275041

Page 1


Alexander Strauch Platz ist in der kleinsten Hütte Vom Segen der Gastfreundschaft

Best.-Nr. 275041

ISBN 978-3-98963-041-3

Titel des amerikanischen Originals: Hospitality Commands

Copyright 1993 by Alexander Strauch

Wenn nicht anders angegeben, wurde folgende Bibelübersetzung verwendet: Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

2. Auflage 2025

(1988 bereits unter gleichnamigem Titel bei CLV erschienen) © 2015–2025 Christliche Verlagsgesellschaft mbH Am Güterbahnhof 26 | 35683 Dillenburg info@cv-dillenburg.de

Übersetzung: Janette Reinhardt

Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany

Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gern kontaktieren: info@cv-dillenburg.de

EIN FEHLENDES KRONJUWEL

Im Urlaub hatten meine Frau und ich die Gelegenheit, ein Ehepaar zu besuchen, das früher in unsere Gemeinde und unseren Hauskreis gekommen, aber inzwischen umgezogen war. Wir waren um ihr geistliches Wohlergehen besorgt und freuten uns zu hören, dass sie dem Herrn weiter nachfolgten und aktiv in einer kleinen örtlichen Gemeinde mitmachten. Eines jedoch beklagten sie: In dem gesamten zurückliegenden Jahr, in dem sie diese Gemeinde nun schon besuchten, hatte niemand –noch nicht einmal einer der geistlichen Leiter – sie zu sich eingeladen: zum Essen oder einfach mal so, um miteinander Gemeinschaft zu haben. Deswegen fühlten sich unsere Freunde immer noch nicht als Teil der Gemeinschaft und waren ziemlich niedergeschlagen.

Eine ältere, alleinstehende Frau, die jetzt unsere Gemeinde besucht, erzählte mir einmal von einer Erfahrung, die dramatisch darstellt, warum wir uns unbedingt mit den biblischen Aussagen zum Thema „christliche Gastfreundschaft“ beschäftigen müssen: Für eine gewisse Zeit musste sie jeden

Sonntag über eine Stunde lang mit dem Bus fahren, um eine kleine Vorortgemeinde zu besuchen. Nach der Versammlung am Sonntagvormittag aß sie Woche für Woche allein in einem Restaurant und verbrachte dann den ganzen Nachmittag in einem Park oder in der Bücherei, damit sie abends auch noch den Abendgottesdienst besuchen konnte. Vier Jahre lang ging das so. Sie hatte bittere Erinnerungen an diese Gemeinde, weil in diesen vier Jahren kein Einziger sie jemals zu sich nach Hause zum Essen oder zum Ausruhen eingeladen hatte. Erst als sie bekannt gab, dass sie die Gemeinde verlassen würde, lud eine ältere Dame sie an ihrem letzten Sonntag zum Essen ein.

Ich selbst habe in der Vergangenheit oft Fahrten von zwei oder drei Stunden auf mich genommen, um am Sonntagmorgen in einer Gemeinde zu predigen. Manchmal übergab man mir anschließend einen Scheck, lud mich ein, wiederzukommen, und gab mir einen freundlichen Handschlag und herzliche Abschiedsgrüße mit. Aber niemand dachte je daran, mich zu sich zum Essen einzuladen, mir eine Möglichkeit zum Ausruhen vor meiner langen Heimfahrt anzubieten oder über den Sonntagsgottesdienst hinaus Gemeinschaft mit mir zu suchen.

