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Lynn Austin

im sand der erinnerung

»Der Herr vergelte dir deine Tat, und dein Lohn möge vollkommen sein bei dem Herrn, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, dass du unter seinen Flügeln Zuflucht hättest.«

Ruth 2,12

»Das entscheidende Paradigma der jüdischen Religion ist die Erlösung. […] Die Juden haben ihr Wort gegeben, dass sie weiter als ein Volk in ganz besonderer Weise leben werden, sodass ihr Leben Zeugnis ablegt […] von einer letzten, allgemeingültigen Erlösung.«

Rabbi Irving Greenberg, The Jewish Way

Kapitel 1

Tel Aviv, Israel – 1999

Nichts, was Abigail MacLeod bisher erlebt hatte, hatte sie auf den Schock vorbereitet, Benjamin Rosen in ihren Armen sterben zu sehen. Sie war allein auf dem Ben-Gurion-Flughafen, Tausende Meilen weit weg von ihrer Heimat Indiana, Lichtjahre entfernt von ihrem Alltag als Ehefrau, Mutter und Lehrerin. Benjamin Rosen war von der Kugel eines Attentäters getroffen worden. Sein Tod war so gewaltsam, so unerwartet gewesen, dass sie seinen leblosen Körper nur ungläubig im Arm halten und hoffen konnte, sie würde gleich aus diesem Albtraum erwachen. Aber Mr Rosens Blut – das ihr Baumwollkleid durchweichte und den Stoff an ihrer Haut kleben ließ – fühlte sich zu warm, zu echt an, um Teil eines Traumes zu sein.

Sie hätte den Atlantik nie überqueren sollen. Das Meer war offensichtlich die Trennlinie zwischen dem normalen Leben und dem Chaos. Andererseits – war ihr Leben nicht schon chaotisch gewesen, bevor sie am Morgen zuvor von zu Hause aufgebrochen war? Diese Pilgerreise nach Israel sollte für sie mit ihren zweiundvierzig Jahren eigentlich ein Neuanfang sein, aber bis jetzt hatte sie bereits ihr gesamtes Gepäck verloren, war trotz einer Bombendrohung gezwungen worden, ein israelisches Verkehrsflugzeug zu besteigen, und hatte hautnah miterlebt, wie der freundliche, väterliche Herr, den sie während des Fluges kennengelernt hatte, mitten in der Ankunftshalle des Flughafens von Tel Aviv gestorben war.

Die Polizeibefragung, die folgte, war wie eine Szene aus einer der Krimiserien, die sich ihr Mann so gerne im Fernsehen anschaute. Nur konnte Abby diesmal nicht umschalten oder mit einem guten Buch in ihr Schlafzimmer fliehen. Nachdem sie den

toten Mann aus ihrer Umklammerung gelöst hatten, hatten die Polizeibeamten ihr eine Decke um die bebenden Schultern gelegt und sie dann zu einem unbequemen Metallstuhl im Büro der Flughafenpolizei geführt.

Dort saß sie nun, die Hände fest ineinandergeschlungen, damit sie aufhörten zu zittern. Sie erkannte die aufgelöste, blutbeschmierte Frau, die ihr aus dem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand entgegenblickte, kaum wieder. War das ein Einwegspiegel? Wurde sie von der anderen Seite beobachtet? Warum verhörte man sie, als hätte sie etwas mit dem Tod von Mr Rosen zu tun?

»Bitte sprechen Sie etwas lauter, Mrs MacLeod«, forderte sie einer der Beamten auf. Der uralte Kassettenrekorder, der vor ihr auf dem Tisch stand, brummte lautstark, während er das Band langsam von einem Rädchen auf das andere spulte.

»Ähm … tut mir leid. Er hat mir erzählt, dass er Benjamin Rosen heißt«, wiederholte sie zum hundertsten Mal, wie ihr schien.

»Ich habe ihn auf dem Flug von Amsterdam hierher kennengelernt – er saß neben mir. Er hat für mich gerade ein Telefonat mit dem Archäologischen Institut geführt, als ihn die Kugel traf. Ich habe nicht gesehen, wer es war.« Abby trank einen Schluck von dem lauwarmen Wasser, das man ihr vor einiger Zeit gebracht hatte, und wünschte, sie hätte Indiana nie verlassen. Dann fügte sie leise hinzu: »Ich hatte keine von diesen Dingern für das Telefon. Wie heißen die noch mal? Ach ja … Marken. Mr Rosen sagte, für das Telefon brauche man besondere Marken.«

Es klopfte an der Tür des winzigen Büros, und nach einem kurzen Wortwechsel auf Hebräisch gingen die Polizeibeamten, die sie verhört hatten, hinaus. Zwei Männer in Zivil erschienen an ihrer Stelle. Der ältere der beiden war über sechzig. Sein Schnurrbart sah aus wie der aus der Milchwerbung, und sein wollweißes, klein gelocktes Haar erinnerte an das eines Pudels. Seine ernsten, humorlosen Gesichtszüge schienen verhärtet zu sein, als hätte die Gewalt, mit der er tagtäglich konfrontiert wurde, ihren Abdruck in Beton gegossen. Der jüngere Mann war nicht viel älter als Abbys Sohn Greg und hatte gewelltes schwarzes Haar und einen lo-

ckigen Bart. Beide trugen Pistolen an ihrem Gürtel und die gleichen ernsten Mienen – Mienen, die eindeutig sagten: Du steckst in der Klemme, Abby MacLeod.

»Ich bin Agent Ariel Weiss, und das hier ist Agent Kol«, erklärte der ältere Mann. Er zog einen der Metallstühle hervor und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Agent Kol blieb stehen, als wolle er die Tür bewachen. »Wir möchten, dass Sie ganz vorne anfangen, Mrs MacLeod, und uns alles erzählen, was passiert ist.«

Eine Welle der Müdigkeit und Verzweiflung schlug über Abby zusammen. »Noch einmal? Aber ich habe der Polizei doch schon alles erzählt, was ich weiß.«

Agent Weiss zog eine Dienstmarke aus seiner Hemdtasche und legte sie auf den zerkratzten grünen Tisch vor ihr hin, als könnte die Marke explodieren, wenn er nicht vorsichtig genug damit umging. Abby konnte nicht viel mehr darauf lesen als seinen Namen und Israel, aber die Marke mit dem strengen Foto von ihrem Gegenüber sah sehr offiziell aus.

»Sie haben mit der Flughafenpolizei gesprochen und mit der städtischen Polizei«, sagte er. »Wir sind von der israelischen Regierung und in etwa vergleichbar mit Ihrem amerikanischen CIA.« Er kramte eine Packung Zigaretten hervor und bot ihr eine an. Als sie den Kopf schüttelte, zündete er sich selbst eine Zigarette an und begann zu rauchen, ohne um ihre Erlaubnis zu bitten. Dann schob er erneut die Hand in seine Tasche, zog eine zweite Dienstmarke heraus und legte sie vor ihr auf den Tisch. Sie sah genauso aus wie seine eigene, abgesehen davon, dass sie den Namen und das Bild des toten Mannes trug.

»Benjamin Rosen hat für uns gearbeitet«, sagte er leise.

