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WIE SIND

WIR WIRKLICH?

Im Spagat zwischen

Getzlichkeit und Gesetzlosigkeit

Dominic Smart

Wie frei sind wir wirklich?

ImSpagatzwischenGesetzlichkeitundGesetzlosigkeit

Best.-Nr. 271987

ISBN 978-3-86353-987-0

Titel des englischen Originals: Grace, Faith and Glory

Copyright © Dominic Smart 2020

Published by Christian Focus Publications 2002 and 2020. All rights reserved.

Wenn nicht anders angegeben, wurde folgende Bibelübersetzung verwendet: bibel.heute, Neue evangelistische Übersetzung (NeÜ), © 2010 Karl-Heinz Vanheiden und Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg

Außerdem wurde verwendet: Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

1. Auflage

© 2025

Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Am Güterbahnhof 26 | 35683 Dillenburg info@cv-dillenburg.de

Übersetzung und Bearbeitung: Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gern kontaktieren: info@cv-dillenburg.de

DAS WAHRE PROBLEM

ZWEI LEIDENDE

Um von einem Szenario auszugehen, das viele von uns wiedererkennen werden, möchte ich zwei fiktive, aber authentische Charaktere beschreiben, die aus realen Personen bestehen und deren Lebensumstände wir im weiteren Verlauf des Buches genauer kennenlernen werden. Vielleicht erkennst du in einer oder beiden von ihnen Teile deiner eigenen Erfahrung wieder.

Das Mädchen

Abi war von Anfang an dagegen.

Ihre Kirche war ein klassischer Ort der Gesetzlichkeit. Da sie von ihrer Jugend an von geistlichen Polizisten und Richtern umgeben war, lernte sie nie einen anderen Weg kennen, Christ zu sein – einen Weg der Gnade, einen Weg, in Christus zu ruhen. Alle Maßstäbe – wahr, falsch, gut, schlecht, geistlich, „weltlich“ – wurden von diesen Männern für sie festgelegt. Die Listen der Gebote und Verbote, ob unausgesprochen oder offen geäußert, durch die ihr christliches Leben definiert wurde, kamen

von ihnen. Aus dieser Quelle und von den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft stammten die Codes, die den sogenannten geistlichen Fortschritt und die Gewissheit der Annahme durch Gott ermöglichten. Sie bestimmten die Stufen, über die sie zu Gott aufsteigen und von ihm angenommen werden sollte.

Abi wusste nicht, dass geistlicher Chauvinismus und biblisch ignorante Pseudofrömmigkeit ihr die Unschuld ihres kindlichen Herzens geraubt hatten. Sie hatte noch nie von geistlichem Missbrauch gehört und wusste nicht, dass er ihre Gefühle und ihren Geist vernarbt hatte. Sie dachte, diese unterdrückende Wolke der Dominanz sei normal. Sie dachte, dass das freudlose Leben das einzig heilige sei und dass Schuld das sei, wofür und wovor man gerettet werde. Das Evangelium als gute Nachricht hatte sie immer etwas verwirrt. Was um alles in der Welt war an dieser Art von Leben gut? Die anderen Mädchen im Büro hatten mehr Spaß, und die meisten von ihnen waren netter als ihre Freunde (war das wirklich das richtige Wort?) in der Kirche. Die Wunder der Liebe Gottes ihr gegenüber und die gemeinsame Freude des Gottesdienstes mit anderen Gläubigen waren ihr fremd: wie Worte in der unbekannten Sprache eines fremden und unheimlichen Landes.

