Einleitung
Dieses Buch handelt davon, wie Sie Ihr Lebensziel als Leiter erreichen. Sie laufen einen Marathon, keinen 100-Meter-Lauf. Sie werden auf Hindernisse treffen und Rückschläge einstecken müssen – genau wie Bill Broadhurst. Und als Leiter wollen Sie sich nicht nur irgendwie allein durchschlagen, sondern gemeinsam mit anderen im Ziel ankommen. Es gehört zu Ihrer Aufgabe, andere Menschen dazu zu inspirieren, sich Ihnen anzuschließen, und ihnen dabei zu helfen, ihr Potenzial als Gefährten und Mitkämpfer zu entfalten.
Ich gehe in diesem Buch davon aus, dass man lernen kann, gut zu leiten und so zu laufen, dass man gut im Ziel ankommt. »Gut anzukommen« bedeutet (nicht ausschließlich, aber unter anderem):
• eine lebendige und erfüllte Freundschaft mit Jesus zu haben;
• ein Netzwerk guter Beziehungen zu pflegen, zu dem mindestens ein enger Freund gehört, vor dem Sie keine Geheimnisse haben;
• einen nachhaltigen Beitrag für eine Sache zu Gottes Ehre zu leisten, für die Sie sich leidenschaftlich einsetzen können und für die Sie begabt sind.
Ich bete dafür, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches mehr Erkenntnis, Motivation, Disziplin und Zuversicht haben. Und ich vertraue darauf, dass Sie durch Gottes Gnade am Ende Ihres Weges die Worte hören können: »Sehr gut, du tüchtiger und treuer Diener!«
Dieses Thema brennt mir auf der Seele. Viel zu viele Leiter nehmen kein gutes Ende und erleiden regelrecht Schiffbruch. Professor Robert Clinton vom Fuller Seminary in Pasadena, Kalifornien, hat sich eingehend mit dem Thema Leitung in der weltweiten Gemeinde beschäftigt. In seinem Klassiker »Der Werdegang eines Leiters« – einem Standardwerk für gegenwärtige und zukünftige Leiter – kommt Clinton zu dem Schluss, dass nur 30 Prozent aller Leiter ihren Dienst auf eine gute Art und Weise beenden. Das ist zutiefst beunruhigend.3
In dieser verrückten und hektischen Welt fliegen uns viele Knüppel zwischen die Beine. Viele Leiter kämpfen mit sich und anderen, was oft zur Folge hat, dass sie nicht vorankommen oder auf eigenen
Wunsch oder durch fremdes Eingreifen aus dem Dienst ausscheiden. Als jemand, der selbst Menschen anleitet, neue Leiter ausbildet und sich ständig zu Themen rund um Leitung weiterbildet, bin ich persönlich zutiefst besorgt. Zu viele verlieren den Mut, geben auf und verabschieden sich von ihren einst großen und noblen Zielen und Träumen. Zu viele werfen das Handtuch. Das Tempo, in dem unsere Welt sich verändert, wird immer höher. Das macht das Leiten nicht einfacher und nimmt uns oft genug unsere Freude, Besonnenheit und Zuversicht. Viele halten nur noch nach dem rettenden Ufer der Pensionierung Ausschau, von dem sie sich die Erlösung von ihrer Enttäuschung und Frustration versprechen.
