Der Schock deines Lebens
Vorwort
Als ich das erste Mal die Bibel aufschlug und sie selbst lesen wollte, hörte ich eine leise Stimme. Sie sagte: »Du bist soeben der bemitleidenswerteste Teenager im ganzen Land geworden! Wer liest denn schon in der Bibel? Pass auf, dass du im Leben nichts verpasst!« Ich war damals 16.
Falls du der Typ bist, der eher zum Mond fliegt, als die Bibel zu lesen, dann ist dieses Buch für dich.
Du kannst hier in einer dramatischen Zusammenfassung lesen, was geschieht, wenn du stirbst. Was steht dazu in der Bibel? In jedem Kapitel wirst du in das fesselnde Schicksal eines ganz normalen jungen Menschen mit hineingenommen. Gemeinsam mit ihm werden dir die Augen für zehn wichtige Fakten geöffnet, die ich fett gedruckt habe. Die meisten fett gedruckten Sätze geben die grundlegenden Aussagen der Bibel wieder. Darin sind sich fast alle Christen auf der ganzen Welt einig.
Aber ich warne dich: Dieses Buch will dich dazu bringen, selbst in der Bibel zu lesen. Die Fußnoten im Text verweisen auf die Bibelstellen, wo du die Aussagen noch einmal nachlesen kannst. Ich hoffe, es wird ein lohnendes Erlebnis für dich. So oder so, du bist schon mittendrin.
Adrian Holloway
1. Entsetzt –
der Nichtchrist
Wie sollen sie zum Glauben an ihn kommen, wenn sie nie von ihm gehört haben? Und wie können sie von ihm hören, wenn ihnen niemand Gottes Wort sagt?
(Römer 10,14)
»Um Himmels willen, Daniel, steh jetzt endlich auf. Wir kommen noch zu spät!« So weckte mich meine Mutter am 10. Juli. Seltsam, was für ein normaler Tag es war. Meine Mutter fuhr mich wie immer mit dem Auto zur Schule und ich kam wie immer nicht aus den Federn. Ich kapiere bis jetzt nicht, wie alles so vorhersehbar sein konnte, so langweilig. Ich glaube, Mama hat im letzten Jahr jeden Morgen immer zur gleichen Zeit genau die gleichen Worte gesagt. Man würde doch erwarten, dass der Tag, an dem man stirbt, irgendwie gespenstisch ist und irgendwo unheimliche Musik läuft, aber ich krabbelte wie jeden Tag aus dem Bett und schaute mir beim Anziehen das Frühstücksfernsehen an.
17 Jahre alt, Schüler mit den Leistungskursen Englisch und Geschichte, interessiert an Journalismus. Vielleicht schreibt jemand in der Lokalzeitung jetzt
gerade einen Artikel über mich. Ich wette, sie drucken dieses alte Schulfoto von mir ab, das ich schon immer gehasst habe. Ich habe auf dem Foto einen furchtbaren Haarschnitt, die Krawatte hängt schief und ich sehe überhaupt einfach schrecklich aus. Die fett gedruckte Bildunterschrift wird lauten: »Daniel (17)« mit dem unvermeidlichen Adjektiv »tragisch«.
Ich hoffe, bei meiner Beerdigung sagt jemand, dass ich immer Schriftsteller werden wollte. Jedenfalls fände ich es angebracht, wenn sie es in den Abendnachrichten melden würden.
Wie bin ich gestorben? Im Auto auf dem Rücksitz, neben meiner Schwester, die gerade ein Simpsons-Buch las, während ich mit halbem Ohr irgendeine langweilige Sendung im Radio hörte, bei der die Zuhörer anrufen konnten. Meine Mutter wollte diese Sendung unbedingt mitverfolgen. Als wir ungefähr zehn Minuten unterwegs waren, irgendwann nach halb neun, war ich tot. Auf einer zweispurigen Fahrbahn stießen wir mit einem LKW zusammen.
Ich kann dir den Unfallhergang genau aufzeichnen, wenn es dich interessiert.
Das Nächste, was ich weiß – ich übertreibe nicht! –, das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich mich auf einer Art Fließband befand, das vorwärts sauste. Mit einem Affenzahn! Mir dröhnten bei diesem Tempo die Ohren – obwohl ich tot war! Ein faszinierendes Erlebnis! Jedenfalls kam ich mir vor, als wäre es wieder der Abend zuvor und ich säße vor dem PC und spielte ein rasantes Autorennen. Al-
lerdings raste ich nicht in einem Rennauto durch das Hochhausgewirr einer Großstadt, sondern in einem Krankenhausbett auf Rollen durch lange Korridore und rammte Schwingtüren auf. Schmerzen spürte ich zu diesem Zeitpunkt übrigens keine.
Und jetzt kommt das, was irgendwie seltsam klingt: Ich weiß nicht, ob das im Krankenhaus auf dem Bett mit den Rollen ich war oder nicht. Ich weiß nur: Plötzlich stand ich in einem hellen gelben Raum! Das war wirklich Realität. Ich hatte meinen normalen Körper ohne irgendwelche Schrammen oder Verletzungen, trug die Klamotten, die ich im Auto angehabt hatte, als es krachte – und vor mir stand ... ER!
Ich weiß selbst nicht, warum es mich so verlegen macht, ihn zu beschreiben. Er sah cool aus. Mindestens drei Meter fünfzig groß, sonnengebräunt und mit einem langen weißen Gewand bekleidet. Das klingt ein wenig verrückt, er sah aber wirklich beeindruckend aus. Auf seiner Miene war zwar nicht unbedingt ein Lächeln, aber ich spürte, dass er eine freundliche Person war. Ich konnte ihn mir im wirklichen Leben beispielsweise als sympathischen Schuldirektor vorstellen. Aber war das jetzt wirkliches Leben?
