich mich bei Grandma genauer danach erkundigen wollte, sagte sie: »Frag lieber nicht, Harriet! Die Sache mit dem Metzgerblock hat mein Bruder William verbrochen. Er hat immer etwas ausgefressen und dabei Leib und Leben riskiert. Deshalb waren wir auch alle so überrascht, als Joseph sein Leben verlor und Franklin ein Bein. Diese Tragödien ereigneten sich natürlich viele Jahre nach dem Zwischenfall mit dem Metzgerblock, aber wir mussten alle daran denken.«

Grandma Bebe erzählte eine Geschichte nie der Reihe nach. Um ihr Leben zu verstehen, musste ich all ihre erstaunlichen Äußerungen wie ein riesiges Puzzle zusammensetzen, aber ich hatte ja zufällig viel Zeit, jetzt wo ich in dieser Gefängniszelle ausharrte, während ich versuchte herauszufinden, wie ich hier gelandet war – und was ich deshalb unternehmen sollte –, fingen ihre eigentümlichen Geschichten allmählich an, einen Sinn zu ergeben.

Bebes Brüder waren wilde, ungezügelte Jungen, denen es großes Vergnügen bereitete, ihr Leben jeden Tag aufs Neue und auf noch kreativere Weise aufs Spiel zu setzen. In einem Sommer knoteten sie ein Seil an den Ast der großen Eiche, die am Rand des Hofes ganz in der Nähe des Flusses stand. Sie bohrten ein Loch in ein altes Brett, fädelten das abgewetzte Seil hindurch und verknoteten es so unter dem Brett, dass es einen Sitz bildete. Bebe sah aus sicherer Entfernung zu, wie die Jungen abwechselnd darauf schaukelten und immer höher und höher schwangen, wobei sie manchmal herunterfielen und sich die Knie aufschürften und ihren Köpfen weitere Beulen hinzufügten. Sie fragte sich, was es wohl für ein Gefühl sein mochte, auf dieser Schaukel durch die Luft zu fliegen, den blauen Himmel über sich, den Wind in den Haaren. Aber obwohl sie sich danach sehnte, es auszuprobieren, hielt die Angst sie immer zurück.

Eines Tages, als es so heiß war, dass man die Hühner direkt auf der Stange hätte braten können, beschloss William, mit der Schaukel über den Fluss zu schwingen, im richtigen Moment das Seil loszulas-

sen und sich in das Wasser mehrere Meter unter ihm fallen zu lassen ungeachtet der unnachgiebigen Felsen. In jenem Frühjahr hatte es wochenlang geregnet und der reißende Fluss sah aus, als suche er nach einem Opfer, das er ertränken könne. Aber als William heil wieder an die Oberfläche kam, machten Bebes andere Brüder es ihm nach und sprangen ins Wasser, als wären sie erpicht darauf, Jesus zu begegnen. Bebe sah vom Weg aus zu, weil sie Angst vor den Schlangen hatte, die in dem hohen Gras am Fluss lebten. James und Joseph hatten einmal eine dicke, glänzende Schlange von fast einem Meter Länge gefangen und Bebe beinahe zu Tode erschreckt, als sie in den Stall gerannt gekommen waren und ihre Beute von den Zinken der Heugabel hatten baumeln lassen.

Nachdem die ersten fünf Jahre von Grandma Bebes nervösem Leben vergangen waren, trat eine entscheidende Veränderung ein. Harriet Beecher Stowe hatte 1852 ihr Buch Onkel Toms Hütte veröffentlicht, und als ein Exemplar davon in New Canaan eintraf, reichten die Damen aus der Gemeinde das bald zerlesene Buch herum. Hannah las es beim Schein der Lampe im Wohnzimmer und weinte. Bebe hatte ihre kräftige, fromme Mutter noch nie zuvor weinen sehen und eilte schnell herbei, um sie zu trösten.

»Was ist denn, Mama?«

»Es ist das Buch, das ich gerade lese, Beatrice, Liebes. Es beschreibt den Alltag von Sklaven in unserem Land, und es ist einfach entsetzlich. Stell dir vor, jemandem zu gehören! Denk doch nur, wie schrecklich es wäre, als Besitz eines anderen betrachtet und für minderwertig gehalten zu werden. Stell dir vor, du hättest kein eigenes Leben, sondern wärst gezwungen, Tag und Nacht jemandem zu gehorchen ohne Macht und ohne jedes Mitspracherecht.«

In den nächsten Monaten sprach Hannah immer wieder von der Not der Sklaven, egal ob Bebe und sie Brotteig kneteten oder Hühner rupften oder die Wäsche schrubbten. Sie redete davon, während sie Unkraut jäteten, Kartoffeln schälten, die Böden wischten und neue Kleider für die Familie nähten.