Was ist nötig, damit Sie und ich unseren Lauf erfolgreich abschließen? Auf welche Hindernisse und Gefahren müssen wir achten, die uns zum Aufgeben verleiten oder vom Weg abbringen können? Ich lese alles, was mir zum Thema Leitung in die Finger kommt, und stimme mit denen überein, für die mit der Frage der Leitung alles steht und fällt. Wenn eine Organisation falsch geleitet wird, entwickelt sie sich nicht weiter. Und auch die Menschen, die sie leiten, leben an ihrer Begabung vorbei. Ohne richtige Leitung entwickeln sich Institutionen zu bürokratischen Gebilden, in denen es zunehmend um Programme, Politik und Verfahrensfragen geht. Wenn dann die ursprüngliche Mission und die Fähigkeit zur Erneuerung auf der Strecke bleiben, ist es oft nur eine Frage der Zeit, bis eine solche Organisation am sprichwörtlichen Tropf hängt oder gleich stirbt. Die meisten Bücher in meinen Regalen basieren auf Umfragen und Studien, die durchgeführt wurden, um die Schlüsselprinzipien und Methoden herauszufiltern, die nötig sind, um Leiter zu finden, zu entwickeln und einzusetzen. Diese Bücher stammen meist aus der Feder erfolgreicher Unternehmensführer oder von den Professoren der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten. Für beide Gruppen von Autoren ist die Geschäftswelt das Referenzmodell. Im Gegensatz dazu habe ich dieses Buch aus meiner vierzigjährigen persönlichen Erfahrung als Leiter heraus geschrieben. Der Kern des Buches sind nicht Interviews und Studien aus der Wirtschaft und auch nicht das Studium erfolgreicher biblischer oder zeitgenössischer Leiter. Dieses Buch versteht sich als eine persönliche und praktische Darlegung gelernter und gelebter Leitungsprinzipien, die ich für unverzichtbar halte. Es soll eine verständliche, bodenständige
Gebrauchsanweisung für christliche Leiter sein. Dementsprechend basiert es auf meiner Erfahrung als christlicher Leiter, Ausbilder und Mentor. Ich will Leitern eine einfache Landkarte an die Hand geben, denn ich verstehe mich mehr als Praktiker denn als Theoretiker. Alles, was Sie auf den folgenden Seiten lesen, stammt aus meiner persönlichen Überzeugung und meiner persönlichen Erfahrung.
Langstreckenleiter ist aus der Perspektive eines Jesusnachfolgers geschrieben. Ich wende mich vorwiegend – aber nicht ausschließlich – an diese Gruppen von Leitern:
• Gemeindeleiter
• vollzeitliche Mitarbeiter
• ehrenamtliche Leiter
• Kleingruppenleiter
• Jugendleiter
• Leiter in christlichen Werken und Verbänden
Mir liegt die Gemeinde am Herzen. Nichts ist so inspirierend wie eine Ortsgemeinde, die tatkräftig und im Sinne des Erfinders von wahren Leitungspersonen geführt wird. Mein Herz schlägt für die Gemeinde, seit ich selbst in einer Ortsgemeinde zum Glauben gekommen bin. Paulus spricht mir aus dem Herzen: Ich lebe »täglich in Sorge um das Wohlergehen der Gemeinden« (2. Korinther 11,28). In der heutigen Gemeindelandschaft gibt vieles Anlass zur Sorge:
• Viele Gemeinden sind zum Stillstand gekommen, liegen im Sterben oder sind schon gestorben.
• Veraltete Formen und Methoden werden immer noch angewandt, obwohl sie heute nicht mehr funktionieren.
• Es toben Auseinandersetzungen um Gottesdienstformen.
• Im Leben vieler Gemeindeglieder fehlt es an echter Frömmigkeit.
• Viele Gemeinden wollen oder können keinen guten Einfluss auf ihre Umgebung ausüben.
Doch meine größte Sorge gilt dem Mangel an echter, guter Leitung. Mich treiben wenige Dinge so um wie das Wohlergehen der Leiter von
Ortsgemeinden. Dieses Buch versucht, sich diesen Fragen auf konstruktive Art zu stellen.
Wenn Sie in einer Leitungsposition sind oder vorhaben, Leitungsverantwortung zu übernehmen, sollten Sie sich im Klaren darüber sein, dass Sie auf eine neue Art und Weise leben und leiten müssen. Denn ohne ein neues Denken wird es schwierig, als Leiter zu überleben, Ihren Weg gut zu meistern und Ihr Ziel zu erreichen.