Diese Beispiele machen mir Kummer, und das sollten sie auch! Sie sind Ausdruck für ein lebloses,

liebloses, ungastliches Christentum. Schlimmer noch: Sie sind Beispiele für einen unverhohlenen Ungehorsam gegenüber den klaren Anweisungen der Bibel. Im Schlusswort des Briefes an die Hebräer beschwört der inspirierte Autor seine Leser – die Christen sind –, eine tiefe, herzliche Liebe zueinander als Brüder und Schwestern zu kultivieren (Hebr  13,1). Unmittelbar danach warnt er sie, einen wesentlichen Aspekt ihrer brüderlichen und schwesterlichen Liebe zueinander nicht zu vernachlässigen: die Gastfreundschaft. Tragischerweise machen die meisten Christen heutzutage genau das. Mortimer Arias, ein ehemaliger methodistischer Bischof aus Bolivien, sagt:

Die Gastfreundschaft wird bei unserem heutigen Lebensstil zu einer fast vergessenen christlichen Tugend, besonders in den großen Städten mit steigender Kriminalitätsrate, mit verriegelten Wohnungen und all den Mitteln, mit denen Menschen versuchen, in ihren Häusern und Leben eine Privatsphäre zu schaffen. Im Neuen Testament jedoch war die Gastfreundschaft ein herausragendes Merkmal der Christen und der christlichen Gemeinschaften.1

Wenn das, was Mortimer Arias sagt, stimmt und „die Gastfreundschaft ein herausragendes Merkmal der Christen und der christlichen Gemeinschaften“ war, dann fehlt uns ein wertvolles

Juwel in der Krone unseres christlichen Lebens und Dienstes.

Wenn Sie Zweifel daran haben, dass die Gastfreundschaft „ein herausragendes Merkmal der [frühen] Christen und christlichen Gemeinschaften“ war, bedenken Sie einmal das folgende Zitat:

Denn wer ist bei euch eingekehrt und hätte nicht euren tüchtigen und festen Glauben gerühmt? ...

Wer hätte nicht die großartige Weise eurer Gastfreundschaft verkündet?2

Diese glühenden Lobesworte im Bezug auf die Gastfreundschaft wurden 96 n. Chr. von der Gemeinde in Rom an die Christen in Korinth gerichtet. Die „hervorragende“ Demonstration der Gastfreundschaft war jedoch nicht einzigartig. In den ersten beiden Jahrhunderten zeichneten sich fast alle christlichen Gemeinden quer durch das Römische Reich durch eine liebende, christliche Gastfreundschaft aus. Die Gemeinde in Rom selbst war dafür besonders bekannt. Der liberale Kirchenhistoriker Adolf Harnack (1851–1930) schreibt:

Es ist aber vor allem die römische Kirche selbst, welche in den ersten Jahrhunderten durch die weitherzige Ausübung dieser Tugend [der Gastfreundschaft] herausstrahlt. ... Das wirksame Interesse am Gesamtwohl der Kirche Christi ist in der römischen Gemeinde, wie wir sehen

werden, von Anfang an in besonderem Maße lebendig gewesen. Dasselbe kam aber auch in der Übung der Tugend der Gastfreundschaft zum Ausdruck.3

In seiner wissenschaftlichen Studie der griechischen, römischen, jüdischen und christlichen Gastfreundschaft stellt Gustav Stählin diese erstaunliche Behauptung auf: „Im Gesamtbild des frühen Christentums, welches so reich an guten Werken ist, spielt die Gastfreundschaft eine außerordentliche Rolle.“4

Offensichtlich war die Gastfreundschaft den frühen Christen sehr wichtig. Tatsächlich erhoben die Autoren des Neuen Testaments – Paulus, Petrus, Johannes und der Verfasser des Hebräerbriefes – die Gastfreundschaft zu einem biblischen Gebot, zu einer Pflicht. Aber warum sollte die Gastfreundschaft ein Gebot sein? Warum sollte sie für das Christentum so wichtig sein? Warum sollte sie als christliche Tugend angesehen werden? Was hat die Gastfreundschaft mit dem Glauben zu tun?

Es ist wichtig für uns als bibeltreue Christen, diese Fragen zu beantworten. Es ist nötig, die dynamische Lehre des Neuen Testaments zum Thema „Gastfreundschaft“ wieder neu zu entdecken. Es ist wichtig, den reichen Segen aufzuzeigen, der diejenigen erwartet, die Gastfreundschaft pflegen. Wir müssen erkennen, welches Potenzial die Gastfreundschaft hat, wenn es darum geht, unsere

Gemeinden zu stärken und unsere Nachbarn und Freunde mit dem Evangelium zu erreichen.