»Ich glaube, der Allmächtige hat mich dazu berufen, etwas für die-

se armen, bemitleidenswerten Menschen zu tun«, beschloss Hannah an einem Nachmittag im Herbst, während sie Fett ausließ, um Seife für den Haushalt herzustellen. Angetrieben von ihrem Gewissen versammelte sie all die anderen Frauen, die das Buch gelesen hatten, in der Dorfkirche und hielt ein Treffen ab. Gemeinsam beschlossen sie, einen Ortsverein der Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei zu gründen. Henry unterstützte die Sache, nachdem er das Buch ebenfalls gelesen hatte. Er erlaubte Hannah sogar, den Wagen anzuspannen, wenn er ihn nicht brauchte, und damit in die Stadt zu fahren, um an den Versammlungen der Gesellschaft teilzunehmen. Bebe begleitete ihre Mutter oft und beobachtete und lauschte.

Zuerst ähnelten die Versammlungen zur Abschaffung der Sklaverei einem Sonntagsgottesdienst. Es gab viel Gebet und das Singen von Chorälen gehörte zu den Hauptprogrammpunkten. Aber dann schmiedeten die Frauen einen Schlachtplan und legten die Strategie für ihren Kampf fest. Sie schrieben unzählige Briefe und sandten immer neue Petitionen an die Regierung in Washington. Sie sammelten Geld, um Traktate gegen die Sklaverei drucken und verteilen zu können. Hannah leistete ihren Beitrag für die Sache, indem sie ein zusätzliches Dutzend Hühner aufzog und die Eier verkaufte zusammen mit dem, was an Gemüse aus ihrem Garten übrig war.

Hin und wieder schickte der Ortsverein der Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei in Philadelphia einen Referenten nach New Canaan, um über die Fortschritte zu berichten. Ein Redner erzählte ihnen, wie die Gesellschaft Sklaven bei der Flucht half, nämlich einem nach dem anderen, über eine unsichtbare »Untergrundbahn«. Bebe schoss der Gedanke durch den Kopf, dass die Gesellschaft sehr lange brauchen würde, um ihr Ziel zu erreichen, wenn die Sklaven einzeln fliehen mussten. Schließlich waren Millionen von Männern, Frauen und Kindern versklavt.

Dann, eines Nachts im Frühling, erwachte Bebe von einem heftigen Unwetter. Voller Angst und Schrecken angesichts des heulenden Windes und der grellen Blitze rannte sie nach unten ins Schlafzimmer ihrer Eltern und kroch zu ihrer Mutter ins Bett. Sie zitterte am

ganzen Körper. »›Gott ist unsre Zuversicht und Stärke‹«, flüsterte Hannah ihr die Worte ihres Lieblingspsalms zu. »›Darum fürchten wir uns nicht … wenngleich das Meer wütete und wallte …‹«

Bebe dachte, das Hämmern käme vom Wind, bis ihr Vater sagte: »Ich glaube, da ist jemand an der Tür.«

Er stand auf, um nachzusehen. Mama zog sich ihren Morgenmantel über und folgte ihm in den Flur. Als ein Blitz das Zimmer taghell erleuchtete, sprang Bebe aus dem Bett, rannte hinter den beiden her und umklammerte Hilfe suchend das Bein ihrer Mutter.

»Kommen Sie rein, kommen Sie rein«, hörte sie ihren Vater sagen, als er die schwere Eichentür öffnete. »Bei diesem schrecklichen Wetter sollte man nicht draußen unterwegs sein.« Henry war so groß und kräftig wie die massive Haustür und hatte vor nichts und niemandem Angst. Er ließ den durchnässten Fremden ohne Zögern eintreten.

»Vielen Dank, Sir. Das ist sehr freundlich«, sagte der Mann. Er stand völlig durchnässt im Flur und zitterte.

»Was ist mit Ihrem Pferd?«, fragte Henry und warf einen Blick auf das Tier, das an den Pfahl vor dem Haus gebunden war und den Kopf hängen ließ.