Jahrelang hatte sie sich immer wieder bemüht, die Sache zum Laufen zu bringen, geliebt zu werden und die Wärme der Liebe zu finden. Eine Missionsfreizeit im Sommer hatte die Wolken gelüftet, und der Glanz dieser hellen Gemeinschaft hatte sie bis in die Dunkelheit

des Herbstes hinein begleitet. Doch dann war auch das wieder vorbei. Später hatte man ihr gesagt, dass einige aus dem Team „weltlich“ gewesen seien. Das hatte sie zunächst auch gedacht; dann aber war ihr aufgefallen, dass es sie nicht daran zu hindern schien, sich an Gott zu erfreuen und das Miteinander zu genießen. Mit ihrem Make-up und ihren neuen Klamotten waren sie sogar ein besseres Zeugnis als sie selbst. Sie fühlte sich bei ihnen nie minderwertig, sondern einfach nur glücklich. Aber an einem Novemberabend nach der Bibelstunde, im Auto vor ihrem Haus, hatte ihr Ältester ihr die wahre Natur dieser Erfahrung gezeigt, hatte sie zu einem richtigen Verständnis ihrer Fehler geführt, hatte ihr das Gefühl gegeben, sich wieder einmal schäbig zu fühlen, innen und außen. Ihr wäre das Wort nie in den Sinn gekommen, aber nach dem unmissverständlichen Monolog ging sie eingeschüchtert ins Haus und verfiel in den Zustand, den man Heiligkeit nannte. Sie fühlte sich sicher. Sicher wie eine Gefangene, die in ihre Zelle zurückkehrt. Sicher vor der großen bösen Welt da draußen. Am folgenden Sonntagmorgen lächelte sie den ehrenwerten Aufsehern sogar zu.

Sicher, bis ihr Ed bei der Arbeit begegnete. Ed, der witzig und höflich war, aber auch gern ein Bier trank. Ed, dem es gut ging und der gelassen und zuvorkommend war. Ed, der zuhörte, wenn sie Zeugnis ablegte, und dem es nichts ausmachte, dass sie in die Kirche ging; er begleitete sie sogar. Ed, der sie zum Bowling mitnahm, dann zum Imbiss, ins Kino und zurück in seine Wohnung. Ed,

dessen Eltern so nett waren und dessen Elternhaus so geschmackvoll eingerichtet war. Ed, der ihre Gesellschaft genoss und sie nie zurechtwies, sondern echtes Interesse an ihr zeigte. Ed, der sie zärtlich küsste und nicht so wie der tollpatschige Trottel vom Jugendtreff. Ed, der sie am Sonntagnachmittag ausführte und der kein schlechtes Gewissen hatte, wenn er den Abendgottesdienst verpasste. Ed, der Romane las, Jazz hörte und sich mit Wein auskannte. Ed, der ihr den Zugang zu einer Welt eröffnete, die ihr aus Angst und Unwissenheit verboten war, die aber einfach zu faszinierend und erfüllend schien, um etwas Verwerfliches zu sein. Ed, der ihr das Gefühl gab, geliebt zu werden; der sehr geduldig war, wenn sie sich weigerte, mit ihm ins Bett zu gehen. Ed, der ihr einen Heiratsantrag machte und sein „Ja!“ bekam. Ed, der ihr unwissentlich das Herz öffnete und sie aus einem Käfig befreite, in den sie nie mehr zurückkehren wollte. Und Ed, der nie die Leere in Abis Herz verstand, die Sehnsucht nach Gott, die sie im Stillen quälte, die wehmütigen Schuldgefühle, die zu Ostern kamen und wieder gingen, und die plötzliche, heftige Entschlossenheit, die Kinder in die örtliche Sonntagsschule zu bringen. Ed, der nie begriff, dass Abi das Kind in der Krippe und manchmal auch das reinigende Wort Gottes vermisste.

Der Mann Er mühte sich mit seinem Christentum ab.

Marks Gemeinde war von Leuten gegründet worden, die mit der Art von Gemeinschaft, zu der Abi

gehörte, unzufrieden waren. Frustriert von der offensichtlichen Gesetzlichkeit und ihren erstarrten Formen, unzufrieden mit dem restriktiven und freudlosen Leben, das dadurch entstanden war, hatten sie eine neue Gemeinde gegründet. Diese todbringende Gesetzlichkeit war nichts für sie.

