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Es spielt eine wichtige Rolle im Buch Jona. Schinar ist uns unter dem Namen Sumer bekannt.

Wir befinden uns hier im antiken Mesopotamien18, einer der Wiegen der Zivilisation. Wie der Name (deutsch: „Zweistromland“) signalisiert, handelt es sich um das (relativ kleine) Gebiet zwischen den beiden Strömen Euphrat und Tigris, die in 1Mo 2,14 vom Garten Eden ausgehen. Sie entspringen im Taurusgebirge im Südosten der Türkei und münden in den Persischen Golf.

Die mesopotamische Kultur blühte ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. Das südliche Mesopotamien war unterteilt in Akkad im Norden und Sumer im Süden; die beiden Regionen hatten eine ähnliche Kultur, aber unterschiedliche Sprachen. Das Akkadische war eine semitische Sprache, während das sehr alte Sumerische eine der ältesten uns bekannten Schriftsprachen war.

Josephus schreibt in seinen Jüdischen Altertümern:

Zu dieser Verachtung und Verhöhnung Gottes verleitete sie [die Leute von Schinar = Sumer] Nebrod [Nimrod] ... Er wolle, sagte er, sich an Gott rächen, falls er mit erneuter Flut die Erde bedränge, und er wolle einen Turm bauen, so hoch, dass die Wasserflut ihn nicht übersteigen könne. So werde er für den Untergang seiner Vorfahren Vergeltung üben.19

Nimrod steht für einen Neuanfang; vgl. den Satz: „Und der Anfang [hebr. reshit, wie in 1Mo 1,1] seines Königreiches war Babel ...“ Der erste Teil des 1. Buches Mose begann damit, dass Gott das Universum schuf; die Schlüsselwörter sind hier „schaffen“ und „machen“. Jetzt beginnt der zweite Teil mit dem Bau einer der großen Städte der alten Welt, und die Schlüsselwörter sind „bauen“ und „machen“.20

Bereits 1. Mose 4 erwähnt den Beginn der städtischen Kulturen. Der erste Mensch, der eine Stadt erbaute, war Kain; er benannte sie nach seinem Sohn Henoch (1Mo 4,17). Einer von Henochs Nachkommen, der gewalttätige Lamech, hatte Söhne, die besonders begabt waren und zu Vätern der Landwirtschaft, Industrie, Kunst und Musik wurden (4,19-22).

1. Mose 11 verengt den Fokus auf eine konkrete Stadt, Babel (Babylon). H. W. F. Saggs, emeritierter Professor für semitische Sprachen an der University of Wales und Autor des Buches Mesopotamien, schreibt:

Es gibt Spuren einer prähistorischen Siedlung, aber Babylons Ausbau zu einer großen Stadt kam für mesopotamische Verhältnisse erst spät; die Stadt wird vor dem 23. Jahrhundert v. Chr. nirgends erwähnt. Nach dem Untergang der 3. Dynastie von Ur, unter der Babylon ein Provinzzentrum gewesen war, wurde es zum Kern eines kleinen Königreiches, das 1894 v. Chr. von dem Amoriterkönig Sumuabum gegründet und von dessen Nachfolgern konsolidiert wurde.

Der sechste und bekannteste König der amoritischen Dynastie, Hammurabi (1792–1750 v. Chr.), eroberte die umliegenden Stadtstaaten und erhob Babylon zur Hauptstadt eines Königreiches, das das ganze südliche Mesopotamien sowie Teile Assyriens (der heutige Nordirak) umfasste. Seine politische Bedeutung sowie seine günstige Lage machten es hinfort zum kommerziellen und administrativen Hauptzentrum von Babylonien, während sein Reichtum und Prestige es zu einem begehrten Ziel fremder Eroberer machten.21

Im 6. Jahrhundert v. Chr. war Babylon die größte Stadt der damaligen Welt geworden. Das 1. Buch Mose beschreibt seine Gründung folgendermaßen:

Und die ganze Erde hatte ein und dieselbe Sprache und ein und dieselben Wörter. Und es geschah, als sie von Osten aufbrachen, da fanden sie eine Ebene im Land Schinar [Sumer, der südlichste Teil Mesopotamiens] und ließen sich dort nieder. Und sie sagten einer zum anderen: Auf, lasst uns Ziegel streichen und hart brennen! Und der Ziegel diente ihnen als Stein, und der Asphalt diente ihnen als Mörtel. Und sie sprachen: Auf, wir wollen uns eine Stadt und einen Turm bauen, und seine Spitze bis an den Himmel! So wollen wir uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Fläche der Erde zerstreuen! (1Mo 11,1-4)

Halten wir hier als Erstes fest, dass die Beschreibung Babels zwischen zwei Stammbäumen der Nachkommen Sems platziert ist. Zweitens: Die Genealogien von Jafet, Ham und Sem enden jeweils mit dem Hinweis, dass die verschiedenen Sippen verschiedene Sprachen hatten (1Mo 10,5.20.31), ohne dass dies in Kapitel 10 erklärt würde.