Abby unterdrückte einen Schluchzer. Die zweitklassige Polizeiserie hatte sich gerade in einen zweitklassigen Spionagefilm verwandelt – auch die sah ihr Mann gerne. Sie wünschte, sie hätte sich solche Filme häufiger mit ihm zusammen angesehen. Vielleicht wüsste sie dann, wie das hier ausgehen würde. James Bond war nicht unterzukriegen, aber starben die Hauptdarstellerinnen an seiner Seite nicht immer?

Der beißende Zigarettenqualm ließ ihre Augen tränen, und sie räusperte sich. »Aber er hat mir erzählt, er sei ein Landwirtschaftsspezialist. Er sagte, er arbeite an … Wie nennt man das, wenn man Pflanzen dazu bringt, in der Wüste zu wachsen?« »Wüstenhydrologie?«, schlug der junge Agent von der Tür aus vor.

»Ja, so hat er es genannt.« Abby war erleichtert, als trüge das richtige Wort dazu bei, das Chaos zu entwirren.

Weiss nickte und stieß den Rauch wie ein Drache durch die Nase aus. »Das stimmt. Rosen hatte seine Pflanzen. Jeder in Israel muss mehr als eine Rolle spielen, um zu überleben. Ein breira, sagen wir auf Hebräisch – keine andere Wahl.« Er griff in seine andere Hemdtasche und warf Abby ein kleines blaues Büchlein zu. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, dass es ihr eigener Pass war.

»Sie sind Abigail Ruth MacLeod«, zitierte er aus dem Kopf. »Mädchenname Dixon. Zweiundvierzig Jahre alt, verheiratet mit Mark Edward MacLeod, vierundvierzig, Vizepräsident von Data Age, einer Computerfirma. Zwei Kinder: Gregory William, zwanzig Jahre alt, studiert Maschinenbau an der Purdue Universität; und Emily Anne, achtzehn, die vor zwei Wochen ihren Highschool-Abschluss gemacht hat und ab Herbst aufs College geht.«

Ein kalter Schauer rann durch Abbys Körper, als er emotionslos all diese Tatsachen über ihre Familie herunterratterte – Tatsachen, von denen sie wusste, dass sie nicht in ihrem Pass standen. Und der Polizei hatte sie auch nichts davon erzählt.

»Sie wohnen in Carmel, Indiana, einem Vorort von Indianapolis«, fuhr er fort, »wo Sie an einer Highschool Geschichte unterrichten. Sie leben seit viereinhalb Monaten von Ihrem Mann getrennt und haben vor Kurzem begonnen, sich mit den Scheidungsformalitäten zu befassen.«

Abby wollte gerade protestieren, dass sie lediglich einen Anwalt eingeschaltet und keineswegs die Scheidung eingereicht habe, doch dann wurde ihr klar, wie aberwitzig es wäre, überhaupt etwas zu sagen.

»Also, Mrs MacLeod, wenn Sie bitte noch einmal ganz von vorne anfangen und uns alles erzählen würden, woran Sie sich bis zu dem Zeitpunkt von Benjamin Rosens Tod erinnern.«

»Können wir Ihnen irgendetwas bringen?«, fragte der jüngere Mann plötzlich. »Haben Sie vielleicht Hunger? Oder Durst?«

Abby erinnerte sich daran, wie ihr Mann ihr die »Guter Bulle, böser Bulle«-Verhörstrategie erklärt hatte. Ihr war zum Heulen zumute. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Magen war im Moment viel zu unberechenbar, als dass sie der Mischung aus Schock und Angst, die bereits darin gärte, noch etwas zu essen hinzufügen wollte.

»Wären Sie dann bitte so freundlich, Ihre Geschichte für uns noch einmal zu erzählen, von Anfang an?«

Abby holte zitternd Luft. »Dies ist das erste Mal, dass ich im Ausland bin«, begann sie. »Wissen Sie, ich hasse fliegen. Genau genommen habe ich panische Angst davor …«

Flughafen Schiphol, Amsterdam – 1999

»Sehr geehrte Fluggäste, in Kürze beginnen wir mit dem Landeanflug. Bitte legen Sie Ihre Sicherheitsgurte an und bringen Sie Ihre Sitze in eine aufrechte Position.« Das Flugzeug hing einen Augenblick in der Luft, während die dröhnenden Düsenmotoren in eine andere Tonlage umschalteten.

»Ich hasse das«, murmelte Abby vor sich hin. »Ich hasse das, ich hasse das, ich hasse das!« Sie umklammerte krampfhaft ihre Armlehnen und drückte sich in ihren Sitz. Vor ihrem Fenster bog sich die flache holländische Landschaft zu einer Art Untertasse.

Abby schloss die Augen und versuchte zu beten. Einer der Gründe, warum sie diese Reise nach Israel unternahm, war der, dass sie ihre lange vernachlässigte Beziehung zu Gott wiederbeleben wollte. Aber im Augenblick war das Einzige, woran sie sich aus ihrer Kindheit erinnern konnte, das Vaterunser. Um ihr täglich Brot zu bitten, schien ihr allerdings nicht angemessen – es

würde doch niemals in ihrem Magen bleiben. Und um die Vergebung ihrer Schuld zu bitten, schien ihr ebenso abwegig, denn immerhin hatte sie Mark seine auch nicht vergeben. In Gedanken schrieb sie »Beten lernen« auf ihre Liste geistlicher Ziele und ließ die Armlehnen gerade so lange los, dass sie eine Packung Säurehemmer aus ihrer Tasche hervorkramen und sich einen davon in den Mund stecken konnte. Sie kaute gerade ihre vierte Tablette, als das Fahrwerk auf der Landebahn aufsetzte und das Flugzeug mit einem dröhnenden Brüllen die Motoren zurückfuhr. Nur einmal noch musste sie Start und Landung über sich ergehen lassen, dann wäre sie in Israel.

Als das Flugzeug neben dem Terminal zum Stehen kam, zog Abby ihr Handgepäck unter dem Sitz hervor und suchte darin nach ihrem Pass und einem Stadtplan von Amsterdam. Die anderen Fluggäste drängelten sich in die Gänge und zogen Tragetaschen und Aktenkoffer aus den Gepäckfächern, aber Abby blieb sitzen und ging noch einmal ihre Pläne für ihren Tag in Amsterdam durch: der königliche Palast, das Anne-Frank-Haus, das Van Gogh Museum.

Die Ortszeit war 6.50 Uhr morgens, hatte die Flugbegleiterin vor einigen Minuten verkündet. Abbys Anschlussflug nach Tel Aviv ging erst um 17.20 Uhr, sodass sie beinah einen ganzen Tag zum Einkaufen und Besichtigen hatte – auch wenn ihre innere Uhr sich beschwerte, dass es Schlafenszeit sei und nicht der geeignete Zeitpunkt, um in einer europäischen Großstadt herumzulaufen. Zu Hause war es jetzt finstere Nacht, und sie hatte im Flugzeug nicht geschlafen. Wer konnte sich Tausende Meter über dem kalten Atlantik schon entspannen? Ihr Bruder Sam hatte ihr zwar ein Rezept für Schlaftabletten ausgestellt, aber sie hatte keine genommen. Sie wollte wach genug sein, um beten zu können, falls das Flugzeug plötzlich ins Wasser stürzte.