Er bat mich darum aufzustehen.
»Daniel«, sagte er.
Zum ersten Mal in meinem Leben, genauer gesagt in meinem Tod, kam ich mir vor wie in einem Film. Am liebsten hätte ich gelacht. »Du weißt, wie ich heiße?«
»Daniel ...«
»Ist das alles echt?«, unterbrach ich ihn. »Es sieht so echt aus. Wo bin ich? Wer bist du?« Zu diesem Zeitpunkt war ich für alles offen. Fast erwartete ich schon, er würde sagen, er komme vom Planeten Krypton. Gleichzeitig ging ich im Geiste Szenen aus Akte X durch.
»Daniel, du musst mir gut zuhören. Was ich dir sage, ist die Wahrheit. Du bist tot und erfährst jetzt, was dich – und nebenbei bemerkt auch jeden anderen Menschen – erwartet, wenn man stirbt.«
Meine Knie wurden weich. Ich ließ mich im Schneidersitz auf den Boden plumpsen. Er klang sehr ernst und ich rang darum, Haltung zu bewahren. Ich fragte: »Ist alles gut? Ich meine, wird mit mir alles gut werden?«
Schweigen.
Dann fragte ich: »Werde ich auf die Erde zurückkehren in einer ... wie heißt das doch gleich, in einer ›Reinkarnation‹?«
»Folge mir, Daniel«, erwiderte er, als übe er mit mir eine Episode aus Star Trek ein, in der es heißt: »Bringen Sie mich zu Ihrem Kommandanten!«
»Du wirst vieles sehen. Das, was du nicht verstehst, werde ich dir erklären. Wir müssen jetzt gehen.«
Es war fast komisch. Abgesehen davon, dass ich das Gefühl hatte, mir würde der Boden unter den Füßen weggezogen, und dass ich furchtbare Angst hatte. »Und wer bist du?«
»Ich bin ein Engel, Daniel.«
Ein Anflug von Verärgerung zog über das Gesicht des Engels. Bis zu diesem Augenblick hatte ich bei Schimpfwörtern nie Schuldgefühle gehabt. Aber mir dämmerte immer mehr, dass das alles echt und Wirklichkeit war. Einerseits fand ich es interessant, einem Engel zu begegnen. Aber andererseits war ich vor Angst fast wie gelähmt, weil ich absolut nicht auf das vorbereitet war, was als Nächstes kommen würde. Mein Magen krampfte sich plötzlich zusammen und eine Sekunde später musste ich mich in einer Ecke übergeben. Jetzt hatte ich wirklich panische Angst.
Der Engel stand auf und öffnete eine Tür. Ein gewaltiger Lärmpegel empfing uns von der anderen Seite. Jede Menge Leute standen gleich hinter der Tür und unterhielten sich. Einige riefen etwas, andere lachten, wieder andere tanzten fröhlich herum.
In der Masse kann man Schutz suchen, dachte ich. Das beruhigte mich ein wenig. Ich ließ mein halb verdautes Frühstück auf dem Boden liegen und rappelte mich auf. Ziemlich elend und verlegen folgte ich dem Engel durch die Tür.
Was für ein faszinierender Anblick! Mir verschlug es die Sprache. So weit das Auge reichte, sah ich vor uns eine menschliche Schlange. Anders kann ich es nicht beschreiben. Was hatte das zu bedeuten? »Ist hier die gesamte Menschheit versammelt? Wenigstens sieht es so aus«, platzte ich heraus.
»Diese Leute stehen Schlange und warten, bis sie
vor Gericht drankommen«, erklärte der Engel, während ich benommen die Reihen mit den vielen Tausend Menschen betrachtete.
Jetzt dämmerte es mir langsam. Das passiert also mit den Menschen, wenn sie sterben! Darauf, was nach dem Tod kommt, hatte ich in meinen ganzen 17 Jahren nie einen Gedanken verschwendet. Jetzt, da ich darüber nachdenke, muss ich sagen: Ich glaube, ich habe auch nie mit irgendjemandem darüber gesprochen.
»Dann ist das hier wohl religiös?«, fragte ich den Engel.
»Wie meinst du das?«, erwiderte er.
»Ist das hier alles nur Religion oder ist es echt?«
»Diese Leute sind echt und Gott wird sie vor Gericht stellen. Man könnte also wahrscheinlich sagen, ...«
»... dass Religion echt ist«, beendete ich seinen Satz. Normalerweise falle ich anderen nicht ins Wort, aber ich war so nervös. Ich war nervös, denn der Anblick dieser vielen Leute, die hier in der Schlange standen, machte mich sehr unruhig.
»Daniel, es gibt so vieles, das du anscheinend nicht weißt. Ich will versuchen, es in zehn Punkten für dich zusammenzufassen. Hör mir also gut zu. Das Erste, was du hoffentlich inzwischen verstanden hast, ist: Gott ist Realität.«
(Innerlich registrierte ich das erste wirklich positive Gefühl, das ich empfand, seit ich an diesem Morgen ins Auto gestiegen war, was mir immer noch
so vorkam, als wäre es erst vor wenigen Minuten gewesen. Weißt du, ich bin ziemlich sicher, dass ich an Gott glaube. Schließlich kann es ja nicht schaden, hatte ich mir immer gesagt.)
»Und der zweite Punkt ist: Wir müssen uns alle vor ihm verantworten.«
»Was heißt das?«
»Was das heißt, werden diese Leute hier bald erfahren. Und du auch!«
Während wir diese Schlange aus der Nähe betrachteten, suchte ich nach einem bekannten Gesicht. Ich erkannte niemanden. Ich kann nicht erklären, warum, aber irgendwie fand ich das seltsam.