Aber das war vor zwanzig Jahren gewesen, vierzehn Jahre bevor Mark Christ geworden war und angefangen hatte, mit seinen Freunden in diese Gemeinde zu gehen. Inzwischen waren die neuen Muster zu alten geworden.

Die weiße Weste war mittlerweile mit vielen Traditionen überschrieben worden. Diese Gemeinde wurde von den umliegenden konfessionellen Gemeinschaften immer noch als sehr neu angesehen, aber sie hatte es sich in ihren Gewohnheiten gemütlich gemacht. Mark liebte die Musik und den Gottesdienststil.

Er liebte die zwanglose Kleiderordnung. Er hatte dort gute Freunde gefunden und wusste, dass er den Leitern der Gemeinde viel zu verdanken hatte.

Aber er mühte sich ab und wusste nicht, warum. Ihm war klar, dass es Menschen gab, die anderswo ganz anders vorgingen und die trotz der Warnungen des Pastors den Eindruck hatten, dass der Geist auch in ihren Gemeinden am Werk war. Er kannte Menschen aus vermeintlich „toten“ Kirchen in einer Denomination, die angeblich „Ichabod“2 hieß, die

2 Hebräischer Name, dt.: Nicht-Herrlichkeit (vgl. 1. Samuel 4,21) (Anm. des dt. Hg.).

entspannt und lebendig, biblisch informiert und evangelistisch gesinnt waren. Warum schien es ihnen leicht zu fallen, Christ zu sein, und warum musste er sich anstrengen, um dazuzugehören? Warum wurden seine Fragen über diese anderen Christen nie beantwortet? Warum wurde er davor gewarnt, mit dem ehemaligen Ältesten aus seiner eigenen Gemeinde, der in Misskredit geraten und mit dessen Tochter er gut befreundet war, Kaffee zu trinken? Was hatte dieser Ex-Älteste falsch gemacht? Alles, was er anscheinend getan hatte, war, mit dem Pastor der Gemeinde nicht einverstanden zu sein. Warum hatte Mark das Gefühl, dass er kritisch beäugt wurde, wenn er nicht die Hände hob, wie es fast alle anderen taten, wenn sie sangen? Warum hatte er das Gefühl, dass er, so sehr er sich auch bemühte, nicht wirklich akzeptiert wurde? Und warum wurde ihm das Gefühl vermittelt, dass er nicht dort zu sein hätte, sondern da, wo der Herr wäre?

Sein von Natur aus neugieriger Geist hatte sich immer mehr Gedanken über die Puzzleteile gemacht, aus denen sich seine Unzufriedenheit zusammensetzte, bis sie eines Tages im Frühling ein klares Bild ergaben. Niemand hatte etwas gesagt, niemand hatte ihm etwas geschrieben. Es kam einfach und unmittelbar, als er mit seinem Hund spazieren ging. Der Schleier wurde gelüftet, und Mark erkannte, was wirklich vor sich ging. Jedes Mal, wenn er im Hauskreis, in der Gemeinde oder irgendwo mit den Leitern zusammen war, wurde er gemessen. Ununterbrochen wurde geprüft, ob er einer

langen Liste von Kriterien entsprach, die die Leitung der Gemeinde aufgestellt hatte.

Was ihm bei diesem Spaziergang am frühen Abend auffiel, als der Vorhang sich öffnete, waren die Maßstäbe, an denen er gemessen wurde. Die Anwesenheit war ein ziemlich hoher Maßstab. Die Teilnahme an den Versammlungen in der Woche wurden gezählt und aufgezeichnet. Es gab auch Messgeräte für die Länge der Gebete, die Bibelübersetzung, die Kleidung und den Tonfall der Stimme. Sein Verhalten wurde begutachtet bzw. – in Marks Fall – sein Nonkonformismus. Sein forschender Geist, den er in einer unschuldigen Suche nach der Wahrheit zum Ausdruck brachte, wurde ständig auf einem Messgerät registriert. Er wurde als potenzieller Unruhestifter angesehen, der der Leitung und Gott gegenüber unnachgiebig war. Jetzt erkannte er, dass er deshalb mit riesigen, blinkenden Neonfragen konfrontiert wurde, weil er nie öffentlich in Zungen geredet hatte: „War dieser junge Mann wirklich ein Christ?“ „Wenn ja, hatte er den Geist Gottes ausgelöscht?“3