Schließlich schob sich auch Abby in den vollen Gang und folgte den anderen Passagieren aus dem Flugzeug hinaus und die Gangway hinunter. Schilder in fremden Sprachen und mit internationalen Symbolen hießen sie im Terminal willkommen,

während Menschen aller Nationalitäten und Sprachen an ihr vorübereilten. Am beunruhigendsten waren die bewaffneten Sicherheitskräfte, die überall im Terminal Wache standen.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir nicht mehr in Kansas sind«, murmelte sie.

Abby hatte Nordamerika noch nie zuvor verlassen – sie war nicht einmal weit über ihren Heimatstaat Indiana hinausgekommen – und es fiel ihr schwer zu begreifen, dass sie jetzt eine halbe Welt weit von dort entfernt und auf dem Weg nach Israel war. Die plötzliche Erkenntnis, dass sie diese Reise ganz allein machte, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie weinte leicht, wenn sie müde war – ihr Mann hatte sie immer damit aufgezogen.

Die ungebetene Erinnerung an Mark machte sie wütend. Seine Untreue war ursprünglich der Auslöser dafür gewesen, dass sie jetzt hier war. Sie schob den Schulterriemen ihrer Tasche höher und schöpfte Mut aus ihrer Verärgerung. Wer brauchte ihn schon? Sie würde prima allein klarkommen.

Abby folgte der Menschentraube zu den Schlangen am Zoll. Während sie wartete, betrachtete sie das Foto in ihrem Reisepass. Eine attraktive Frau mittleren Alters mit sympathischen Lachfältchen an Augen- und Mundwinkeln – sie weigerte sich, sie als Krähenfüße zu bezeichnen – blickte ihr entgegen. Das dunkelbraune Haar, modisch geschnitten, rahmte ihr Gesicht vorteilhaft ein. Ein Schneidezahn machte ihr allerdings Sorgen – er stand etwas schief, seitdem sie als Achtjährige von einem Baum gefallen war. Sie fand, dass sie auf dem Bild abgespannt aussah, aber wer sähe nicht abgespannt aus, wenn er gerade den Verlust einer zweiundzwanzigjährigen Ehe zu verkraften hatte?

»In Wirklichkeit siehst du viel besser aus, Mama«, hatte ihr Sohn Greg ihr versichert. »Passbilder sehen immer aus wie Verbrecherfotos.«

»Der Nächste bitte. Ma’am?«

Abby war an der Reihe, die magische Linie zu überqueren. Der Zollbeamte stempelte die Seite mit ihrem Visum ab und winkte sie durch. Sie war in Europa, ganz allein, zum ersten Mal in ihrem

Leben. Sie würde es schaffen. Sie brauchte Mark nicht und auch sonst niemanden, der ihre Hand hielt.

Während die anderen Passagiere sich um das Gepäckband versammelten, ging Abby zum Hauptterminal. Sie wollte so schnell wie möglich ihren Stadtrundgang durch Amsterdam beginnen. Das Reisebüro in Indianapolis hatte ihr versichert, dass ihr Koffer direkt in den Flieger nach Tel Aviv umgeladen würde. Allerdings hatte man ihr geraten, am Schalter von Israeli Airlines einzuchecken, bevor sie den Bus in die Amsterdamer Innenstadt bestieg.

Abby kam der Weg zum Schalter von Israeli Airlines am anderen Ende des Terminals wie eine halbe Weltreise vor. Der Mann im Reisebüro hatte sie gewarnt, dass die Israelis Sicherheitsfanatiker waren, aber sie erschrak trotzdem, als sie sah, dass alle drei Angestellten am Schalter unter ihren Jacketts ein Schulterholster mit einer Waffe darin trugen. Mürrische Passagiere warteten gedrängt vor dem Schalter, rauchten Zigaretten, saßen auf Koffern und unterhielten sich lautstark auf Hebräisch, wie Abby vermutete. Sie reihte sich am Ende der Schlange ein, wenig erbaut, dass sie ihre Besichtigungszeit hier verschwenden musste.

Zehn Minuten später war sie an der Reihe und reichte der Frau hinter dem Schalter ihr Ticket. »Können Sie mir bitte meinen Platz bestätigen? Ich habe den Flug um 17.20 Uhr gebucht.«

Die Frau runzelte die Stirn. »Wo haben Sie dieses Ticket gekauft?«

»Zu Hause … in Indianapolis …«

»Es gibt keinen Flug um 17.20 Uhr«, sagte die Angestellte unwirsch.

»Was soll das heißen? Fällt der Flug aus?«

»Nein, dieser Flug existiert nicht. Wir haben keinen Flug mit dieser Nummer, und um die Uhrzeit geht auch kein anderer Flug.«

Abby zwang sich, ruhig zu bleiben. »Gibt es denn einen anderen Flug nach Tel Aviv, den ich heute nehmen könnte?«

»Wo haben Sie dieses Ticket gekauft?« Die Angestellte feuerte die Frage ab wie eine Waffe.

»Ich habe es eigentlich nicht selbst gekauft, sondern nur im Reisebüro abgeholt. Ich nehme an einem archäologischen Seminar teil. Die Schule hat alles arrangiert.«

»Welche Schule?«

»Western Evangelical Seminary. Das Büro von Dr. Voss hat –«

»Dann gehören Sie zu einer Gruppe?«

»Ja.«

»Und wo sind die anderen?”

»Sie haben einen anderen Flug genommen. Ich treffe mich mit ihnen in Tel Aviv.«

»Warum reisen Sie nicht mit Ihrer Gruppe?«

Abby zögerte. Die Wahrheit war, dass alle anderen über Athen flogen, eine Stadt, die einen schlechten Ruf in Bezug auf Terroranschläge hatte. Ihre Angst, ihre Maschine könnte entführt werden, war größer gewesen als ihr Wunsch, die antike Stadt zu sehen. Aber sollte sie diese Angst vor der bewaffneten Angestellten zugeben?

»Die Schule ist in Colorado«, sagte Abby schließlich, »aber die Studenten, die an diesem Sommerkurs teilnehmen, kommen aus den gesamten Vereinigten Staaten. Wir beteiligen uns an einer archäologischen Ausgrabung, wissen Sie, die vom Israelischen Archäologischen Institut finanziert wird.«

»Wie gut kennen Sie den Mann, der dieses Ticket für Sie gekauft hat?«

»Ich bin ihm nie begegnet, aber –«

»Einen Augenblick bitte.« Die Frau erhob sich von ihrem Stuhl und verschwand in dem Gang hinter ihr.

Abby trommelte mit den Fingern auf dem Tresen. Super. Einfach super. Sie hatte das Geld für diese Reise von ihrem spärlichen Lehrerinnengehalt zusammengespart, und unvorhergesehene Ausgaben konnte sie sich nicht leisten. Vielleicht sollte sie einfach den nächsten Flieger nach Hause nehmen.

Die Angestellte kam mit einem älteren Mann zurück, dessen Namensschild ihn als leitenden Angestellten auswies. Seine Waffe war ein paar Nummern größer als die der anderen. »Wo haben Sie dieses Ticket gekauft?«, fragte er.