1. Mose 11,1-9 könnte so verstanden werden, dass es durch den Bericht von der Sprachenverwirrung diese Information nachliefert, was bedeuten würde, dass die Abfolge der Textabschnitte nicht notwendig der chronologischen Abfolge entspricht, sodass hier die logische Abfolge die Priorität vor der zeitlichen genießt. Und die Platzierung des Turmbaus zu Babel direkt vor dem Stammbaum von Sem bis Abram dürfte bedeuten, dass er wichtige Hintergrundinformationen für den Bericht über das Leben Abrahams liefert.

Die Sprache spielt in 1. Mose eine zentrale Rolle. Dies beginnt mit der Erschaffung des Kosmos durch das Schöpferwort Gottes. Das wiederholte „Und Gott sprach ...“ in 1. Mose 1 zeigt uns, dass das Universum durch eine Reihe göttlicher Sprechakte entstand, die jeweils nicht nur Informationen enthielten, sondern auch die wirksame Kraft hatten, die durch diese Informationen beschriebene Realität ins Dasein zu rufen.

Der letzte dieser Sprechakte ist etwas anders als die übrigen: „Und Gott sprach zu ihnen“ (1Mo 1,28; Hervorhebung durch den Autor).

Er gibt uns einen tiefen Einblick darin, was es bedeutet, als Ebenbild Gottes erschaffen zu sein: Wir Menschen können das, was Gott sagt, hören und verstehen und darauf antworten, und diese wunderbare Schöpfergabe der Kommunikation durch Sprache ist das Herzstück unserer moralischen Beziehung zu Gott.

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb einmal: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“22 Die Sprache ist das Fundament jeder Zivilisation. Eine gemeinsame Sprache erleichtert Kommunikation und Kooperation. Dies wird besonders deutlich in den Sprachen der Mathematik und der Wissenschaft, die alle nationalen Grenzen überwinden.

Der erste Teil des 1. Buchs Mose beginnt mit einem göttlichen Bauprojekt. Gott erschafft das Universum durch sein gesprochenes

Wort. Der Höhepunkt und das Ziel dieses Schöpfungswerkes war die Erschaffung des Menschen (Adam) als Ebenbild Gottes aus dem Staub (adama) der Erde. Der zweite Teil des 1. Buches Mose beginnt mit einem Bauprojekt der Menschen: Sie reden und planen miteinander und formen den Staub der Erde zu Ziegeln, um eine Stadt zu erbauen. Das Bild Gottes war lebendig; ihres ist leblos. Man beachte die Wörter, die die beiden Texte gemeinsam haben: „sprechen“, „machen“, „Mensch“, „Erde“, „Himmel“.

Die Art und Weise, wie diese Wörter bei den beiden „Anfängen“ benutzt werden, könnte unterschiedlicher nicht sein. Man beachte hier vor allem Gottes Worte: „Lasst uns Menschen machen ...“ (1Mo 1,26) und die Worte der Bewohner von Babel (also von Männern und Frauen, die Gott gemacht hatte): „So wollen wir uns einen Namen machen“ (11,4). Gott schuf eine Welt, die von Menschen bewohnt werden sollte, die Gemeinschaft mit ihm hatten – eine Welt voller Sinn, ja, eine Welt, in der der Schöpfer selbst einige der ersten Namen vergab: Es war Gott, der das Licht „Tag“ nannte, die Finsternis „Nacht“, das Trockene „Erde“ und die Wölbung „Himmel“ (1Mo 1,5-10). Dem Menschen trug Gott auf, die Tiere zu benennen – der Anfang der fundamentalen akademischen Disziplin der Taxonomie, die in jedem Forschungsgebiet nötig ist. Und der erste Mensch nannte seine von Gott erschaffene Gefährtin „Frau“ (1Mo 2,23; NeÜ). Absolut fundamental für diese Beziehung ist die Sprachfähigkeit. Babel – das war nicht die Benennung von etwas, das Gott erschaffen hatte; es war die Abkehr von Gott durch die Nutzung der neuesten Technologie, um Ziegel aufeinanderzuschichten und so den Namen dieser Menschen in den Himmel zu schreiben, in der fruchtlosen Suche nach dauerhaftem Ruhm und Bedeutung. Die Menschen von Babel hätten ihr Projekt nicht beginnen können, hätte Gott ihnen nicht die Fähigkeit gegeben, durch Sprache miteinander zu kommunizieren.