Für einen kurzen Moment huschte ein ironisches Lächeln über Marks Gesicht, als ihm das alles klar wurde. Er hatte monatelang versucht, sich einzureden, dass es nicht wirklich so war, dass er nicht in eine Gemeinde ging, in der die Dogmatik der Leiter den Status des Wortes Gottes angenommen hatte. Wenigstens

3 Vgl. 1Thes 5,19 (Anm. d. dt. Hg.).

musste er sich nun nicht mehr ständig einreden, dass die Leitung nicht wirklich so war. Aber innerlich fühlte er sich krank.

Als er an einem lauen Juniabend auf der Tribüne eines örtlichen Fußballvereins durch den Geist Gottes wiedergeboren wurde, war Mark dem allzu menschlichen Wunsch erlegen, akzeptiert zu werden, indem er das Erscheinungsbild der Menschen um ihn herum annahm. Damals wusste er noch nicht, dass er sich einem Bild anpasste, das engstirnig war. Ihm war nicht bewusst, dass es anderswo Christen gab, die in einer Atmosphäre lebten, die so anders war, dass es fast eine andere Welt war. Aber ihm war klar, was er tun musste, um sich anzupassen und dazuzugehören. Instinktiv wusste er, was ihm auf all diesen Messinstrumenten eine gute Punktzahl einbrachte, auch wenn niemand sie je erwähnt hatte. Anspielungen und Andeutungen, Sticheleien und subtile Hinweise, die angeblich richtigen Bücher und Lieder, die Mitarbeit im richtigen Team in der Kirche: Sie alle gaben ihm klare Signale, wie er es schaffen konnte, dazuzugehören. Kaum unterrichtet in den Angelegenheiten der Gnade und des Glaubens, wenig geschult in der Frage der Herrlichkeit Gottes, hatte er gedacht, dass die Leitung wirklich das Reden Gottes hört und weitergibt.

Jetzt wusste Mark, warum er sich für sein Christentum abmühte. Er mühte sich ab, weil er das wollte, was er seiner Meinung nach nie erfahren hatte: Akzeptanz. Er hatte sich viel Mühe gegeben und sich mehr oder

weniger einfach an das Wahrheitsgebot der Leiter angepasst. Sein Gefühl der Akzeptanz und seines Wertes wurde vollständig von ihnen bestimmt. Sie hatten ihm für seinen Dienst und seine Anbetung die Richtung vorgegeben. Seine Freiheiten und seine Verantwortung, seine Pflicht und seine Freuden, seine Freizeit und seine Freunde wurden durch ihre Regeln und Vorschriften bestimmt. Mark hatte sich also nie akzeptiert gefühlt, weil er es nicht war: Er wurde bewertet, nicht akzeptiert.

Als er am darauffolgenden Sonntagmorgen seinen Platz einnahm, wurde ihm klar, dass er es niemals wieder glauben konnte, wenn die Stimme von vorne sagte: „Willkommen, schön, dass du da bist.“

Woher hatten sie nur ihre Regeln und Codes? Mark grübelte über diese Frage nach, während sie sich im Reigen der Lieder und Refrains bewegten. Der Lobpreis schwoll unter dem Gebrüll der Band lautstark an, und seine Gedanken folgten erneut der Frage: „Woher kommen all diese Regeln und diese Einstellungen? Warum lese ich davon nichts in meiner Bibel?“