Nachdem wir mehrere Stunden an der Schlange entlanggegangen waren (oder waren es nur Minuten? – Ich weiß nicht, wie das mit der Zeit hier ist), hörte ich zum ersten Mal, dass sich Leute in meiner Muttersprache unterhielten. Vier Männer lachten alle im gleichen Augenblick laut auf, so als hätte jemand gerade einen Witz erzählt. Und stell dir vor! ... Sie unterhielten sich über die Spiele in der Fußballbundesliga! Ich fühlte mich wie zu Hause. Sie schienen sich wegen dieses Gerichts, vor dem sie sich bald zu verantworten hätten, keine allzu großen Sorgen zu machen.
»Sie meinen, Gott sei genauso wie sie«, erklärte mir der Engel. »Diese Männer gehören zu den ›Gottwird-mir-schon-vergeben-denn-das-ist-schließlichsein-Job‹-Typen. Sie gehen davon aus, dass Gott auch Sportzeitschriften liest und die Bierflaschen mit dem
Schraubenzieher aufmacht.« Es machte mich nervös, dass der Engel diese Leute so gut durchschaute. Was wusste Gott über mich? Ich konnte es nicht ertragen, darüber nachzudenken. Also versuchte ich es erst gar nicht.
Nachdem wir eine Weile neben den vielen Menschen hergegangen waren, kamen wir schließlich am Anfang der Schlange an. Vorne stieg einer nach dem anderen in einen weißen Aufzug.
Dann waren wir an der Reihe.
»Daniel, schau mich bitte kurz an«, forderte mich der Engel auf. »Daniel, die Bibel beschreibt die Szene, die du gleich sehen wirst. Ein Mann namens Johannes sah eine Vision von dieser Szene und schrieb sie auf. Diese Vision steht in einem Buch in der Bibel, der Offenbarung.«
Von der Offenbarung hatte ich schon gehört und auch von der Zahl 666 und von der Zahl des Tieres.
Ich hoffte, mit diesem Wissen könnte ich ein paar Punkte gutmachen. Aber worum ging es eigentlich bei der ganzen Sache?
Der Engel hob ein Kästchen hoch und zog eine Bibel mit einem schwarzen Ledereinband heraus. Während er zu lesen begann, bewegten wir uns durch ein strahlend weißes Licht nach oben. In der Ferne sah ich eine Art Stadion.
Als wir näher kamen, sah es eher aus wie ein Theater oder ein luxuriöser Gerichtssaal mit einem strahlend hellen Licht in der Mitte.
Der Engel las aus seiner Bibel:
»Ich sah einen großen weißen Thron und erkannte den, der darauf saß. Erde und Himmel konnten seinen Blick nicht ertragen, sie verschwanden im Nichts. Und ich sah alle Toten vor dem Thron Gottes stehen: die Mächtigen und die Namenlosen. Nun wurden Bücher geöffnet, auch das Buch des Lebens. Über alle wurde das Urteil gesprochen, und zwar nach ihren Taten, wie sie in den Büchern aufgezeichnet waren. Das Meer gab seine Toten zurück, ebenso der Tod und sein Reich. Alle, ohne jede Ausnahme, wurden entsprechend ihren Taten gerichtet. Der Tod und sein ganzes Reich wurde in den See aus Feuer geworfen. Das ist der zweite Tod. Und diesen endgültigen Tod, der für immer von Gott trennt, mussten alle erleiden, deren Namen nicht im Buch des Lebens verzeichnet waren.«1
Ich kann nicht ganz genau wiedergeben, wie ich auf diese Worte reagierte, denn ich verlor einfach die Kontrolle über mich. Ich erinnere mich, dass ich geschrien habe. Ich glaube, ich habe mir auch mit den Fäusten an den Kopf geschlagen. Egal. Jedenfalls hatte er kaum das von dem »See aus Feuer« fertig gelesen und ich hatte »Schei... Nein!« oder so etwas Ähnliches geschrien, als wir den oberen Bereich des Gerichtssaales erreichten.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich immer gedacht, bei einem Autounfall zu sterben, sei der schlimmste Schock meines Lebens. Aber jetzt hatte
1 Offenbarung 20,11-15
ich das Gefühl, mir würden die Eingeweide herausgerissen. Mein Name stand nicht im »Buch des Lebens«! Ich hatte noch nicht einmal von diesem Buch gehört!
»Das ist es, das letzte Gericht«, sagte der Engel.
Ich bestürmte den Engel immer wieder: »Nein, bitte, nein«, als plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm losbrach. Ich wurde hin und her geworfen wie eine Stoffpuppe und dann ...
Vor mir tauchte das faszinierendste Bild auf, das ich je gesehen hatte. Eine Helligkeit traf uns, als stünden wir plötzlich nur wenige Meter vor der Sonne. Ich glaubte, ich müsste verglühen, aber ich verlor nicht das Bewusstsein. Ich konnte immer noch sehen.
Das Verblüffendste bei der ganzen Sache kommt aber noch: Dieses helle Licht ging von einer Person aus! Ein junger Mann saß auf einer erhöhten Plattform auf einem weißen Thron. Eine unwiderstehliche Macht umgab ihn. Die ganze Atmosphäre um ihn herum war geladen wie eine Rakete kurz vor dem Start. Hinter ihm standen auf jeder Seite noch andere ... äh ... Wesen. Ich konnte sehen, dass Bücher offen vor ihm lagen, ganz genau so, wie mein Begleiter, ich meine die Bibel, gesagt hatte. Ich dachte wieder an dieses »Buch des Lebens«.