Auf diesen Punkt wies um einiges später Aristoteles hin, der alte griechische Begründer der Politikwissenschaft, mit seiner berühmten Beschreibung der Menschen als zoon politikon („geselliges“ bzw.

„politisches Tier“), wobei das Wort politikon mit dem griechischen Wort polis verwandt ist, das „Stadtstaat“ bedeutet. In Mesopotamien gab es bereits lange vor Aristoteles Stadtstaaten, und schon die Leute von Babel waren zoon politikon in dem von Aristoteles gemeinten Sinn:

Dass nun der Mensch in höherem Grade ein staatsbezogeneres Lebewesen ist als jede Biene und jedes Herdentier, ist klar. [...] Über die Sprache aber verfügt allein von den Lebewesen der Mensch. [...] Doch die Sprache ist da, um das Nützliche und das Schädliche klarzulegen und in der Folge davon das Gerechte und das Ungerechte. [...] Doch die Gemeinschaft mit diesen Begriffen schafft Haus und Staat.23

Für Aristoteles ist die Gemeinschaft bzw. Partnerschaft (griech. koinonia) von zentraler Bedeutung:

Da wir sehen, dass jeder Staat eine Gemeinschaft darstellt und jede Gemeinschaft um eines bestimmten Gutes willen besteht – denn eines Gutes wegen, das eben ein solches zu sein scheint, tun alle alles –, ist es klar, dass alle Gemeinschaften nach einem Gut trachten, am meisten aber und zwar nach dem entscheidendsten unter allen Gütern die Gemeinschaft, die von allen die entscheidendste ist und alle anderen Gemeinschaften umspannt. Diese aber ist der sogenannte Staat und die staatsbürgerliche Gemeinschaft. [...]

Die für jeden Tag also bestehende Gemeinschaft ist naturgemäß das Haus [...]. Doch die erste Gemeinschaft, die sich wegen eines über den Tag hinaus reichenden Bedürfnisses zusammensetzt, ist das Dorf. [...].

Doch die aus mehreren Dörfern zusammengesetzte vollkommene Gemeinschaft ist der Staat, der sozusagen bereits über die Grenze der vollen Selbstgenügsamkeit verfügt, der nun zwar des Lebens wegen entstanden ist, aber doch um des guten Lebens willen besteht.24

Einer der Gründe für den Bau Babels scheint die Angst vor dem Verlust dieses Gemeinschaftsgefühls gewesen zu sein. Die Aussicht,

und eines Turms „einen Namen machen“ wollten, um die Zerstreuung über die Erde zu verhindern, war ein direkter Affront gegen Gott, der die Menschen geschaffen und ihnen ausdrücklich befohlen hatte, sich zu vermehren und die Erde zu füllen – zuerst Adam, das zweite Mal (nach der Sintflut) Noah. Die Motivation hinter dem Bau Babels ist himmelweit entfernt von Gottes späterer Verheißung an Abram in 1. Mose 12,2: „... und ich will deinen Namen groß machen.“ Die Menschen von Babel dachten groß von sich selbst in ihrem Traum von dem einzigartigen Ruf und beispiellosen Erbe; Gott dagegen hatte Großes mit Abram vor, und in seinem Namen (und nicht in dem Babels) würden alle Völker der Erde gesegnet werden – gesegnet durch die Zerstreuung von Abrahams geistlichem Samen in der Diaspora.25

Der Bau von Babel war eine bewusste Missachtung des Gebotes Gottes, dass die Menschen sich über die ganze Welt verbreiten sollten. Diese Menschen wollten nicht zerstreut werden und bildeten sich ein, dass sie sich durch die Gründung einer Metropole einen eigenen Namen machen konnten, ohne Gott. Leon Kass schreibt:

Sich einen Namen machen bedeutet: den Sinn seines Lebens neu definieren, sodass es einen neuen Namen verdient. Die Bedeutung eines Menschen verändern heißt: den Inhalt und das Wesen seines Lebens neu definieren. Die Stadt, recht verstanden, leistet genau dies.26

Harvey Cox hat dieses Motiv in seinem 1965 geschriebenen epochemachenden Werk The Secular City (deutsch: Stadt ohne Gott?) betont: Heute steht die säkularisierte Großstadt sowohl als Muster unseres Zusammenlebens da wie als Symbol unseres Weltverständnisses. Wenn die Griechen den Kosmos als eine ins Unendliche ausgeweitete Polis begriffen, wenn der mittelalterliche Mensch ihn als ein unendlich vergrößertes Feudalschloss sah, so begreifen wir heute das Universum als die Stadt des Menschen. [...] Der moderne Mensch ist Kosmopolit. Die Welt ist seine Stadt geworden, und seine Stadt hat sich zur Welt erweitert.

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