Die Gemeinde stimmte ein ruhigeres Lied an, dann folgten die üblichen Bekanntmachungen, der lässigelegante Hilfspastor sprach ein lockeres Gebet, und dann – während sie ganz der irdischen Realität entrückt über allen Wolken schwebten – kam die Predigt. Er hörte zu wie nie zuvor. Jetzt hörte er die Botschaft klar und deutlich, jetzt konnte er zwischen den Zeilen lesen und erkannte – nicht, was der Text tatsächlich aussagte, sondern was die Leitung hören wollte. Er hörte deutlich

die Formeln für Akzeptanz in der Gemeinde: Wenn du das tust, passt du dazu und Gott wird dich lieben; wenn du das nicht tust, liebt Gott dich nicht so, wie er mich wirklich liebt. Als der Pastor die Predigt zuspitzte und von jedem verlangte, „in der kommenden Woche zehn Menschen zu bekehren, sonst rebellierst du gegen den Herrn“, traf Mark seine Entscheidung.

Obwohl er versucht war, zynisch und stolz auf Durchzug zu schalten, beschloss er, noch ein weiteres Wort zu hören, einen weiteren Text mitzulesen und eine weitere Offenbarung aufzunehmen. In diesem Moment entschied er sich für den Herrn, seinem Gewissen folgend. Und zum ersten Mal spürte er, dass Gott ihn akzeptierte.

WAS GESETZLICHKEIT NICHT IST

Woran leiden Abi und Mark? Zuerst müssen wir – wie bei der Diagnose, die ein Arzt stellt – ausschließen, woran sie nicht leiden.

Bei der Gesetzlichkeit geht es nicht um Regeln, Grenzen oder Traditionen in unseren Gemeinden oder in unserem persönlichen Leben. Weder Abi noch Mark wäre mit einem christlichen Leben geholfen, das frei von Regeln wäre. Beide brauchen in ihren Glaubensgemeinschaften festgelegte Praktiken und Abläufe, klare Aussagen über die gemeinsamen Ziele und Werte, erkennbare Grenzen, die das Gemeindeleben bestimmen und ein heiliges Leben ermöglichen. Auch dann, wenn

Regeln ein zu großes Gewicht bekommen können und von Menschen mit einer bestimmten Prägung oft übertrieben werden, sind sie für eine gute und gottgefällige Ordnung in jeder Gemeinschaft notwendig. Gott hat uns in der Heiligen Schrift viele Gebote gegeben. Er liebt das Gesetz. Das Gesetz im Alten Testament wurde von Gott gegeben, um sein Wesen zu zeigen. Indem er dem Leben seines Volkes sein Ebenbild einprägte, konnten andere Völker auf sie schauen und erkennen, wie Gott ist, und ihn anbeten. Jesus kam, um das Gesetz zu erfüllen, und nicht, um sich davon zu befreien, weil es einengte. Gesetzlichkeit (Legalismus) ist nicht das Vorhandensein von Regeln, und der Weg aus der Gesetzlichkeit heraus ist nicht der Weg der Gesetzlosigkeit (Antinomismus).

Aber wir sind versucht zu denken, dass es so ist. Wir sind versucht, „Gesetzlichkeit“ zu schreien (so wie wir „Foul“ schreien), wenn jemand vorschlägt, dass wir eine bestimmte Sache nicht und etwas anderes unbedingt tun sollten. Nur ein Hauch einer Regel – und schon protestieren wir laut, manchmal auch leise. Was ist hier eigentlich los?

Was passiert, ist Folgendes: Wir werden überlistet. Wir werden zu einem der häufigsten Fehler verleitet, den der Feind der Verherrlichung Gottes der Kirche beigebracht hat: dass christliche Freiheit die Freiheit ist, zu tun, was du willst. Das ist sie jedoch nicht; sie war es nie und sie wird es niemals sein.