Ich schaute den jungen Mann an und ließ dann den Kopf hängen. »Wer ist das?«, flüsterte ich.
»Der Mann auf dem Thron ist Gottes Sohn, Jesus Christus. Ihm hat sein Vater die Vollmacht gegeben,
über die Menschen Gericht zu halten. Das wird auch in der Bibel erklärt.«2
»Aber wie vielen Menschen ist das bewusst?«
Der Engel antwortete: »Gott hat jedem klargemacht, dass dies so sein wird, als er Jesus von den Toten auferweckte. Die Bibel sagt: Der Tag ist schon festgesetzt, an dem Gott alle Menschen richten wird; richten durch den einen Mann, den er selbst dazu bestimmt hat. Daran hat Gott keinen Zweifel gelassen, indem er ihn von den Toten auferweckte.«3
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst ... Ich kenne die Bibel nicht ... Aber ...« Ich richtete mich bis zur Brusthöhe des Engels auf. »Kommt denn jeder vor Gericht? Auch Leute wie ich, die nicht religiös sind und nichts über die Bibel wissen?«
»Ja«, sagte der Engel. »Ich habe dir ja gesagt, ich würde alles in zehn Punkten zusammenfassen. Jetzt kommt mein dritter Punkt: Es gibt für alle ein letztes Gericht. Egal, wer du bist oder was du glaubst. Wir sind jetzt am Ende aller Zeit. Die Erde, so wie du sie kanntest, ist ... äh ... sozusagen in einem Recyclingverfahren verändert und verbessert worden. Jeder, der irgendwann darauf gelebt hat, steht hier vor Gericht. Ein vierter Punkt: Jesus Christus ist der Richter in diesem letzten Gericht. Und fünftens: Jeder wird nach seinen Taten gerichtet, die in den Büchern aufgeschrieben sind.
»Komm mit.« Der Engel wurde plötzlich lebhaft.
2 Johannes 5,27; Apostelgeschichte 10,42; 2. Timotheus 4,1
3 Apostelgeschichte 17,31
Er deutete zur Mitte des Gerichtssaals. »Du sollst unbedingt sehen, was geschieht. Komm, du darfst zuschauen, wie Jesus diesen Menschen das Gerichtsurteil verkündet. Als Jesus auf der alten Erde war, hat er selbst beschrieben, was wir jetzt gleich sehen werden. Hör gut zu.«
Vor dem Richter, den ich jetzt als Jesus Christus erkannte, stand eine kleine Gruppe Menschen. Sie sahen schwächlich und kläglich aus. Aber sie sprachen mit Jesus, der auf dem weißen Thron saß, mit einer solchen Kühnheit, als wären sie seine besten Freunde. Sie sagten: »Aber Herr, wir haben doch deine Wahrheiten gepredigt! Wir haben doch in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und mächtige Taten vollbracht!«
Aber Jesus antwortete ihnen: »Ihr habt nie wirklich zu mir gehört. Was ihr getan habt, das habt ihr ohne mich getan. Geht mir aus den Augen!«4
Sie waren völlig verdattert. Ich auch. Sprachlos standen sie da. Das nackte Entsetzen war in ihr Gesicht geschrieben. Sie konnten ihn nur anstarren. Mit einer einzigen Armbewegung schickte er sie fort.
»Aber diese Leute waren doch religiös!«, protestierte ich.
»Ja, das waren sie«, nickte der Engel.
»Zählt das denn überhaupt nicht?« Ich verstand die Welt nicht mehr.
»Daniel, was habe ich dir aus der Offenbarung vorgelesen? Erinnerst du dich? Alle ihre Taten sind in Büchern aufgeschrieben. Denk einmal einen Mo-
4 Matthäus 7,22-23
ment darüber nach. Alles, was du je getan hast, Daniel, ist in diesen Büchern aufgeschrieben.« Er deutete auf die Bücher, als hätte mich nicht allein schon ihr Anblick genug geschockt! »Außerdem waren diese Leute vielleicht tatsächlich Propheten, aber Jesus sagte, sie waren falsche Propheten.«5
Ich schwieg betroffen. Zum ersten Mal hielt ich den Mund. Schlagartig musste ich an Sarah Calder denken. Sie war das Mädchen, mit dem ich das erste Mal geschlafen hatte. Ich hatte deshalb gewaltige Schuldgefühle, denn alle anderen in der Schule sagten, ich wäre gemein zu ihr gewesen. Ich hatte wegen dieser Sache ein ganzes Schulhalbjahr sozusagen auf der schwarzen Liste gestanden. Und jetzt war ich tot und musste an Sarah Calder denken!
»Aber wir müssen uns doch nur für die Dinge verantworten, die wir getan haben, oder?«, fragte ich und hoffte verzweifelt, er würde mich irgendwie beruhigen, auch wenn ich es nicht erwartete.
»Nein. Jesus sagte: ›Ich sage euch das, weil ihr am Gerichtstag Rechenschaft ablegen müsst über jedes böse Wort, das ihr geredet habt.‹«6
»Aber ich kann mich doch nie an alles erinnern!«
»Nein, aber Gott. Und es ist alles in den Büchern aufgeschrieben.«
Schon wieder diese Bücher.