Die Zeiten haben sich geändert: Wir leben mit einer anderen Kultur, mit anderen Regeln und mit anderen Erwartungen an Leiter. Es gibt ein unaussprechliches Wort für die Angst vor Veränderung: Metathesiophobie. Sollten Sie darunter leiden, sollten Sie Veränderung, Anpassung und Wachstum skeptisch gegenüberstehen, fürchten oder gar sabotieren, kann es mit Ihrer Leitungsverantwortung bald aus sein. Solche Ängste können dazu führen, dass Ihre Gruppe oder Organisation sich bald in einer Abwärtsspirale wiederfindet. Nur der Wandel bleibt gleich. Unsere Welt verändert sich schneller, tiefgreifender und auf komplexere Art und Weise als je zuvor. Wenn es Sie an Orte zieht, an denen keine Veränderung geschieht, werden Sie in Zukunft wahrscheinlich nur noch auf Friedhöfen fündig werden. An allen anderen Orten bleibt nichts, wie es einmal war.
Dies sind einige der Punkte, in denen sich die heute notwendige Art der Leitung von den Ansätzen unterscheidet, die in der Vergangenheit praktiziert wurden:
Leitung in der Vergangenheit Leitung in der Gegenwart organisationszentriert beziehungszentriert Arbeiten in Komitees und Ausschüssen Arbeiten in Teams Befehl und Gehorsam andere bevollmächtigen Titel und Einsetzung Begabung und Berufung linear und hierarchisch sich überschneidende Einflussbereiche Kommunikation als Lehrsätze Kommunikation in Geschichten und Narrativen
Papier und Schrift
Bildschirm und Animation starre Strukturen
Flexibilität
Position ist wichtig Vollmacht ist wichtig
Es ist mein Wunsch, dass Sie als Leiter wertvolle Anregungen in dem finden können, was ich hier aus meiner Erfahrung heraus schreibe. Und ich hoffe, dass Sie damit mehr und mehr in die Menschen investieren, die Sie leiten. Wissen Sie, wo Sie die Leiter der nächsten Generation hernehmen und wie Sie sie so unterstützen können, dass sie ihren Lauf wiederum erfolgreich bestreiten?
Bevor wir anfangen, müssen wir aber unsere Begriffe klären. Unter einem »Leiter« verstehen Menschen ganz unterschiedliche Dinge. Es gibt die Ansicht, dass jeder ein Leiter sei, da jeder Mensch andere Menschen auf irgendeine Art und Weise beeinflusst. Am anderen Ende des Spektrums herrscht eine solch exklusive Vorstellung von Leitung vor, dass selbst Jesus Mühe hätte, die endlose Anzahl der »unverzichtbaren Qualitäten« aufzuweisen und die unerreichbaren »nötigen Voraussetzungen« zu erfüllen. Ich habe versucht zu analysieren, was mir meine Erfahrung über das Wesen von Leitung beigebracht hat. Aktuell befinde ich mich zwischen den beiden extremen Standpunkten »Jeder ist ein Leiter« und »Der Leiter als vierte Person der Dreieinigkeit« (also dem Ansatz, der an den Super-Leiter mit göttlicher Allmacht und Allwissenheit glaubt).
Bevor ich nun meine aktuelle Arbeitsdefinition eines Leiters in den Ring werfe, lassen Sie mich Ihnen noch sagen, was meiner Einschätzung nach die größte Not der christlichen Gemeinde unserer Tage darstellt: Was wir heute mehr als alles andere brauchen, sind Scharen von Leitern, die eine Vision von einer besseren Zukunft haben und die von Gott berufen und sichtbar dazu bestimmt sind. Wir brauchen Leiter, deren Herzen so brennen, dass ihre Vision nicht ausgelöscht werden kann. Wir brauchen Leiter, denen Gott aufs Herz legt, andere zielgerichtet und mit Leidenschaft zu prägen.