Das ist aber sicherlich die Auffassung der Welt von Freiheit. Außerhalb von Christus ist Freiheit

die Abwesenheit oder die Überwindung jedes einschränkenden und unterdrückenden Willens anderer, insbesondere Gottes. Freiheit ist die Freiheit, sich selbst auszudrücken, für sich selbst zu entscheiden, sich selbst zu definieren und sich selbst zu bestätigen. Freiheit ist die Freiheit des Willens, für sich selbst zu handeln und zu denken: nach dem eigenen Geschmack, den eigenen Vorlieben, der eigenen Selbsteinschätzung und so weiter. Sie ist der untrennbare Partner der Autonomie –Selbstbestimmung bedeutet, die Freiheit zu wählen und, wenn es sein muss, auch die Freiheit, deine Wahl durchzusetzen. Doch im Grunde ist diese Auffassung von Freiheit genauso sündhaft wie alles andere, denn sie ist nicht die Art von Freiheit, für die Gott uns geschaffen hat. Man kann sie bis zu Nietzsches „Übermenschen“ zurückverfolgen, der sich über den vorherrschenden Willen aller anderen (einschließlich Gottes) erhebt, um vollständig Mensch zu werden und völlig autonom zu sein. Man kann es noch weiter zurückverfolgen bis zur Figur des sorgenfreien Tyrannen in der griechischen Philosophie, der glücklich und zufrieden ist, weil er die Macht besitzt, alles durchsetzen zu können, was er will. Aber wenn wir die Welt und uns selbst mit den Augen der Bibel lesen wollen, ist es besser, diese falsche Auffassung von Freiheit bis zum Garten Eden, zum Sündenfall, zurückzuverfolgen: zu dem Wunsch, das zu tun, was als dein eigenes Ding dargestellt wird, aber in Wirklichkeit das Ding der Schlange ist: der Wunsch, wie ein Gott zu sein.

Doch obwohl wir erkennen können, was daran falsch ist, ist es so einfach für uns, reflexartig so auf Regeln zu reagieren, wie es uns diese Sichtweise von Freiheit lehrt. Wir handeln so, als hätten wir ein göttliches Recht, uns niemals einengen zu lassen, oder als wären wir all den weniger guten Christen, die die Regeln brauchen, haushoch überlegen. Freiheit von Gesetzlichkeit ist nicht die Freiheit zu tun, was wir wollen. Hier auf der Erde wäre keiner von uns sicher, wenn wir einer solchen Freiheit freien Lauf ließen; weder unsere Unzulänglichkeit noch unser Stolz könnten das verkraften. Dort oben in der Herrlichkeit wird es natürlich anders sein, aber dort oben werden auch wir anders sein!

Diese Sichtweise von Freiheit in unseren Gemeinden ist nicht wirklich gut; sie hat schon viele Menschen zerstört, die im Glauben Schiffbruch erlitten haben. Warum zerstört? Weil der Wunsch nach Autonomie uns in zwei Richtungen führen kann, die beide weg von Gott führen.

Unzulänglichkeit gegenüber der Sünde

Erstens kann Autonomie uns auf einen Weg führen, den unser eigener Wille nicht bewältigen kann, ohne dass wir uns im Netz der Sünde verfangen und verstricken. Die meisten von uns sind viel weniger heilig, als wir glauben: Wir sind weniger stark gegenüber dem Versucher, als er uns glauben machen will. Er möchte, dass wir selbstgefällig mit der Versuchung umgehen. Er möchte, dass wir vergessen, dass wir blinde Flecken haben, die uns

daran hindern, unsere Fehler und Schwächen zu erkennen. Wenn wir denken, dass wir stark sind, dann sind wir in Wirklichkeit schwach und werden zu einem leichten Ziel. Wir finden Sünden zu attraktiv, geraten in Situationen, in denen wir überfordert sind, und geben Vorlieben nach, die zu Süchten werden. Dieser Weg heißt „Unzulänglichkeit“, weil unser Fleisch in Bezug auf die Sünde zu schwach ist. Wir haben noch so viele Fortschritte in der Heiligung zu machen. Wir haben noch nicht das ergriffen, wofür Christus uns ergriffen hat. In uns wirkt immer noch dasselbe Prinzip wie bei Paulus: „Ich finde also das Gesetz, dass bei mir, der ich das Gute tun will, nur das Böse vorhanden ist“ (Römer 7,21). Wir kennen diese Erfahrung und stellen wie Paulus fest: „Denn das Gute, das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (V. 19). Freiheit nach dem Vorbild der Welt ist keine Freiheit, sondern der Weg in eine noch tiefere Knechtschaft der Sünde. Wir brauchen also Regeln und Grenzen. Ohne sie haben wir keine Chance.