»Gibt es irgendetwas, das er übersehen wird?«, fragte ich. »Sozusagen übergeht?«
5 Matthäus 7,15
6 Matthäus 12,36
»Nein«, erwiderte der Engel. »Gott bringt die Geheimnisse der Menschen vor Gericht.7 Jesus sagte: ›Alles, was jetzt noch verborgen ist, kommt einmal ans Licht, und was jetzt noch ein Geheimnis ist, wird jeder verstehen.‹ 8 Ja, er ging sogar noch weiter. Jesus erklärte, dass Worte, die du hinter vorgehaltener Hand flüsterst, alle Welt zu hören bekommen wird.9
Mein sechster Punkt ist also: Alles, was du getan, gedacht oder gesagt hast, ist in den Büchern aufgeschrieben und jeder hat gesündigt und hat Gottes vollkommenen Maßstab verfehlt.«10
»Und jeder weiß dann, was ich getan habe?«
»Genau.«
»Das ist ja furchtbar! Das ist ja eine Katastrophe! Hast du denn auch irgendwelche guten Nachrichten?«
»Ja. Von deinem Standpunkt aus betrachtet ist es bestimmt eine gute Nachricht, dass jedes Urteil, das Gott fällt, vollkommen gerecht ist.«11 Pause.
»Schau einmal für einen Augenblick Jesus auf dem weißen Thron an.«
Ich tat, was er sagte. Eine starke Ehrfurcht überkam mich. Ja, ich kniete sogar nieder.
»Wie könnte jemand, der so rein ist wie er, zu-
7 Römer 2,16
8 Lukas 8,17
9 Lukas 12,3
10 Römer 3,23
11 1. Mose 18,25; 5. Mose 32,4; Psalm 9,8; Römer 2,11
lassen, dass das, was du in deinem Leben falsch gemacht hast, in den Himmel kommt?«
Diese Frage ging mir durch Mark und Bein. Außerdem hörte ich zum ersten Mal etwas vom Himmel. Der Gedanke daran war so verlockend, aber ich musste dem Engel wohl oder übel recht geben: Es gab keine Möglichkeit, dass jemand wie ich in der Nähe eines so vollkommenen Wesens wie dem Mann, der auf diesem Thron saß, leben konnte.
Ich war immer noch niedergeschlagen, aber als ich Jesus anschaute, verschwand jede Traurigkeit von mir. Vor mir stand mein Schöpfer. Ich sah mich, wie ich noch ungeboren, ganz klein im Bauch meiner Mutter gewesen war. Wie hilflos und vollkommen abhängig ich damals gewesen war. Jetzt war ich wieder genauso hilflos und abhängig. Dazwischen lagen 17 Jahre, in denen ich gedacht hatte, ich wäre ein toller Typ. Mein ganzes Leben, jeden Atemzug –alles hatte mir dieser Ehrfurcht gebietende Schöpfer geschenkt, der mich jetzt dafür zur Rechenschaft ziehen würde. Eine Sekunde lang schaffte ich es, meine Gefühle in die eine Ecke meines Verstandes zu räumen und den Rest von mir in eine andere. Meine Schlussfolgerung? Das war vollkommen logisch!
Denn: Hatte ich für Gott gelebt? ... Nein.
Hatte ich ihn gesucht? ... Nein.
Hatte ich ihm überhaupt dafür gedankt, dass er mir mein Leben geschenkt hat? ... Nein. Ich hatte einfach jede sich bietende Gelegenheit beim Schopf gepackt, mir ein schönes Leben zu machen, und war
ansonsten der wichtigen Aufgabe nachgegangen, das zu tun, was mir Spaß machte. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf blickte ich wieder auf Jesus, der auf dem weißen Thron saß. Hier gab es keine Ungerechtigkeit. Trotzdem war ich noch nicht so weit, dass ich der vollen Realität meines eigenen Schicksals ins Auge schauen konnte. »Du hast nie wirklich zu mir gehört. Geh mir aus den Augen!«12 Das würde er sicher auch zu mir sagen.
Irgendwie jedoch klammerte ich mich an einen Strohhalm, der mich tröstete: Ich war Zuschauer bei diesem Gericht, ich stand noch nicht selbst in der Warteschlange!
Von unserem Platz aus, der gleich über der hinteren Reihe des Gerichtssaales war, hatten wir inzwischen zahlreiche Leute kommen und gehen sehen. Jeder von ihnen war von Jesus mit Worten, bei denen mir das Blut in den Adern zu gefrieren drohte, weggeschickt worden. Jeder Einzelne ging mit einer gewissen Todesangst oder deprimiert davon. Ich erschauderte bei dieser Vorstellung. »Der See aus Feuer?«
Ich weiß wirklich nicht mehr, bei wie vielen Leuten wir zuschauten, wie sie ihr Gerichtsurteil empfingen. Vielleicht waren es um die dreihundert. Einer nach dem anderen kam herein. Die Dinge, die sie zu Jesus sagten, waren vorhersehbar. Diese Menschen hatten ehrlich geglaubt, sie wären gut genug, um in den Himmel zu kommen. Ich konnte fast meine ei-
12 Matthäus 7,23
gene Stimme hören, die beinahe jeden Appell, den die Menschen vor dem Richterstuhl zu ihrer Verteidigung vorbrachten, für mich selbst wiederholte. Doch jeder bekam von Jesus die gleiche endgültige Antwort.
»Ich habe zwölf Jahre lang meine schwer kranke Mutter gepflegt«, kamen die herzzerreißenden Worte aus dem Mund einer Frau.