Es fehlt in den Gemeinden heute selten an guten Lehrern, einfühlsamen Seelsorgern und verlässlichen Verwaltern. Diese Rollen und Funktionen werden auch gebraucht. Aber wir brauchen mehr, viel mehr. Wir brauchen visionäre Leiter wie Paulus, der Agrippa entgegnete: »Ich habe dieser Vision aus dem Himmel gehorcht« (Apostelgeschichte 26,19). In den meisten Organisationen wird zu viel verwaltet und zu wenig geleitet. Wenn sich das in unseren Gemeinden nicht ändert, geraten wir in ernste Schwierigkeiten.
In diesem Buch verwende ich diese Definition eines Leiters:
Ein christlicher Leiter ist ein Diener Gottes, der von Gott abhängig und demütig ist, mit anderen zusammenarbeitet und den Gott dazu berufen hat, eine Gruppe von Jesusnachfolgern anzuleiten, zu fördern, auszubilden und zu bevollmächtigen, damit sie gemeinsam auf die Verwirklichung der Vision hinarbeiten können, die ihnen von Gott geschenkt wurde.
Dies sind die wichtigsten Eigenschaften eines Leiters:
• Christliche Leiter sind zuallererst Diener Gottes und dann in zweiter Linie Diener der Menschen, die sie leiten.
• Sie arbeiten mit anderen zusammen, in gegenseitiger Abhängigkeit und Demut, statt den einsamen Leitwolf zu spielen.
• Christliche Leiter werden von Gott in Leitungsverantwortung berufen. Sie entscheiden sich nicht selbst dafür. Sie werden weder von einem privaten Fanclub zum Leiter erkoren, noch landen sie in einer Leitungsposition, weil sonst keiner zur Verfügung steht.
• Christliche Leiter sind mindestens für diese vier Dinge verantwortlich:
Anleiten – ein echter Leiter hat ein Herz für die Menschen unter seiner Leitung und sorgt für sie.
Fördern – ein Leiter hilft den ihm anvertrauten Menschen, hingegebene Nachfolger Jesu zu werden.
Ausbilden – ein Leiter bildet die Menschen unter seiner Verantwortung aus, sodass sie ihrerseits der Gemeinde dienen können. Bevollmächtigen – ein Leiter inspiriert, ermutigt, bestätigt und ermuntert Menschen so, dass sie wirklich ihre Begabungen in aller Freiheit einsetzen können.
• Christliche Leiter haben ein konkretes Ziel und arbeiten darauf hin, es auch zu verwirklichen.
• Christliche Leiter formulieren eine gemeinsame Vision und füllen sie mit Leben. Die Menschen unterstützen die Vision anfänglich und eignen sie sich im Laufe der Zeit an.
Ich freue mich auf eine interessante und spannende Reise. Der Wettlauf kann beginnen!
Aus der Kraftquelle leben
»Vergiss nicht, dass die Kraft durch dich hindurchfließt, nicht aus dir heraus.«
Fred Smith sen.
Alles, was ich als Leiter bin und tue, ist in meiner Identität in Christus verankert. Das A und O der Leiterschaft ist ein klares Verständnis des Evangeliums und tiefe Wurzeln in der Gnade, die Christus uns geschenkt hat.