Die biblische Aufforderung, Gastfreundschaft zu üben, steht fast immer im Kontext der brüderlichen Liebe. Um also zu verstehen, warum das Neue Testament uns zur Gastfreundschaft auffordert, lassen Sie uns zuerst die außerordentliche, übernatürliche Liebe unter Glaubensgeschwistern betrachten sowie den engen Zusammenhang zwischen ihr und der Gastfreundschaft.

DIE LIEBE DER

CHRISTLICHEN GEMEINDE

STÄRKEN

Die Bruderliebe bleibe!

Hebräer 13,1

Christen werden nicht nur deshalb Brüder und Schwestern genannt, weil sie ähnliche Ideen, Interessen und Umstände teilen, sondern weil sie am „Leben Jesu“ teilhaben (2Kor 4,10). Sie sind nicht durch natürliche Geburt Teil dieses Lebens, sondern durch die geistliche Geburt (Joh 1,12­13). Deswegen ist die christliche Bruder­ und Schwesternschaft allein in Jesus Christus gegründet. Der Bibelkommentator Philip E. Hughes erklärt diese wunderbare Lehre treffend: „Unsere Bruderschaft ist zuerst mit ihm [Christus] und dann und durch ihn miteinander, denn es ist die Bruderschaft der Erlösten.“5 Diesen Punkt weiter erläuternd, schreibt Hughes:

Die Bruderschaft, die Christen untereinander genießen, leitet sich von Christus selbst ab, zuerst durch seine Menschwerdung, durch die er mit uns als menschliches Wesen eins wurde, und zweitens durch unser Einswerden mit ihm durch unser Erleben der Erlösung, die er für uns vollbracht hat. Christliche Bruderschaft ist daher im Kern Bruderschaft in Christus.6

Der Schreiber des Hebräerbriefes erklärt kühn, dass Jesus Christus nicht im Geringsten zögert, uns, die wir früher die schlimmsten Sünder waren, seine Brüder und Schwestern zu nennen: „Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch die, welche geheiligt werden, sind alle von einem; aus diesem Grund schämt er sich nicht, sie Brüder zu nennen“ (Hebr 2,11). Kein Wunder also, dass der Autor des Briefes die Gläubigen als „heilige Brüder“ beschreiben kann (Hebr 3,1).

Paulus lehrt, dass Jesus „der Erstgeborene ... unter vielen Brüdern“ ist (Röm 8,29). Christi Solidarität mit all seinen bluterkauften Brüdern und Schwestern ist so real, dass er sagt: Was auch immer für einen seiner Brüder oder Schwestern getan wird, wird auch für ihn getan: „Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan“ (Mt  25,40; vgl. 28,10 und Joh 20,17). Umgekehrt ist das Sündigen einem Bruder oder einer Schwester gegenüber auch ein Sündigen gegen Jesus Christus (1Kor 8,11­12).

Als Brüder und Schwestern teilen sich alle Christen denselben himmlischen Vater. Wir teilen uns dieselbe Kraft des Heiligen Geistes. Wir teilen denselben Namen: Christ. Wir haben teil an derselben Taufe. Wir teilen ein unzerstörbares Familienband.