»Du hast nie wirklich zu mir gehört. Geh mir aus den Augen!«13
Eine andere Frau sagte unter Tränen: »Ich habe immer alles für meine Kinder getan.«
»Du hast nie wirklich zu mir gehört. Geh mir aus den Augen!«
»Ich habe stets mein Bestes gegeben.«
»Du hast nie wirklich zu mir gehört. Geh mir aus den Augen!«
»Ich habe nie jemanden umgebracht.«
»Du hast nie wirklich zu mir gehört. Geh mir aus den Augen!«
Ein Mann wollte, als er den Urteilsspruch von Jesus hörte, so etwas sagen wie: »Nun mach mal halblang!« Doch dann brach er mitten im Satz ab. Seine Reaktion war impulsiv, aus einem Reflex heraus gekommen. Aber jetzt beherrschte er sich und schaute zum Thron. Ich folgte seinem Blick: Alles war rein und weiß. Jesus war kein Schiedsrichter bei einem Fußballspiel, den man beschimpfen und anschreien konnte. Das hier war kein Gekicke am Sonntagvor-
13 Matthäus 7,23
mittag. Der Mann verstummte ehrfurchtsvoll. Er fiel auf die Knie, nicht weil er Jesus um Gnade anflehen wollte, sondern weil er sein Verhalten bedauerte. Es war zu spät, um noch irgendetwas zu ändern. Der Mann sah aus, als wäre er auf dem Bahnhof dem letzten Zug, der ihn nach Hause gebracht hätte, hinterhergelaufen und müsste jetzt resigniert zuschauen, wie dieser ohne ihn davonfuhr.
Andere verrenkten sich den Hals, um zu sehen, was in den Büchern stand. Dieses Gericht machte alle Menschen gleich! Einige waren reich, vermute ich, aber die Reichen wurden ganz genauso behandelt wie Obdachlose und Penner. Diese erstaunliche Gleichheit vor Gericht erfüllte mich mit einer gewissen Befriedigung. Macht und Einfluss zählten hier nicht. Alle wurden gleichbehandelt. Aber wohin gingen diese Leute als Nächstes? Wohin waren meine Familie und meine Freunde unterwegs? Zum See aus Feuer?
Als ich gerade versuchte, mir das auszumalen, brach plötzlich ein tosender Lärm los. Alle sprangen auf die Beine. Trompeten und Posaunen ertönten.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte ich den Engel.
»Alle freuen sich, Daniel. Der Name dieser jungen Frau ist im Buch des Lebens gefunden worden.«
»Was?« Ich starrte die junge Frau an. Sie war Asiatin. Ihr Gesicht strahlte. Sie erinnerte mich an eine Schülerin aus dem Geografieunterricht.
Da hörte ich, wie Jesus zu ihr sagte: »Komm her, dich hat mein Vater gesegnet. Nimm das Reich Gottes
in Besitz, das er seit Erschaffung der Welt für dich als Erbe bereithält.«14
»So etwas hat er bis jetzt noch zu niemandem gesagt, nicht wahr?«
»Seit du hier stehst und zuschaust, ist es das erste Mal, Daniel. Das, was du hier siehst, veranschaulicht meinen siebten Punkt: Jeder verdient die Todesstrafe, denn jeder hat gegen Gott gesündigt. Aber alle, deren Name im Buch des Lebens gefunden wird, entgehen der Todesstrafe. Sie dürfen in den Himmel!«
»Was? Wie funktioniert das?«
»Ich sehe schon, ich muss dir Punkt sieben genauer erklären. Merke dir für den Anfang einfach: Diese junge Frau wusste, dass Jesus das zu ihr sagen würde, denn sie hatte es in der Bibel gelesen.«
Der Engel schlug bereits die entsprechende Seite auf. Ich war sprachlos.
»Daniel, ich möchte dir einen Teil daraus vorlesen, denn es beschreibt, was du hier gerade siehst. Jesus bezeichnete sich selbst als Menschensohn und er sagte: ›Wenn der Menschensohn in seiner ganzen Herrlichkeit, begleitet von allen Engeln, wiederkommt, dann wird er auf dem Thron Gottes sitzen. Alle Völker werden vor ihm erscheinen und er wird die Menschen in zwei Gruppen teilen, so wie ein Hirte die Schafe von den Böcken trennt. Rechts werden die Schafe und links die Böcke stehen. Dann wird der Richter zu denen an seiner rechten Seite sagen: Kommt her! Euch hat mein
14 Matthäus 25,34
Vater gesegnet. Nehmt das Reich Gottes in Besitz, das er seit Erschaffung der Welt für euch als Erbe bereithält!‹«15
»Und was hat sie getan, dass sie vor diesem Gericht bestehen kann?«
»Nichts.«
»Nichts?!«
»Diese junge Frau hat nichts getan, mit dem sie vor Gott bestehen könnte.«
»Aber warum wird sie dann nicht bestraft?«, fragte ich mehr aus Neid als aus Neugier.
»Sie wurde nicht bestraft, weil ein anderer die Strafe getragen hat, die sie verdient hätte. Jemand, der vollkommen war, meldete sich freiwillig und ließ sich an ihrer Stelle bestrafen. Er übernahm ihre Sünde und sie übernahm seine Vollkommenheit. Sie haben getauscht.«
»Aber das ist doch unerhört! Wie kann so etwas fair sein?«
Das, was ich sagte, schien den Engel an etwas Angenehmes zu erinnern. Er lachte und sagte: »Mit so etwas würdest du nicht rechnen, nicht wahr? Aber genau so etwas Herrliches hat Gott getan! Tatsache ist, dass diese Frau nichts getan hat, das sie vor Gott annehmbar macht, aber wie du mit eigenen Augen gesehen hast, hat Jesus sie in seinem Urteilsspruch für nicht schuldig erklärt. Sie geht vom Gerichtssaal ohne jede Schuld oder Strafe in den Himmel.«
»Aber sie muss doch bestimmt religiöser gewesen
15 Matthäus 25,31-34
sein als all die anderen, die fortgeschickt wurden, sogar als die Leute, die Dämonen ausgetrieben haben?«
(Das klang wirklich cool, ja sogar lustig, fand ich!)
»Das kann doch nicht richtig sein.« Ich war ziemlich entrüstet.