Abby zeigte auf die Frau, die schweigend neben ihm stand. »Ich habe doch schon erklärt –«

»Erklären Sie es bitte noch einmal.«

»Dr. Theodore Voss vom Western Evangelical Seminary in Colorado hat es für mich gebucht.«

»Kennen Sie diesen Dr. Voss persönlich?«

»Ich bin ihm nie begegnet. Wir haben nur am Telefon miteinander gesprochen.«

Der Abteilungsleiter kaute auf seinem Schnurrbart herum, während er auf die Tastatur des Computers einhämmerte. Abbys Füße schmerzten allmählich. Sie setzte ihre Tragetasche auf dem Boden ab und wartete ganze fünf Minuten, bis der Abteilungsleiter mit seiner Computerrecherche fertig war und wieder aufsah.

»Hat dieser Dr. Voss Sie gebeten, etwas für ihn mit nach Israel zu nehmen, oder hat er Ihnen irgendein Päckchen zugesandt?«

»Nur einen Umschlag mit den Informationen über die Ausgrabung und das Seminar, an dem ich teilnehme.«

»Darf ich den bitte sehen?«

Abby zog einen dicken braunen Umschlag aus ihrer Tasche und reichte ihn dem Mann. Die Angestellte verschwand damit durch die Tür. Was ging hier vor?

»Der Flug, auf den Sie gebucht sind, existiert nicht«, sagte der Abteilungsleiter und legte Abbys Ticket zurück auf den Tresen. Es klang, als hätte sie ein Verbrechen begangen.

»Also gut. Gibt es einen anderen Flug nach Tel Aviv, den ich stattdessen nehmen kann?«

»Flug 1013 geht um neun Uhr heute Morgen.«

Abby warf einen Blick auf die Uhr über dem Schalter. »Aber … aber das ist ja keine Stunde mehr bis dahin! Gibt es keinen späteren Flug?« Er schüttelte den Kopf. Abby seufzte laut auf, als ihr klar wurde, dass sie sich von ihrem Plan, Amsterdam zu besichtigen, verabschieden musste. »Nun, dann muss ich den wohl nehmen.« Der Mann begann erneut auf der Computertastatur zu tippen. Die Angestellte kam einige Minuten später mit Abbys

Umschlag zurück, und Abby steckte ihn wieder in ihre Tasche. »Und was ist mit meinem Koffer?«

»Wenn er mit Israeli Airlines gekennzeichnet ist, wird er zu unserem Gepäckbereich geschickt. Sie müssen zu Gate 96, Halle C.« Der Mann reichte ihr das neue Ticket, das der Computer soeben ausgespuckt hatte. »Wer ist der Nächste?«

Abby hasste Veränderungen. In den letzten Monaten hatte es in ihrem Leben davon entschieden zu viele gegeben. Sie hängte sich ihre Tasche wieder über die Schulter, folgte den Beschilderungen zu Halle C und passierte die Sicherheitskontrolle. Die Wachen und Waffen schienen sich wie Viren zu vermehren.

Gate 96 befand sich in der hintersten Ecke der Halle, isoliert vom Rest des Flughafens. Abby seufzte und ließ sich auf einen Sitz fallen. Ihre Nerven waren nicht die besten, und das Boarding hatte noch nicht begonnen. Die anderen Fluggäste liefen entweder rauchend im Wartebereich auf und ab oder saßen düster schweigend da und lasen hebräische Zeitungen. Die Atmosphäre schien Abby ungewöhnlich angespannt, wie in einem billigen Mantel-und-Degen-Film. Sie hätte es auf die Entführer in Athen ankommen lassen sollen.

Um neun Uhr erschien der Abteilungsleiter, mit dem sie am Schalter bereits das Vergnügen gehabt hatte, und nahm das Mikrofon zur Hand. Dann machte er eine Ansage, zuerst auf Hebräisch, dann auf Englisch. »Meine Damen und Herren, der Abflug der Maschine 1013 verschiebt sich auf 10.30 Uhr. Im Skyline Coffeeshop bekommen Sie ein kostenloses Frühstück.«

Abby hätte erwartet, dass die Ankündigung mit Murren und Protesten begrüßt würde, aber die Passagiere standen einfach auf und machten sich auf den Weg zum Café, um sich ihre kostenlose Mahlzeit abzuholen. Abby folgte ihnen, auch wenn essen das Letzte war, wonach ihr der Sinn stand. Ihr Magen litt immer noch unter dem langen Flug und unter der Anspannung rund um den israelischen Ticketschalter und, nicht zu vergessen, all den Waffen, die sie nervös machten.

Auf halbem Weg zum Café kam ihr ein beunruhigender Ge-

danke: Vermutlich war mit dem Flugzeug irgendetwas nicht in Ordnung! Die kostenlose Mahlzeit war wahrscheinlich ein Ablenkungsmanöver, damit die Passagiere nicht sahen, wie die Arbeiter hektisch die Maschine reparierten. Doch wenn etwas nicht stimmte, wollte Abby es wissen. Auf keinen Fall würde sie in ein defektes Flugzeug steigen. Sie verließ das Laufband an der nächsten Möglichkeit und ging zurück in Richtung Gate.

Der Wartebereich war menschenleer. Abby blickte gerade noch rechtzeitig aus dem Fenster, um zu sehen, dass die Tür des Israeli-Airlines-Jets zuschlug und die Gangway wieder eingefahren wurde. Das riesige Flugzeug setzte zurück und rollte davon. Abby sank auf einen Stuhl und schob sich eine weitere Magentablette in den Mund. Fantastisch. Irgendetwas stimmte ganz eindeutig nicht mit diesem Flugzeug.

Eine einsame Reinigungskraft schob ihren Wagen in die Wartezone und begann lethargisch, die Aschenbecher zu leeren. Abby schloss die Augen und versuchte sich ein wenig zu entspannen.

Als sie die Augen zehn Minuten später wieder aufschlug, war der Mann immer noch dabei, die Aschenbecher auszuleeren trotz der Tatsache, dass niemand da war, der sie in der Zwischenzeit wieder hätte füllen können. Wahrscheinlich wurde er nach Stunden bezahlt. Als er sich an seinen Wagen lehnte und sich eine Zigarette anzündete, hätte sie beinah laut aufgelacht. Das war ein Job, wie sie ihn gerne hätte – dafür bezahlt zu werden, den eigenen Abfall zu entsorgen. Der Mann vom Reinigungspersonal zog an seiner Zigarette und drehte sich dabei beiläufig zu ihr um. Als ihre Blicke einander begegneten, blickte er schnell weg. Der Mann arbeitete offensichtlich nicht – es gab in diesem menschenleeren Wartebereich nichts für ihn zu tun. Er würde seine Arbeit sicher nicht lange behalten, wenn er immer mit dieser Arbeitseinstellung ans Werk ging.

Abby schloss die Augen wieder und versuchte ein Nickerchen zu machen, wurde jedoch nach wenigen Augenblicken von einem schwachen, hupenden Geräusch aufgeschreckt. Es kam aus dem Wagen des Hausmeisters. Hatte er sich die Uhr gestellt, da-

mit er seine Kaffeepause nicht verpasste? Als er mit seinem Wagen hinter einer unbeschrifteten Tür verschwand, fiel ihr etwas an ihm auf. Er war zu dunkelhäutig, um Holländer zu sein, und ungewöhnlich jung und durchtrainiert für eine Reinigungskraft. War er eine Wache, die sich verkleidet hatte? Wenn ja, wen beobachtete er? Ein Schauer lief Abby den Rücken hinunter, als ihr klar wurde, dass sie die einzige Person in der Wartehalle war.