Stolz gegenüber Gott

Der zweite Weg, auf den uns der Wunsch nach Selbstbestimmung führen kann, heißt „Stolz“. Die Auffassung von Freiheit als absolute Autonomie stärkt unseren Willen gegen Gottes Willen. Wir beugen uns nicht in demütigem Gehorsam, sondern erheben uns und rüsten uns gegen andere, einschließlich Gott. Hier gibt es keine Sanftmut, keinen duldsamen Geist. Hier

gibt es keinen Frieden, kein Ruhen in Gott, und auch keine Zufriedenheit. Ein solcher Christ wird niemals lernen, zufrieden zu sein, egal, in welchem Zustand er sich befindet. Einem solchen Christen wird es schwerfallen, im Leib Christi zu funktionieren, es sei denn, er wird darin als das Gehirn anerkannt. Ein solcher Christ wird ein Ärgernis sein, weil er automatisch und reflexartig die Frage stellt: „Was geht mich das an?“ Er hat kein Kreuz zu tragen, stellt andere nicht an die erste Stelle, übt keine Liebe und hat keinen Sinn für Christus als den gehorsamen Diener, wie dieser in Philipper 2,6ff. beschrieben wird. Dabei ist es Christus selbst, der das ultimative Argument gegen diese Art von Antinomismus, von Gesetzlosigkeit ist, die kaum mehr darstellt als anarchischen Stolz. Er hat sich dem Willen des Vaters unterworfen. Er hat alles getan, was sein Vater wollte; er hat auch nichts getan, was über den Willen seines Vaters hinausging. Er lehnte zwar die „Traditionen der Menschen“ ab, aber er kam, um jeden einzelnen Buchstaben von Gottes Gesetz zu erfüllen. Er ist nicht gekommen, um das Gesetz über Bord zu werfen und uns ein Leben ohne Regeln zu präsentieren. Er murrte nicht, sondern freute sich, den Willen desjenigen zu tun, der ihn gesandt hatte. Der Wille eines anderen Menschen war für ihn kein Problem. Er teilte den Willen des Vaters und hatte seine Freude daran, dem Vater zu dienen. Selbstbestimmung steht auf der Tagesordnung des postmodernen „Übermenschen“, aber Selbstbestimmung stand nicht auf

der Tagesordnung des wahren Menschen. Derjenige, der gegen den Feind standhaft und unerschütterlich war, hielt sich an Regeln und verherrlichte seinen Vater durch das Einhalten dieser Regeln.

Keine Gesetzlosigkeit

Was auch immer wir darüber denken mögen, Gesetzlichkeit kann nicht als das Vorhandensein von Regeln im persönlichen und gemeinsamen Leben von Gläubigen definiert werden. Wenn Christus, der stark war, sich an Gottes Gesetz gehalten hat, können wir dann mit unseren Schwächen ohne Gesetz auskommen? Wenn der vollkommene Sohn seinen Vater durch das Gesetz verherrlichte, werden dann nicht auch wir als Söhne und Töchter unseren himmlischen Vater durch das Leben, das durch Gesetze und Regeln geordnet wird, verherrlichen? So wie er Israel in seiner Gnade das Gesetz gegeben hat, so gibt er uns auch heute noch etwas, das unsere Füße auf den Wegen der Heiligkeit leiten wird.