DAS GEHEIMNIS DER FAMILIE

DER CHRISTEN VERSTEHEN

Das Neue Testament ist durchdrungen von der Realität unserer geschwisterlichen Beziehungen. Obwohl die Autoren des Neuen Testaments die Natur der Gemeinde mit verschiedenen Bildern beschreiben – dem des Körpers, dem der Braut, dem des Tempels, dem der Herde –, ist das am häufigsten verwendete das der Familie, insbesondere der geschwisterliche Aspekt der Familie. Die ersten Christen bezeichneten sich stets als Brüder oder Schwestern. Die Bezeichnungen „Brüder“, „Bruder“ oder „Schwester“ kommen im Neuen Testament an die 250­mal vor, besonders in den Briefen des Paulus. Petrus benutzt in Bezug auf Christen direkt den Ausdruck „die Bruderschaft“ (1Petr 2,17). (Gegen Ende des 3. Jahrhunderts begannen diese liebevollen Bezeichnungen unter den Christen leider zu verschwinden.7)

Der Grund für die häufige Verwendung dieses Familienaspekts innerhalb der Gemeinde ist offensichtlich. Nur die intimste Form menschlicher Beziehungen kann überhaupt annähernd

ausdrücken, was für eine Liebe und Verbundenheit, was für Vorzüge und was für eine neue Beziehung zwischen Gott und Mensch wie auch zwischen Mensch und Mensch aufgrund von Christi Menschwerdung und Tod möglich sind. Auf vielfältige Art und Weise zeigt sich die Ortsgemeinde im Neuen Testament als eng verbundene Familie von Brüdern und Schwestern:

• Die Christen grüßten einander mit dem heiligen Kuss (Röm 16,16; 1Kor 16,20; 2Kor 13,12; 1Thes 5,26; 1Petr 5,14).

• Sie teilten ihren materiellen Besitz miteinander (Apg 2,44­45; 4,32; 11,29; Röm 12,13.20; 15,26; 1Kor 16,1; 2Kor 8; Gal 2,10; 6,10; Hebr 13,16; Jak 2,15­16; 1Jo 3,17).

• Die frühen Christen trafen sich in ihren privaten Häusern (Röm 16,5; 1Kor 16,19; Kol 4,15; Phim 2).

• Sie aßen miteinander (Apg 2,46; 20,11; 1Kor 11,20ff.; Jud 12).

• Sie kümmerten sich um die Witwen unter ihnen (Apg 6,1­6; 9,39; 1Tim 5,1­16).

• Wo nötig, disziplinierten sie ihre Mitglieder (1Kor 5,6; 2Kor 2,1­11; 2Thes 3,6­15; 1Tim 5,19­20).

• Die Brüderlichkeit war das leitende Prinzip des Verhaltens unter den Mitgliedern (Röm 14,15.21; 1Kor 6,8; 8,11­13; 2Thes 3,14­15; Phim 16; Jak 4,11).

• Sie zeigten Gastfreundschaft (Apg 16,15; 21,8.16; Röm 12,13; 1Tim 3,2; 5,9­10; Hebr 13,2; 1Petr  4,9; 3Jo 5­8).

Die ersten Christen sahen sich als Teil einer weltweiten Bruderschaft, die über alle nationalen, ethnischen und sozialen Grenzen hinausging. Diese Bruderschaft war in ihrer Einheit mit Christus begründet, dem „Erstgeborene[n] unter vielen Brüdern“ (Röm 8,29). Darüber hinaus war ihnen bewusst, dass sie eine verfolgte Minderheit in einem äußerst feindseligen Umfeld waren. So hing ihr Überleben von der aktiven Mitarbeit in der Familie von Brüdern und Schwestern ab. „Die kleinen Gruppen von Christen überlebten“, schreibt C. S. Lewis, „weil ihnen ausschließlich die Liebe der Geschwister wichtig war und sie ihre Ohren vor der Meinung der sie umgebenden heidnischen Gesellschaft verschlossen“8 (siehe Hebr 10,23­25.32­34).

Ganz sicher hätten die ersten Christen gern mit Gloria und Bill Gaither „I’m so glad to be part of the family of God“ gesungen.a

a Anm. d. Übers.: Gloria und Bill Gaither sind Autoren und Sänger christlicher Gospelmusik in den USA. Das Lied heißt grob übersetzt: „Ich bin so froh, Teil der Familie Gottes zu sein.“

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.