Draußen vor dem Fenster rollte eine Maschine der niederländischen Fluglinie KLM vor das Gate, vor dem vor Kurzem noch das Linienflugzeug der Israelis gestanden hatte, und einige Arbeiter schoben eine Treppe vor die Tür. Abby sah entsetzt zu, wie ein Dutzend uniformierter Wachen mit Maschinengewehren –manche von ihnen mit Hunden – die Treppe hinaufeilten und im Flugzeug verschwanden. Im Bauch der Maschine öffnete sich die Gepäckluke, und weitere Wachen kletterten mit ihren Hunden hinein. Als sie ihre Inspektion beendet hatten, platzierten die Wachen sich um das Flugzeug herum, die Maschinengewehre im Anschlag. Was in aller Welt ging hier vor?

Es gab nur eine einleuchtende Erklärung. Eine Bombendrohung.

Eine unerträgliche Angst legte sich über Abby. Oh, Gott, bitte nicht … betete sie. Ihr Herz begann zu rasen, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Sie konnte nicht mehr richtig atmen, und plötzlich war ihr so schlecht, dass sie zur Damentoilette rennen und sich vor die Kloschüssel knien musste. Ihr Magen hatte nichts herzugeben, aber die Toilette spülte dennoch automatisch. Als ihr bewusst wurde, dass sie ihre Tasche in der Wartehalle gelassen hatte, versuchte sie aufzustehen. Doch ihre Knie waren zu weich, um sie zu tragen, und so ließ sie sich auf den Toilettendeckel fallen, den sie hastig heruntergeklappt hatte. Wieder ging die Spülung. Was war nur mit ihr los? Sie hatte von Panikattacken gehört, aber dies war das erste Mal, dass sie selbst eine erlebte.

Abby erhob sich mühsam und wankte aus der Zelle, während die Toilette ein drittes Mal spülte. Sie steuerte auf den Platz zu, an dem sie ihre Tasche zurückgelassen hatte, und hielt sich dabei an

den Waschbecken, den Sitzlehnen und allem anderen fest, was ihren zitternden Knien Halt geben konnte. Mehrere Passagiere waren inzwischen in den Wartebereich zurückgekehrt. Bald würde sie in das Flugzeug steigen müssen.

Oh, lieber Gott … Ich kann nicht in dieses Flugzeug steigen! Ich kann nicht!

Ihre Übelkeit war jetzt so überwältigend, dass Abby sich ihre Tasche schnappte und wieder in die Toilette rannte. Ihr Magen rotierte. Während sie abwechselnd auf der Toilette saß und sich über die Schüssel beugte, ging die automatische Spülung mehrfach. Ihre Lungenflügel hoben und senkten sich so heftig, dass ihr ganz schwindelig war.

Beten. Sie musste beten. Abby erinnerte sich an die Geschichte von Gideon und seinem Schaffell, die sie in der Sonntagsschule gehört hatte, und beschloss, ihr eigenes Schaffell auszulegen. Gott … wenn etwas mit dieser Maschine nicht stimmt, wenn ich nicht einsteigen soll … dann lass mein Gepäck das Zeichen sein. Wenn sie meinen Koffer nicht finden können, dann weiß ich, dass ich hier warten soll.

Abby saß in der Toilettenkabine und betete, wie sie seit Jahren nicht mehr gebetet hatte, bis ihr Flug aufgerufen wurde. Auf dem Weg nach draußen warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel –ihr Gesicht war so weiß wie das Waschbecken.

Die Angestellten der Fluglinie hatten das ganze Gepäck mit großen Wagen in die Abflughalle gebracht und baten die Passagiere nun, ihre Gepäckstücke zu identifizieren und zu öffnen. Sobald die Angestellten einen Koffer untersucht hatten, wurde er in den Frachtraum geladen, und der Fluggast, dem er gehörte, durfte einsteigen.

Abby suchte ihren Koffer. Er war auf keinem der Wagen. Dies war das Zeichen, für das sie gebetet hatte. Sie sollte nicht in dieses Flugzeug steigen. Sie bekam keine Luft mehr.

»Gibt es ein Problem, Ma’am?«, fragte sie der Abteilungsleiter mit der großen Waffe.

»Mein Koffer ist nicht hier.«

»Wenn Sie ein Formular ausfüllen und Ihre Adresse in Israel angeben, schicken wir ihn nach. Bitte gehen Sie an Bord.« Abby blickte sich um. Sie war der einzige Passagier, der noch am Gate war.

»Hm … lieber nicht. Alles, was ich brauche, ist in dem Koffer. Ich warte lieber hier, bis er auftaucht. Ich nehme einen späteren Flug.«

»Dies ist heute der einzige Flug nach Tel Aviv.«

»Na gut, dann übernachte ich eben hier. So habe ich die Gelegenheit, etwas von Amsterdam zu sehen.«

»Warum wollen Sie nicht in dieses Flugzeug steigen, Ma’am?«

Was sollte sie sagen? Dass Gott ihr gesagt hatte, sie solle es nicht tun? Sie würden sie für eine Verrückte halten und irgendwohin wegsperren. »Ich … ich möchte hier auf mein Gepäck warten.«

»Aber Sie haben ein Ticket für diesen Flug. Ich muss darauf bestehen, dass Sie jetzt einsteigen.« Der Mann packte ihren Arm und führte sie in Richtung Tür.

»Nein … warten Sie …«

»Sie müssen einsteigen, Mrs MacLeod.«

Abby war sich nicht sicher, was sie mehr erschreckte: die Tatsache, dass er sich an ihren Namen erinnerte oder dass er sie zwang, das Flugzeug gegen ihren Willen zu besteigen. Konnte er das tun? Hatte sie nicht das Recht, sich zu weigern? Es spielte jedoch kaum eine Rolle, welche Rechte sie hatte, denn sie war vor Angst viel zu schwach, um sich dem Mann ernsthaft zu widersetzen. Der Abteilungsleiter führte sie den Flugzeuggang hinunter bis zu ihrem Sitz, und sie ließ sich hineinfallen. Gott hatte ihr Gebet erhört und ihr gesagt, dass sie nicht in das Flugzeug steigen solle, aber jetzt saß sie trotzdem hier und schnallte sich mit zitternden Händen an. Sie würde ganz sicher sterben.

Die nächsten Minuten erlebte Abby wie gefangen in einer Nebelwand des Schreckens. Sie versuchte sich für die Explosion zu wappnen, von der sie überzeugt war, dass sie kommen würde. Als Kind war sie jeden Sonntag in den Gottesdienst gegangen, hatte zahllose Sonntagsschulstunden und Bibelfreizeiten besucht. Sie

müsste doch eigentlich wissen, was zu tun war – was sie Gott sagen sollte. Aber ihr Kopf war vollkommen leer.

Das Flugzeug setzte sich in Bewegung. Die Flugbegleiterinnen schwirrten überall herum, vergewisserten sich, dass alle Passagiere aufrecht saßen und den Gurt angelegt hatten, und schnallten sich dann selbst für den Start an. Abby schloss die Augen, als der Jet über das Rollfeld jagte. Als sie spürte, wie das Flugzeug vom Boden abhob, kämpfte sie gegen den übermächtigen Drang an, sich zu übergeben.