Verwurzelt im Evangelium
Es ist die Kraft Gottes, die mich rettet und trägt, und es ist Gnade und nur Gnade, die es mir ermöglicht, als Christ zu leben und zu leiten. Weder habe ich sie mir verdient, noch habe ich sie mir erarbeitet. In Epheser 2,8-9 wird das so ausgedrückt: »Weil Gott so gnädig ist, hat er euch durch den Glauben gerettet. Und das ist nicht euer eigenes Verdienst; es ist ein Geschenk Gottes. Ihr werdet also nicht aufgrund eurer guten Taten gerettet, damit sich niemand etwas darauf einbilden kann.« Ich leite, weil ich durch Jesus – und nur durch ihn – gerettet bin und weil mich der Heilige Geist zu einer Leitungsaufgabe beruft und befähigt. Nur allzu leicht dreht sich alles um die Arbeit und den Dienst statt um den, der das echte Zentrum ist: Jesus. Vor einigen Jahren wurde mir das auf sehr unangenehme Weise bewusst. Ich war eingeladen, auf einer Tagung für geistliche Leiter ein Referat über das persönliche geistliche Leben von Pastoren zu halten. Im Laufe des Vormittags wurde mir klar, dass die meisten der Anwesenden sich nur dann Zeit für Gott und zum Bibellesen nahmen, wenn sie sich auf eine Predigt oder einen Vortrag vorbereiteten. Das fand ich sehr seltsam. Ich hatte von Anfang an gelernt, dass man selbst aus der Bibel Kraft schöpfen muss, bevor man sich daranmacht, geistliches Leben an andere weiterzugeben. In diesem Punkt will ich mich seit einiger Zeit an Esra messen lassen: »Esra hatte beschlossen, das Gesetz des Herrn zu studieren, ihm zu gehorchen und Israel in Satzung und Recht zu unterweisen« (Esra 7,10). Erst beschäftige ich mich mit der Bibel und versuche, ihre Worte in meinem Leben umzusetzen. Danach kann ich andere lehren.
Nach dieser Tagung wurde mir zunehmend klarer, dass viele Leiter diesen grundlegenden geistlichen Gewohnheiten keinen festen Platz in ihrem Leben gegeben hatten, sei es Sündenbekenntnis, Anbetung oder die Beschäftigung mit der Bibel. Dabei sind diese Gewohnheiten
unverzichtbar, um mit Jesus in Verbindung zu bleiben, der die wahre Kraftquelle für unser Leben und unseren Dienst ist.
Damit mein Leben als christlicher Leiter keine Schlagseite bekommt (und ich glaube, dass man das verhindern kann), muss Jesus Christus die Mitte meines Lebens sein. Jesus Christus ist meine Kraft. Ich will lieber jeden Tag seine unerschöpfliche Kraftquelle anzapfen, als alles mit meinen eigenen, aber begrenzten Mitteln zu versuchen.
Geistliche Disziplinen
Unterschiedliche Leiter nutzen unterschiedliche Methoden und Werkzeuge, um diese Ausgewogenheit zu erreichen und ihre Beziehung zu Gott lebendig zu halten. In vielen Fällen gelingt das, indem man christliche Disziplinen ausübt.
Einige dieser Disziplinen sind:
• Bibelstudium
• Zeiten für Gebet und Anbetung
• ausgedehnte Zeiträume für Einsamkeit, Besinnung und Fasten freihalten und nutzen
Durch diese Disziplinen werden wir aufnahmefähiger für die Gnade Gottes, die unsere persönliche Beziehung zu Christus immer wieder mit Leben füllt.
Mein Leben als Christ begann, als ich Jesus als meinen Retter annahm, der mich von der Strafe für meine Sünde befreit hat und am Kreuz für mich gestorben ist. Er hat mir aus freien Stücken seine Freundschaft angeboten. Dieses Angebot nahm ich im Alter von zwanzig Jahren an. Ich gab zu, dass ich gesündigt hatte, kehrte den falschen Wegen den Rücken zu und wurde Teil seiner Familie. Ich habe seitdem schrittweise gelernt, die erprobten geistlichen Disziplinen (oder »heiligen Gewohnheiten«) zu nutzen, um unsere Freundschaft auszubauen.
Motorboot, Segelboot oder Floß?
John Ortberg sagt aufschlussreich:
Es ist enorm hilfreich, sich die Unterschiede zwischen einem Motorboot, einem Floß und einem Segelboot vorzustellen. In einem Motorboot habe ich das Sagen. Ich bestimme die Geschwindigkeit und die Richtung. Es gibt Leute, die die geistlichen Disziplinen auf diese Weise handhaben: Wenn ich energisch genug bin, wenn ich genügend stille Zeiten habe, kann ich mich aus eigener Kraft verändern.