»Also … wenn Sie mir gestatten wollen, mein Anliegen schnell vorzutragen, Mr Monroe? Sollten Sie nicht in der Lage sein, mir zu helfen, muss ich zum nächsten Bahnhof weiterreiten.«

»Sie kennen meinen Namen – sind wir einander schon begegnet?«, fragte Henry überrascht. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, eine Lampe anzuzünden, sondern verließ sich in Sachen Beleuchtung auf die gelegentlichen Blitze.

Hannah trat einen Schritt vor. »Ich glaube … ich glaube, ich kenne Sie, Sir. Sie sind aus Philadelphia, nicht wahr? Haben Sie nicht den ehemaligen Sklaven begleitet, der im August bei der Versammlung unserer Gesellschaft gesprochen hat?«

»Das stimmt, Mrs Monroe. Ich heiße … aber vielleicht ist es besser, wenn Sie mich einfach John Smith nennen.« Er nahm höflich den Hut vom Kopf, wobei sich von dessen Krempe ein wahrer Wasserfall

ergoss. »Ich bin froh, dass Sie mich erkannt haben. Das erleichtert mir meine Bitte. Wissen Sie, ich habe ein … ein Paket … das ich an einen Bahnhof in dieser Gegend liefern muss. Ich habe gehört, dass Sie Anteile an unserer Bahn haben, Mrs Monroe?«

Henry starrte Mr Smith an, als bereue er seine Entscheidung, die Tür zu öffnen. Aber Bebe, die jetzt hellwach war, hatte an genügend Versammlungen der Antisklavereibewegung teilgenommen, um zu wissen, wovon Mr Smith redete. Er musste ein Schaffner bei der sogenannten Untergrundbahn sein. Das »Paket« war ein geflohener Sklave, für den eine Zuflucht in einem sicheren Haus oder »Bahnhof« entlang der Bahnlinie gesucht wurde und als Anteilseigner wurde jeder bezeichnet, der Geld oder Waren für die Sache spendete, so wie Hannah und ihre Freundinnen es taten.

»Ja, das ist richtig, Mr Smith. Ich habe Anteile«, sagte Hannah lächelnd. »Henry, bring das Pferd unseres Gastes besser in den Stall, damit es nicht im Regen stehen muss. Dieses Gespräch könnte eine Weile dauern. Ich mache derweil ein Feuer und setze Kaffee auf.«

Henry schnappte sich seinen Mantel und ging mit Mr Smith hinaus. Bebe folgte ihrer Mutter in die Küche. Schweigend sah sie zu, wie sie eine Lampe anzündete, Feuerholz zusammensuchte und das Feuer schürte. Hannah schien Bebes Aufmerksamkeit gar nicht zu bemerken, bis sie auf dem Weg zur Speisekammer mit ihr zusammenstieß.

»Beatrice, Liebes, warum gehst du nicht zurück ins Bett?«, sagte sie und strich ihr übers Haar. »Das Gewitter ist schon fast vorbei.«

Noch immer zuckten Blitze, doch der Donner war nur noch ein fernes Grollen in den Bergen. Bebe hörte, wie der Regen auf das Dach der hinteren Veranda prasselte, und wusste, dass ihr Vater auf dem Weg zum Stall bis auf die Knochen nass werden würde. »Ich möchte helfen, Mama.«

Sie meinte, dass sie mit dem »Paket« helfen wollte, aber ihre Mutter verstand sie falsch. »Na gut … dann hol einen tiefen Teller und ein paar Tassen. Vielleicht möchte Mr Smith etwas Suppe essen, damit ihm warm wird.«

Als die Männer wiederkamen, loderte das Feuer im Herd. Hannah hängte ihre beiden Mäntel dahinter, damit sie schneller trockneten, und schon bald erfüllte der saure Geruch von nasser Wolle die Küche. Ohne seinen dicken Mantel erwies sich Mr Smith als schmal gebauter Mann, der einen Stadtanzug und feine Lederschuhe trug. Er ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen und sah so schlapp und blass aus wie ein gerupftes Hühnchen. Bebe beobachtete, wie die Farbe nach und nach in sein bleiches Gesicht zurückkehrte, während er seinen Kaffee hinunterstürzte und einen Teller von der übrig gebliebenen Suppe aß. Sein blondes Haar kräuselte sich zu zarten Löckchen, während es trocknete.