Oh, Gott, bitte hilf mir!

»Alles in Ordnung, Miss?«

Abby schlug die Augen auf und blickte in die freundlichen, besorgten Augen ihres Sitznachbarn. Er war um die sechzig und trug einen dunklen Anzug, ein blütenweißes Hemd und eine gestreifte Krawatte. Auf seinem schütteren Haar saß eine jüdische Kippa, und sein gestutzter brauner Bart war grau gesprenkelt. Seine Worte ließen einen Hauch von Akzent erkennen. Seine warmen hellbraunen Augen mit den Lachfältchen in den Augenwinkeln gewannen sofort Abbys Vertrauen. Es waren die Augen eines liebevollen Großvaters.

»Nein«, flüsterte sie. »Ich … ich habe schreckliche Angst.«

Ihr Nachbar löste ihre verkrampfte Hand von der Armlehne und nahm sie zwischen seine beiden Hände. »Darf ich?«, fragte er freundlich. Sie nickte dankbar und fühlte sich gleich nicht mehr so allein. »Sie sind ganz und gar sicher, meine Liebe. Israeli Airlines gehört zu den sichersten Fluggesellschaften der Welt. Und wenn Sie sich nicht dazu durchringen können, dem Piloten zu vertrauen, können Sie immer noch Gott vertrauen.«

Sie schaffte ein schwaches Lächeln. »Das habe ich gerade versucht … zu beten, meine ich. Aber ich bin ein bisschen aus der Übung.«

Ihr Nachbar gluckste belustigt. Sein Lachen war so warm wie die Farbe von schmelzendem Honig. »Dann gestatten Sie mir: ›Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: meine

Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.‹ Wie mache ich das so weit?«

Abby stellte überrascht fest, dass ihre Panik nachließ. »Sehr gut … danke. Bitte hören Sie nicht auf.«

»›Denn der Herr ist deine Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht. Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich deinem Hause nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.‹«

»Das ist ein Psalm, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt. Ich heiße übrigens Benjamin Rosen. Und Sie sind …?«

»Abby MacLeod. Und wie Sie wahrscheinlich erkannt haben, habe ich panische Angst vorm Fliegen.«

Er lächelte wieder. »Das haben die meisten Menschen, wenn sie ganz ehrlich sind, Abby.« Das Flugzeug ruckelte unerwartet, und sie umschlang seine Hand fester.

»Haben Sie Angst, Mr Rosen?«

»Na ja, vor Jahren war ich ein bisschen nervös, aber ich bin jetzt schon so oft geflogen, dass ich mich daran gewöhnt habe.«

»Reisen Sie geschäftlich viel?«

»Ja. Für meine Arbeit muss ich an Konferenzen in der ganzen Welt teilnehmen. Ich bin ein sogenannter ›Landwirtschaftsexperte‹, spezialisiert auf Wüstenhydrologie. Aber lassen Sie sich von diesen Ausdrücken nicht beeindrucken. Im Grunde bin ich ein ganz einfacher Bauer, der nach neuen Wegen sucht, in seinem kleinen, wasserarmen Land Pflanzen anzubauen. Und was ist mit Ihnen, Abby MacLeod? Was führt Sie nach Israel – trotz Ihrer Abneigung gegen Flugzeuge?«

»Ich bin Geschichtslehrerin und Hobbyarchäologin. Jetzt, wo meine beiden Kinder erwachsen sind, habe ich beschlossen, mir einen Lebenstraum zu erfüllen und an einer archäologischen Ausgrabung teilzunehmen.«

»Das ist wundervoll! Wo werden Sie graben?«

»Ich zeige es Ihnen.« Dankbar für die Ablenkung zog Abby

den Umschlag mit den Unterlagen aus ihrer Tasche und studierte gemeinsam mit Mr Rosen die Landkarte. Sie unterhielten sich angeregt über die Einzelheiten der Expedition. Bereits nach wenigen Minuten fühlte Abby sich deutlich entspannter.

»Ah, ich sehe, dass das eine von Hannas Ausgrabungsstätten ist«, sagte Mr Rosen. »Grüßen Sie sie von mir. Hanna Rahov ist meine Cousine.«

Abby blätterte zu einer leeren Seite in ihrem Notizbuch. »Wollen Sie ihr eine Nachricht schreiben?« Sie sah fasziniert zu, wie er schnell etwas auf Hebräisch schrieb und dabei den Stift von rechts nach links führte.

In der nächsten Stunde unterhielten sie sich, als wären sie schon ihr Leben lang befreundet. Als die Flugbegleiterinnen das Essen brachten, hatte Abby bereits die ganze Geschichte erzählt, wie sie die bewaffneten Wachen bei der Durchsuchung des Flugzeugs beobachtet hatte und das eine Panikattacke bei ihr ausgelöst hatte. Sie erzählte Mr Rosen sogar von ihrem Schaffell und davon, dass die Beamten sie gezwungen hatten, das Flugzeug gegen ihren Willen zu besteigen. Mr Rosen stieß mitfühlende Laute aus und tätschelte ihre Hand.

»Ich kenne die Geschichte von Gideons Schaffell«, sagte er, und sie fingen an, über die Bibel zu sprechen. Abby zeigte ihm die kleine Reiseausgabe, die sie in ihrer Handtasche mit sich führte, ein Abschiedsgeschenk ihrer Tochter Emily.

»Ich gebe zu, dass ich mich nie ernsthaft mit den christlichen heiligen Schriften befasst habe«, sagte er, während er in der Bibel blätterte. »Diese ersten fünf Bücher sind dieselben wie die in unserer Thora. Die Propheten kennen wir auch … ja, genau, und die Psalmen haben wir ebenfalls.«

Benjamin Rosen sprach den ganzen Flug über mit Abby und wich nur für kurze Zeit von ihrer Seite. »Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen wollen, meine Liebe, es ist Zeit für meine Gebete. Darf ich mir das ausleihen?«, fragte er und zeigte auf ihre Bibel.

»Ja, natürlich.«

»Hier, Sie können sich derweil meine anschauen. Natürlich wird sie Ihnen nicht viel nützen, es sei denn, Sie können Hebräisch.« Er gab ihr ein Buch und lächelte. »Man liest es von hinten nach vorne.«

Dann löste er seinen Sicherheitsgurt und ging in den hinteren Teil des Flugzeugs, wo er sich zu einer Gruppe anderer israelischer Männer gesellte. Sie standen im Kreis, die Köpfe unter Gebetstüchern verborgen, und wiegten sich im Rhythmus der hebräischen Verse vor und zurück.

Als Mr Rosen zurückkam, redeten er und Abby noch eine Weile über Gott und den Glauben an ihn. »Ich glaube, es ist gut, wenn Menschen aus unterschiedlichen Religionen miteinander sprechen, so wie wir es getan haben, meinen Sie nicht auch, Abby? Es gefällt dem Allmächtigen.« Er blätterte eine Weile durch Abbys Bibel und begann dann zu lesen: »›Wie wohltuend ist es, wie schön, wenn Brüder, die beieinander wohnen, sich auch gut verstehen! Das ist wie das gute, duftende Öl, aufs Haar des Priesters Aaron gegossen, das hinunterrinnt in seinen Bart bis zum Halssaum seines Gewandes.‹« Er seufzte schwer. »Ich fürchte, wir haben in unserem Land noch nicht gelernt, einander gut zu verstehen.«

Eine Durchsage machte sie darauf aufmerksam, dass sie demnächst mit dem Landeanflug beginnen würden. Mr Rosen legte seinen Sicherheitsgurt an, als das Düsenflugzeug über dem blauen Mittelmeer langsam an Höhe verlor. Abby konnte die flache Küste Israels bereits vor sich sehen.