»So, und wer bist du, dass du sagen kannst, was richtig sein kann und was nicht?«, wies der Engel mich zurecht. Er fuhr fort: »Daniel, um dir verständlich zu machen, warum diese Frau von Gott angenommen wird, muss ich dich fragen, was du über Jesus Christus weißt.«
»Nun, ich weiß, dass in der Herberge kein Platz war und so. Er war Jude. Der Sohn Gottes, für die Sünden der Welt gekreuzigt.«
»Halt! Woher weißt du das alles?«
»Keine Ahnung. Vielleicht aus dem Religionsunterricht.«
»Was bedeutet denn, dass er für die Sünden der Welt gekreuzigt wurde?«
»Weiß ich nicht genau.«
»Aber du weißt, dass Jesus hingerichtet wurde? Dass er an ein Holzkreuz genagelt wurde?«
»Natürlich ...«
»Es gibt niemanden wie Jesus. Er hat nie gesündigt. Er war vollkommen. Als er starb, nahm er die Strafe auf sich, die du für alles verdient hättest, was du in deinem Leben falsch gemacht hast. Und er wurde auch für die Sünden aller anderen Menschen bestraft, auch für die Sünden dieser jungen Frau.«
»Willst du damit sagen, dass wir hier vor uns den-
selben Jesus sehen, der am Kreuz hing?« Ich schaute ihn ehrfurchtsvoll an. »Aber er sieht so fantastisch aus!«
»Ja, er ist von den Toten auferstanden und in den Himmel aufgefahren, wo er jetzt an der Seite seines Vaters sitzt. Und sein Vater hat ihn dazu ermächtigt, Gericht zu halten. Aber während er über dieser Frau zu Gericht sitzt, weiß er gleichzeitig, dass er ihre ganze Sünde übernommen hat, als er am Kreuz starb. Vielleicht kann ich es dir anhand einer Geschichte erklären«, fuhr der Engel fort. »Stell dir vor, du bist irgendwo in einer Stadt in Florida. Du marschierst in eine Einkaufspassage und erschießt jemanden.«
»Aber so etwas würde ich doch nie tun!«, verteidigte ich mich empört.
»Ich weiß«, beschwichtigte mich der Engel. »Aber ich muss mir doch eine Geschichte ausdenken, die dir zeigt, dass auf Sünde die Todesstrafe steht. Und im US-Bundesstaat Florida musst du, wie du dich wahrscheinlich erinnerst, als Mörder mit dem elektrischen Stuhl rechnen.«
»Verstehe«, nickte ich.
Der Engel erzählte weiter: »Du erschießt also jemanden und wirst sofort verhaftet. Du wartest auf deinen Prozesstermin. Beim Prozess wird eine Videoaufnahme von einer Überwachungskamera eingespielt, auf der du eindeutig als Mörder überführt wirst.«
»Wie im Krimi?«
»Ja, meinetwegen wie im Krimi. Jedenfalls ist die
Beweislage klar. Alles spricht gegen dich. Der Richter will dich gerade zum Tod verurteilen, als ein Fremder in den Gerichtssaal platzt.
Er drängt sich an der Sicherheitsschranke vorbei und läuft zu dir auf die Anklagebank nach vorne. Zum großen Erstaunen der Reporter und deiner Familie in den Zuschauerreihen unterbindet der Richter diese Störung nicht. Dann schiebt dich der Fremde von der Anklagebank und nimmt deinen Platz ein.
Der Richter unternimmt nichts, um den Fremden aufzuhalten. Stattdessen schaut er ihn direkt an und sagt: ›Ich verurteile dich zum Tod!‹ Der ganze Gerichtssaal hält entsetzt den Atem an. Dann schlägt der Richter mit seinem Hammer auf den Richtertisch. Die Verhandlung ist beendet – und du stehst irgendwo im Gerichtssaal und bist frei! Die Polizei legt dem Fremden die Handschellen an und führt ihn aus dem Gerichtssaal zur Todeszelle.
Als der Fremde an dir vorbeigeht, fragst du ihn: ›Warum hast du das getan?‹ Er antwortet: ›Weil ich dich liebe.‹ Irgendwie kannst du dich mit dieser Erklärung nicht zufriedengeben. Du gehst ins Foyer des Gerichtsgebäudes hinaus. Dort hörst du, wie zwei Reporter sich unterhalten. Sie kennen den Fremden. Er ist der einzige Sohn des Richters! Jetzt erfüllt dich eine große Ehrfurcht vor dem Richter. Dann schiebt sich der Richter an den Reportern vorbei und du fragst ihn: ›Euer Ehren, bitte, warum haben Sie das für mich getan?‹ Er antwortet: ›Weil ich dich liebe!‹«
Der Engel musste nicht weitersprechen. Ich begriff plötzlich, warum dieser Jesus so beeindruckend war, warum er von der asiatischen Frau so verehrt wurde. Er hatte sie so sehr geliebt, dass er sein eigenes Leben für sie gegeben hatte, genauso wie der Fremde im Gerichtssaal. Der Groschen war gefallen. Jesus war sozusagen stellvertretend für sie gestorben. Gott, der Richter, hatte seinen eigenen Sohn geopfert.
Die junge Frau muss diese Nachricht verstanden und diesen »Tausch« während ihres Lebens auf der alten Erde akzeptiert haben. Ich dagegen wusste genau: Selbst wenn ich diese Nachricht gehört hätte, und zwar so, dass ich sie verstanden hätte, wäre ich nicht im Geringsten daran interessiert gewesen. Ich war kein religiöser Typ gewesen und mir hatte mein Leben immer ganz gut gefallen, so wie es war.