»Was können Sie uns über dieses Paket erzählen?«, fragte Hannah. »Wann kommt es denn an?«

»Vielleicht sollte ich zuerst erklären, dass wir normalerweise keine Pakete an Bahnhöfe liefern, auf denen kleine Kinder leben.« Er warf Bebe einen Blick zu. »Seit das Gesetz zur Auslieferung flüchtiger Sklaven erlassen wurde, ist dieses Geschäft viel zu gefährlich geworden. Wir wollen schließlich kein junges Menschenleben aufs Spiel setzen. Und wenn ein Paket in Ihrem Besitz entdeckt wird ...«

»Der gütige Gott kann meine Kinder und mich beschützen«, unterbrach ihn Hannah. »Wir müssen Gott gehorchen, nicht einem Gesetz, das Unrecht legalisiert. In der Bibel steht, dass wir die Hungrigen speisen und die Nackten bekleiden und die Zugrundegehenden retten sollen.«

Der Fremde lächelte schwach. »Ich bin froh, dass Sie das so sehen, Mrs Monroe.« Er schlang die Finger um seinen Kaffeebecher, um sie zu wärmen.

»Was führt Sie zu uns heraus, Mr Smith?«, fragte Bebes Mutter. »Ich wusste nicht, dass die Untergrundbahn durch New Canaan führt.«

»Das tut sie auch nicht, aber wir sind in einer schwierigen Lage. Kopfgeldjäger haben unsere üblichen Bahnlinien entdeckt, und unsere sicheren Häuser sind dadurch einfach nicht mehr sicher. Wir sind gezwungen, die Bahn in neue Gebiete vordringen zu lassen, und

wir haben uns daran erinnert, wie treu Ihr Ortsverein uns in der Vergangenheit unterstützt hat. Ich habe mit Ihrem Pastor gesprochen, und er war der Meinung, dass unser Paket hier draußen auf Ihrem Hof sicherer sei als in der Stadt, wo die falsche Person es sehen könnte. Es ist sehr schwer zu wissen, wem man vertrauen kann, wissen Sie?«

»Uns können Sie vollkommen vertrauen«, sagte Hannah. »Wie können wir helfen?«

»Wir brauchen nur vorübergehend einen Ort zum Schlafen, Essen und Warten für unser Paket, bis der Weg zum nächsten Bahnhof frei ist. Ich weiß nicht, wie lange das dauern wird. Wir bitten Sie, ein ungeheures Risiko einzugehen, wie Sie wahrscheinlich wissen. Wenn Sie erwischt werden, kann es sein, dass Sie tausend Dollar Strafe zahlen und sechs Monate ins Gefängnis gehen müssen. Aber wenn Sie bereit sind, uns dennoch zu helfen, wären wir Ihnen wirklich sehr dankbar. Wir müssen unser Paket einfach bis nach Kanada bringen. Es ist schon so lange unterwegs.«

»Ich muss darüber beten«, sagte Henry Monroe. Er stand so abrupt auf, als wolle er auf der Stelle zum himmlischen Thron gehen, um den Allmächtigen zu Rate zu ziehen. »Können Sie auf meine Antwort warten?«

»Natürlich. Ich verstehe das. Ich warte.«

Aber Bebe fragte sich, ob der Fremde wirklich wusste, worauf er sich da einließ. Wusste er, wie lange es normalerweise dauerte, bis ihr Vater über etwas gebetet und sich entschieden hatte? Es konnte gut sein, dass Mr Smith warten musste, bis der nächste Wurf Ferkel geboren, gemästet, geschlachtet und zu Schinken verarbeitet worden war.

»Ich mache Ihnen ein Bett, Mr Smith«, bot Hannah an. »Sie sollten versuchen, etwas zu schlafen. Es sind noch einige Stunden bis Tagesanbruch.«

»Ich möchte Ihnen keine Mühe machen.«

Hannah schüttelte den Kopf. »Es ist überhaupt keine Mühe.«

»Wenn Sie sich sicher sind ... Ich bin die ganze Nacht geritten …«

Hannah warf William aus seinem warmen Bett und steckte ihn zu James und Franklin unter die Decke, damit Platz für den Gast war. Bebe kroch zurück in ihr eigenes Bett, aber sie hatte Mühe einzuschlafen. Bald würde sich hier vielleicht ein echter geflohener Sklave verstecken in ihrem Haus! Sie war zugleich ängstlich und gespannt.