»Ich hasse Landungen«, sagte sie, und ihr Magen verkrampfte sich erneut. Mr Rosen nahm ihre Hand und begleitete sie durch jedes merkwürdige Geräusch und jede schwindelerregende Kurve, die das Flugzeug flog, bis sie sicher auf dem Boden gelandet waren. Als sie im Gang standen, gab Abby dem Drang nach, ihn zu umarmen.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen jemals danken soll, Mr Rosen.«

»Nein, nein, es war mir ein Vergnügen. Ich habe schließlich nicht jeden Tag die Gelegenheit, Zeit mit einer schönen jungen

Frau zu verbringen. Und jetzt kann ich Ihnen, wenn Sie erlauben, vielleicht durch den Zoll helfen und mich um Ihr verloren gegangenes Gepäck kümmern. Ich glaube, es gibt einige Formulare, die Sie ausfüllen müssen.«

»Das müssen Sie nicht …«

»Ich weiß, aber ich würde es gerne tun.«

Abby war ihm überaus dankbar für seine Hilfe. Er schien am Flughafen eine Menge Leute zu kennen und konnte die Prozedur schnell abkürzen. Es dauerte nicht lange, und sie standen in der Eingangshalle des Ankunftsterminals und verabschiedeten sich.

»Kommt Sie jemand vom Archäologischen Institut abholen?«, fragte Mr Rosen.

»Nein, sie erwarten mich nicht so früh.«

»Stimmt, Sie hatten ja gesagt, dass es ein Missverständnis mit Ihren Flugzeiten gab. Soll ich Hanna anrufen und arrangieren, dass jemand Sie abholt?«

»Sie haben schon genug für mich getan, Mr Rosen. Ich bin mir sicher, dass Sie nach der langen Reise nur noch nach Hause wollen.«

Er lächelte freundlich. »Ein einfacher Anruf dauert nicht lange. Ich fühle mich besser, wenn ich weiß, dass Sie nicht auf Gedeih und Verderben unseren israelischen Taxifahrern ausgeliefert sind. Haben Sie die Telefonnummer des Instituts zur Hand?«

Abby kramte nach ihrem Umschlag mit den Unterlagen und gab ihn Mr Rosen, da sie die Nummer zu Hause vorsorglich daraufgeschrieben hatte.

»Setzen Sie sich hier hin«, sagte er. »Ich bin gleich zurück, in Ordnung?«

»Lassen Sie mich wenigstens für das Telefonat bezahlen.«

Er zog eine merkwürdig geformte Münze aus seiner Tasche. »Für das Telefon braucht man besondere Marken wie diese hier.

Keine Sorge. Ich bin gleich wieder da.«

Er verschwand um die Ecke in die Richtung, in der sie vorhin im Vorbeigehen eine Reihe von Telefonen gesehen hatte. Abby sank auf einen orangefarbenen Plastikstuhl und fächelte sich mit

ihrem Pass Luft zu. Die Hitze erinnerte sie an den August bei sich zu Hause, aber das bisschen Israel, das sie durch die Glastüren sehen konnte, sah gewiss nicht wie Indianapolis aus – Palmen wogten im Wind, das Licht war golden, die Verkehrsschilder auf Hebräisch.

Israel! Sie konnte kaum fassen, dass sie tatsächlich in Israel war! Ihrer Armbanduhr nach zu urteilen, war sie inzwischen seit mehr als vierundzwanzig Stunden wach. Abby konnte es kaum erwarten, in ihr Hotelzimmer zu gehen, zu duschen und frische Kleidung anzuziehen. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie keine anderen Kleidungsstücke hatte, die sie anziehen konnte. Tränen brannten hinter ihren Augenlidern, aber sie drängte sie zurück. Jeden Tag verreisten Menschen und verloren ihr Gepäck. Das war keine große Sache. Sie baute sich mit dem Gedanken auf, dass sie bald ihren Sohn und ihre Tochter anrufen konnte, um mitzuteilen, dass sie heil angekommen war. Würde sie im Hotel auch Telefonmarken brauchen, um zu telefonieren? Sie sollte Mr Rosen fragen, wo man sie kaufen konnte, und den armen Mann dann nach Hause gehen lassen. Er hatte bereits mehr als genug für sie getan.

Als Abby aufstand, um zu den Telefonen hinüberzugehen, hörte sie ein lautes, schnappendes Geräusch, das sie an das elektrische Heftgerät in ihrer Schule denken ließ. Sie bog um die Ecke und sah Benjamin Rosen, der sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, den Mund erstaunt geöffnet. Das Telefon baumelte an seiner Schnur von der Wand. Der Inhalt ihres Umschlags lag um ihn herum auf dem Boden verstreut. Mr Rosen hielt sich mit einer Hand an der Wand der Telefonzelle fest, als wolle er sich stützen, während er die andere auf seine Brust presste.

Abby dachte, er habe einen Herzinfarkt erlitten, bis sie den großen Fleck sah, der sich auf seinem weißen Hemd ausbreitete, und das dunkle Blut, das zwischen seinen Fingern hindurchquoll. Blutspritzer bedeckten sein Gesicht, ihren braunen Umschlag und die gläserne Wand der Telefonzelle.

»Helft ihm!«, schrie sie. »So helft ihm doch!«

Er machte einen Schritt auf sie zu, seine Augen flehend. Seine Lippen bewegten sich, während er krampfhaft versuchte, ihr etwas zu sagen. Als sie ihre Arme öffnete, sank er hinein und riss sie mit zu Boden. Mr Rosens Stimme klang dringlich, verzweifelt, als wolle er Abby etwas zu verstehen geben.

Dann starb er in ihren Armen.

WAgent Weiss lehnte sich über den Tisch zu Abby hinüber. Sein Atem stank nach Tabak. »Erzählen Sie mir genau, was Ben Rosen gesagt hat, Mrs MacLeod. Auch wenn es für Sie keinen Sinn ergibt. Das ist sehr wichtig.«

Sie holte tief Luft. »Das einzige Wort, das ich verstanden habe, war ›Verräter‹. Er sagte, er wisse, wer der Verräter sei. Das hat er zwei- oder dreimal wiederholt. ›Ich weiß, ich weiß …‹ Und dann hat er noch das Wort ›Tor‹ oder ›Tore‹ gemurmelt. Etwas in der Art. Dann … dann ist er gestorben. Dieser nette Mann … ist in meinen Armen gestorben.« Der Schluchzer, den sie bisher tapfer zurückgehalten hatte, brach nun mit aller Macht aus ihr heraus. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Keiner der beiden Männer sagte etwas oder rührte sich.

»Tut mir leid«, sagte sie, als sie ihre Tränen schließlich unter Kontrolle hatte. »Das ist alles, woran ich mich erinnere. Kann ich jetzt bitte gehen?«

»Nicht bevor wir davon überzeugt sind, dass Sie nichts mit der Sache zu tun hatten.«

»Ich?« Das Wort klang wie ein Quietschen.