»Ihr hat also jemand erzählt, dass Gott seinen eigenen Sohn in den Tod geschickt hat? Oder hat sie das in der Bibel gelesen?«
»Beides!«, antwortete der Engel. »Und sie hat es geglaubt. Zwei Wochen später jedoch starb sie an einer Hirnhautentzündung. Aber Jesus sagte: Wer an ihn glaubt, der wird nicht verurteilt werden. Wer aber nicht an den Sohn Gottes glaubt, über den ist wegen seines Unglaubens das Urteil schon gesprochen.16 Daniel, ich glaube, du bist jetzt so weit, dass ich dir meinen siebten Punkt erklären kann.«
»Lass es mich selbst einmal versuchen«, warf ich ein und hoffte, dass ich mich besser fühlen würde, 16 Johannes 3,18
wenn ich die Worte aussprach. »Jesus ist der Sohn dieses Richters. Jesus hat seine Vollkommenheit mit der Unvollkommenheit dieser Frau eingetauscht. Er starb an ihrer Stelle. Deshalb entgeht sie der Strafe und kommt in den Himmel. Ist das richtig?«
Der Engel nickte. »Ja. Die Strafe für die Sünde ist der Tod. Aber Gott liebt die Menschen so sehr, dass er seinen Sohn Jesus Christus schickte, damit er an ihrer Stelle starb. Jeder, der Jesus wirklich nachfolgt, entgeht damit der Todesstrafe. Ihm ist vergeben. Diese Menschen werden als so schuldlos betrachtet wie Jesus selbst. Sie sind die Leute, deren Namen im Buch des Lebens stehen. Sie kommen in den Himmel.«
»Aber warum hat mich dann nicht jemand gepackt und mir das so eingebläut, dass ich es hätte glauben können?«
»Das weiß ich nicht, Daniel.«
»Okay, aber verrate mir doch bitte eines: Steht in dieser Bibelstelle, die du mir vorgelesen hast, auch, dass Jesus Menschen einfach fortschickt, so wie wir es hier oben gesehen haben?«
»Aber ja.« Der Engel schaute noch einmal in seine Bibel. »Jesus sagt zu denen, die links von ihm stehen: ›Geht mir aus den Augen, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, das für den Teufel und seine Helfer bestimmt ist!‹«17
Jetzt erwähnte er zum ersten Mal den Teufel. Es hatte mich nicht allzu sehr überrascht, dass Gott
17 Matthäus 25,41
existiert, auch wenn ich auf der Erde absolut nichts aus diesem Wissen gemacht hatte. Aber als ich jetzt hörte, dass es wirklich einen Teufel gibt, war ich ehrlich überrascht. Er war jedoch nirgends zu sehen.
Wenn du das jetzt alles liest, fragst du dich wahrscheinlich, wie ich überhaupt weitererzählen kann, obwohl mein eigenes Schicksal doch so düster ist.
Ehrlich gesagt: Ich war so fasziniert, Jesus zu sehen, dass ich jedes Mal, wenn ich ihn anschaute, mehr an ihn als an mich selbst dachte. Aber wenn ich den Blick abwandte, wurde mir bewusst, wie unwürdig ich war, in seiner Nähe zu sein. Die asiatische Frau, die in den Himmel gehen durfte, faszinierte mich jedoch immer noch.
»Sie ist also die Einzige?«
»Oh nein«, antwortete der Engel. »Schau dich doch einmal um.«
Überall um uns herum standen andere Menschen. Sie waren irgendwie ein selbstverständlicher Bestandteil der ganzen Szene. Ich hatte die meiste Zeit nur Jesus angestarrt. Deshalb waren sie mir überhaupt nicht aufgefallen.
»Das ist der achte Punkt meiner Zusammenfassung: Christen helfen beim Gericht.«18
Inzwischen drehte sich alles in meinem Kopf. Ich kam zu dem Schluss, dass ich schon zu lange tot war! Was mich wirklich umhaute, war die Erkenntnis, dass es Menschen gab, für die keiner dieser acht Punkte, die ich bislang gehört hatte, eine Überraschung
18 1. Korinther 6,2-3; Offenbarung 20,4
war. Sie wussten über jeden einzelnen Punkt bestens Bescheid! So, wie wenn man die Prüfungsfragen in der Nacht zuvor gesehen hat, hatten sie alle Fragen und Antworten schon vor ihrem Tod gewusst. Für sie kam das alles nicht als großer Schock! Wer waren diese Leute? Warum hatten sie uns nicht mehr von der Wahrheit erzählt, wenn sie doch wussten, wie wichtig sie war? Ich wurde sauer, wenn ich nur daran dachte.
Ich erinnerte mich an ein Gespräch, das ich einmal mit einem Mädchen geführt hatte, das auch bei uns an der Schule war. Sie hieß Anne Beckmann (die einzige richtige Christin, die ich wahrscheinlich gekannt hatte). Doch der Engel riss mich aus meinen Gedanken und schaute mich auffordernd an. »Daniel, jetzt ist es Zeit, dass ich dir zeige, was aus denen wird, die zur ewigen Bestrafung fortgeschickt wurden.«
Davor graute mir mehr als vor allem anderen.
Zum ersten Mal zitterte ich und der Engel musste mich tragen, was ihm anscheinend nicht die geringste Mühe bereitete. Wir hatten Jesus vom hinteren Bereich des Gerichtssaals aus genau beobachtet. Jetzt gingen wir nach links, dorthin, wohin alle außer der asiatischen Frau geschickt worden waren.
Als wir gerade dort ankamen, brachen in der Menschenmenge hinter uns erneut Begeisterungsstürme los. Wieder war ein Name im Buch des Lebens gefunden worden! Ich fuhr herum. Von ganzem Herzen wünschte ich, es wäre Anne Beckmann, denn ich wollte ihr gern die Meinung geigen. »Hallo, Anne!«,