Bei einer der Versammlungen der Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei, an denen ihre Mutter teilgenommen hatte, hatte Bebe zum ersten Mal einen Menschen mit schwarzer Haut gesehen. Gesicht und Arme des Mannes hatten die Farbe von dunkler, süßer Melasse gehabt, und sie hatte zuerst gedacht, er wäre in ein Fass mit Brombeeren gefallen. Doch ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass sich die Farbe nicht abwaschen ließ, selbst dann nicht, wenn man den Mann ganz lange mit Seifenlauge abschrubbte.

»Die Schwarzen wurden versklavt, Beatrice, und das nur, weil ihre Haut eine andere Farbe hat als unsere«, hatte sie gesagt. »Aber in der Bibel steht, dass Gott einen Menschen nicht so ansieht wie wir. Der Mensch sieht, was äußerlich ist, aber Gott sieht das Herz an.«

»Ist das Herz von diesem Mann so schwarz wie seine Haut?«

»Nein, sein Herz ist überhaupt nicht schwarz, denn er hat Jesus lieb. Unsere Sünden machen unser Herz schwarz, aber Jesus kann jedes Herz so weiß wie Schnee waschen.« Dieses Gespräch hatte Bebe verwirrt. Sie hatte sich gefragt, warum Jesus die Haut des Sklaven nicht ebenso weiß wusch wie sein Herz, damit er kein Sklave mehr sein musste. Sie hatte die schöne Hautfarbe dieses Mannes nie vergessen – und jetzt würde ein Sklave wie er auf ihren Hof kommen.

Am nächsten Morgen, als Bebe die Nase in das Zimmer ihrer Brüder streckte, um zu sehen, ob Mr Smith noch schlief, waren alle Betten leer. Unten in der Küche war der Besuch auch nicht. »Ist Mr Smith ...?«

Hannah bedeutete ihr zu schweigen. Ihr Vater und ihre Brüder kamen gerade von der Erledigung ihrer morgendlichen Arbeiten zurück ins Haus und brachten Dreck, frische Milch und den Duft von Kühen mit. »Wir reden später«, sagte Hannah. »Setz dich und iss deine Brötchen.«

Die Jungen frühstückten ebenfalls und machten sich dann auf den Weg zur Schule. Während Bebe ihrer Mutter beim Spülen und Abtrocknen des Geschirrs half, erklärte Hannah ihr, dass Mr Smith noch in der Morgendämmerung abgereist war.

»Hat Papa sich wegen dem Paket entschieden?«

Hannah nickte. »Es wird in ein paar Tagen eintreffen.«

Diese Nachricht verwunderte Bebe. Sie hatte noch nie erlebt, dass ihr Vater so schnell eine Entscheidung getroffen hatte. Er betonte immer, wie wichtig es war, »vor dem Herrn zu warten«, wenn man eine Antwort von Gott wollte, und das Warten dauerte für gewöhnlich sehr lange. Der Herr musste ihren Vater diesmal aus der Schlange heraus gleich nach vorne geholt und ihm direkt eine Antwort gegeben haben.

»Aber hör mir gut zu, Beatrice. Was ich jetzt sage, ist sehr wichtig.« Hannah hockte sich hin, damit sie Bebe direkt in die Augen schauen konnte, und legte ihr die Hände auf die dünnen Schultern. »Dein Papa und ich haben beschlossen, deinen Brüdern nichts von Mr Smith oder dem Paket zu erzählen. Je mehr Menschen davon wissen, desto gefährlicher wird es für die arme Seele, die zu fliehen versucht. Wenn einer deiner Brüder sich verplappert und aus Versehen in der Schule jemandem davon erzählen sollte, wären wir alle in Gefahr. Verstehst du?«

Bebe nickte ernst.

»Versprichst du, dass du kein Wort sagst? Zu niemandem?«

»Ich verspreche es.« Niemand hatte ihr je zuvor ein so wichtiges Geheimnis anvertraut – und die Tatsache, dass ihre Brüder nichts davon wussten, ließ Bebe innerlich lächeln.

»Du fürchtest dich doch nicht, oder, Beatrice?«

»Nein.«

Sie war starr vor Angst.

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