»Wir haben Sie beobachtet, seit Sie in Amsterdam das falsche Flugticket vorgelegt haben. Das ist ein Trick, den Terroristen manchmal anwenden. Sie buchen ihr Gepäck auf einen Anschlussflug, gehen dann aber nicht selbst an Bord, weil ihr Ticket falsch ausgestellt ist. Natürlich wissen die Leute, die sich um das Gepäck kümmern, das nicht. Sie müssen sich um Tausende von

Koffern kümmern, und so wird die Tasche mit dem Sprengstoff in das Flugzeug geladen. Sie waren der einzige Passagier, der das kostenlose Frühstück nicht in Anspruch genommen hat. Sie waren die Einzige, die genau zusah, als die Maschine untersucht wurde. Sie waren lange auf der Damentoilette und haben etwas die Toilette hinuntergespült. Und Sie werden sich erinnern, dass Sie darauf bestanden haben, einen anderen Flug zu nehmen.«

»Aber das habe ich doch schon erklärt! Ich hatte Angst! Als ich das ganze Wachpersonal und die Hunde sah, hatte ich Angst, dass eine Bombe an Bord sein könnte. Deshalb wollte ich nicht einsteigen.«

»Genau. Wir hatten tatsächlich einen Hinweis auf eine mögliche Bombe erhalten, kurz bevor Sie mit Ihrem falschen Ticket ankamen. Die Tatsache, dass Sie dem Mann, der das Ticket gekauft hat, nie begegnet sind, war für uns ein Grund anzunehmen, dass Sie ein Kurier sind.«

»Ein Kurier?«

»Jemand, der für einen anderen etwas überbringt«, sagte der jüngere Agent.

»Aus all diesen Gründen«, fuhr Weiss fort, »hatte Benjamin Rosen den Auftrag, während des Fluges neben Ihnen zu sitzen.«

»Auftrag?«

»Ja. Und jetzt ist er tot.«

Abby stöhnte unwillkürlich. Die Tür öffnete sich und ein Polizist reichte Weiss ein Blatt Papier. Er betrachtete es einen Moment, faltete es dann in der Mitte und fuhr mehrmals mit dem Fingernagel über die Falzkante.

»Ihr Bruder hat eine Zeit lang in Beirut, der Hauptstadt des Libanons, gelebt. Stimmt das?«

»Ja, aber … Sie denken doch nicht, dass er …?« Agent Weiss’ Miene sagte ihr, dass er genau das dachte. »Nein, hören Sie! Sam ist Arzt. Er ist als freiwilliger Helfer über eine Missionsgesellschaft nach Beirut gegangen. Das war vor vielen Jahren … und er war nur einen Monat lang dort.«

»Die Computerfirma Ihres Mannes, Data Age – ist Ihnen be-

wusst, dass sie zu den amerikanischen Zulieferern gehört, die für die saudische Regierung arbeiten?«

»Nein, ich weiß nichts über Marks Arbeit. Er und ich –«

»Was ist Ihre Meinung zum Autonomiebestreben der Palästinenser?«

»Ich … ich habe eigentlich keine Meinung dazu. Israel ist doch die Heimat der Juden, oder nicht?«

»Sie haben enge Beziehungen zu Angehörigen der islamischen Religion, richtig? Sie haben eine Freundin …«, er faltete das Blatt auseinander und warf einen Blick darauf, »namens Fatima Rabadi. Sie ist Muslimin?«

»Ja, sie ist meine Freundin. Wir unterrichten an derselben Schule, aber wir haben noch nicht ein Mal miteinander über Religion gesprochen.«

Abby war heiß und kalt zugleich. Ein Albtraum. Das hier war ein Albtraum. Wie konnte sie ihnen beweisen, dass sie unschuldig war? Sollte sie um einen Anwalt bitten? Sich weigern, weitere Fragen zu beantworten?

Agent Weiss hielt das Blatt hoch. »Angesichts dieser neuen Information, Mrs MacLeod, möchten wir, dass Sie uns Ihre Geschichte noch einmal von vorne erzählen.«

Als er die nächste Zigarette aus der Packung zog und zwischen seine Lippen schob, fürchtete Abby, sich übergeben zu müssen. Sie hatte von vielen verschiedenen Formen der Folter gehört, die im Laufe der Geschichte angewendet worden waren – von den berüchtigten Folterbänken der spanischen Inquisition bis zur chinesischen Wasserfolter –, aber langsames Ersticken durch übelriechende Nahost-Zigaretten war ihr neu. Wenn sie nicht bald aus diesem winzigen Raum herauskam, konnte es sein, dass sie alles zugab, nur um ein wenig frische Luft atmen zu können.

Der israelische Agent kramte nach seinem Feuerzeug, als es an der Tür klopfte. Der jüngere Agent öffnete, und ein großer bärtiger Mann trat in den blauen Dunst.

»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich bin Dr. Aaron Bazak vom Archäologischen Institut. Ich bin gekommen, um Mrs MacLeod

abzuholen.« Mit seinem knittrigen Kakihemd und seinen Shorts, den staubigen Arbeitsschuhen und der tief gebräunten Haut sah er so aus, wie man sich einen Bilderbuch-Archäologen vorstellte. Er hielt Weiss die ausgestreckte Rechte hin, die der Agent aber geflissentlich übersah. Die beiden Männer begannen einen hitzigen Streit auf Hebräisch.

Abby hatte sich von Agent Weiss offizieller Marke und seinem bestimmten Auftreten einschüchtern lassen, aber der Archäologe zuckte nicht einmal mit der Wimper. Vielleicht half es, dass er deutlich größer als eins achtzig war und Weiss damit um mindestens zehn Zentimeter überragte. Und dass er im Vergleich zu dem dickbäuchigen Agenten aussah wie ein in Würde alternder Olympionike. Abby sackte erschöpft auf ihrem Stuhl zusammen. Nach und nach nahm die Auseinandersetzung die Lautstärke eines normalen Gesprächs an. Abby merkte gar nicht, dass der Archäologe sie auf Englisch ansprach, bis er sie an der Schulter berührte.

»Mrs MacLeod?«

Sie wäre beinah von ihrem Stuhl hochgefahren.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte er. »Wir können jetzt gehen.«

»Wirklich?« Es schien zu schön, um wahr zu sein. Sie stand auf, und das Zimmer begann sich zu drehen. Der Archäologe legte seinen Arm um ihre Taille, um zu verhindern, dass sie fiel. Sie kam sich sehr klein vor, als er ihr durch die Tür half. Die beiden Agenten folgten ihnen.

»Sie werden dafür sorgen, dass Mrs MacLeod uns für weitere Befragungen zur Verfügung steht, wenn es nötig ist«, sagte Weiss. Es war keine Frage, sondern ein Befehl.

Der Mann vom Institut nickte. »Haben Sie Gepäck?«, fragte er Abby.

»Ja, ich meine, nein … ich meine, sie haben es verloren. Aber ich hatte eine Handtasche.« Einer der Polizeibeamten holte sie, und der Archäologe hängte sie sich um. Endlich konnte Abby den Terminal verlassen, als freie Frau.

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