Christliche Freiheit bedeutet also nicht, dass es keine Regeln gibt. Gesetzlosigkeit – d. h. Autonomie oder Anarchie – wird in Gottes Wort niemals gelobt. Sie führt nicht zu Heiligkeit, sondern zu Chaos. Als innere Haltung ist sie das Herzstück der Rebellion gegen Gott. Wie beschreibt die Heilige Schrift den Menschen, der eine Meuterei gegen den höchsten Gott in Gang setzt? Als den „Mensch der Gesetzlosigkeit“. Wie lautet sein Name? „Sohn des Verderbens“ (2. Thessalonicher 2,3).

Gesetzlichkeit ist sündig, aber das gilt auch für das

gesetzlose Leben, denn „die Sünde ist die Gesetzlosigkeit“ (1. Johannes 3,4). Kein Wunder also, dass der Teufel versucht, uns von einem Irrtum in den nächsten zu treiben. Es überrascht auch nicht, dass wir sowohl in unserer Unzulänglichkeit und Unbeständigkeit als auch mit unserem sündhaften Machtstreben, mit dem das Fleisch immer noch gegen den Geist kämpft, zur Zielscheibe satanischer Umtriebe werden. Indem wir die menschengemachten Gesetze über Bord werfen, werden wir dazu verleitet, das Gesetz an sich und somit auch Gottes Gesetz über Bord zu werfen, sodass es uns an Heiligkeit mangelt. Wie viele von uns haben festgestellt, dass wir dem Herrn und seinem Volk gegenüber kühler geworden sind? Das geschieht, wenn wir gegen restriktive Grenzen des Denkens und Verhaltens ankämpfen, von denen viele es nicht verdienen, ernst genommen zu werden. Mit ihnen können unsere Gemeinden aber katastrophal überzogen werden. Da wir die Gesetzlichkeit in erster Linie als eine männerorientierte Sache ansehen, haben wir uns von ihr und von der Gemeinschaft abgewandt, und zwar auf eine Weise, die allem anderen als neutestamentlicher Liebe entspricht. Gleichzeitig haben wir uns von Gott distanziert, nicht weil er auch nur im Entferntesten mit diesen menschlichen und oft lächerlichen Gesetzen zu tun hatte, sondern weil wir gegen seine – wenn auch repressiven – Kinder auftraten. Indem wir uns gegen die Gesetzmäßigkeiten menschlicher Traditionen auflehnten, förderten wir in uns selbst eine

generell gesetzlose Geisteshaltung. Das „Kind“ (Gottes Gesetz) – das von den Psalmisten so leidenschaftlich geliebt wurde – wurde zusammen mit dem unbestreitbar trüben Badewasser der menschlichen Gesetze ausgeschüttet. Wir wollten einfach nur noch unser eigenes Ding machen, und in unserer geistlichen Unreife haben wir es dann so weit getrieben, dass wir auch Gottes Ding nicht mehr machen wollten.

Wenn also das Problem der Gesetzlichkeit nicht einfach darin besteht, dass es Regeln gibt, und wenn Freiheit nicht bedeutet, dass man tun kann, was man will, was ist dann das eigentliche Problem, dem wir gegenüberstehen?

WAS GESETZLICHKEIT IST

Gesetzlichkeit, tatsächliche Gesetzlichkeit, die sich wie Kohlenstoffmonoxid unbemerkt an uns heranschleicht und unser geistliches Leben auslöscht, ist in erster Linie eine Sache, die mit Gott zu tun hat. Wie wir bereits gesagt haben, ist die Gesetzlichkeit ein Weg, sich selbst für Gott annehmbar zu machen und es zu bleiben. Im Kern ist es die Haltung und Praxis der Selbstrechtfertigung und Selbstheiligung. Sie lehrt einen Weg der Gerechtigkeit und Heiligkeit, der mehr Abhängigkeit von unserem schwachen Fleisch statt von der siegreichen Kraft Christi erfordert. Die Gesetzlichkeit versucht, eine Gewissheit unseres Heils zu schaffen, die in uns selbst begründet liegt, und bietet daher keine wirkliche Sicherheit. Es ist

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