Viele Leute finden das abschreckend, fallen dabei ins andere Extrem und sagen, dass es »nur um Gnade geht«. Das hat dann eher etwas vom Dahindriften auf einem Floß. Fragt man sie, was sie für ihr geistliches Wachstum tun, ist die Antwort: »Es geht doch nicht um Werke, sondern um Gnade. Lass mich in Ruhe mit deiner Gesetzlichkeit.« Und so treiben sie dahin. Nun fordert uns die Schrift aber an so vielen Stellen zum Handeln auf, dass es einfach absurd ist, zu glauben, wir sollten gar nichts tun.
Auf einem Segelboot ist es demgegenüber so: Ich komme nicht voran, wenn kein Wind weht. Ich kann ihn nicht herbeirufen oder seine Richtung ändern. Jesus spricht davon, dass es mit dem Geist ist wie mit dem Wind. Dennoch habe ich Anteil an dem, was geschieht. Vor allem muss ich unterscheiden können. Ein guter Segler weiß, aus welcher Richtung der Wind kommt und wie er die Segel setzen muss. Mit den geistlichen Disziplinen verhält es sich ebenso.4
Für jeden von uns ist es überlebensnotwendig, die Wege zu finden, die uns in eine wachsende Freundschaft mit Christus führen. Für einige ist dieser Weg Musik, andere kommen ihm durch Nachdenken und Reflexion näher. Einige erleben Gott, wenn sie die Schöpfung bestaunen. Wieder anderen hilft die Erfahrung echter Gemeinschaft. Ich kombiniere einige dieser Zugänge: Ich mache Gebetsspaziergänge, nehme an Einkehrzeiten teil, höre Anbetungsmusik, nehme mir Zeit für die persönliche Andacht, freue mich über echte Gemeinschaft und pflege Freundschaften, in denen ich ehrlich sein und auch Rechenschaft ablegen kann.
Meine geistlichen Disziplinen
Ich möchte Ihnen gerne einige meiner »heiligen Gewohnheiten« vorstellen. Sie eröffnen mir einen verlässlichen Zugang zur Kraft Jesu, die mich trägt und der Ursprung meines Lebens und Leitens ist Machen Sie sich diese Übungen so zu eigen, dass Ihre Seele stark und gesund wird und bleibt
Gleich nach dem Aufwachen knie ich mich neben meinem Bett nieder und bete still für mich dieses Lied: »Erfülle du mich heute ganz. Erfülle mich. Lass mich dir heute ähnlicher werden. Erfülle mich, Herr, an diesem Tag. Auf deinen Wegen will ich heute gehen. Dein Wille soll geschehen.« Ich will wirklich, dass Gott vom ersten Moment des neuen Tages an das Steuer in der Hand hat; dass seine Pläne und nicht meine, seine Kraft und nicht meine, sein Wille und nicht meiner den Tag bestimmen. Wenn ich das beherzige, fällt es mir viel leichter, mit Freude in den Tag zu gehen. Ich gehe dann ein Stockwerk tiefer, um in der Bibel zu lesen, nachzusinnen und zu beten. Ich bin dankbar für die Menschen, die mich als jungen Christen vom Wert der täglichen Zeit mit Gott und seinem Wort überzeugt haben.
Im Laufe der Jahre hat sich die Gestaltung dieser Zeit gewandelt und ist erwachsen geworden, aber zwei Dinge sind gleich geblieben: Ich lese einen Bibeltext, öffne mich für seine Botschaft, und anschließend bete ich. Dabei will ich dem folgen, was Gott mir durch sein Wort gerade gezeigt hat. Ich bekenne Sünde, danke, lobe, bete für andere und schütte mein Herz aus vor dem »gnädigen und allein allmächtigen Gott« (vgl. 1. Timotheus 6,15), lege ihm meine Ängste, Wünsche und Enttäuschungen hin.
Dabei folge ich den »vier As«:
1. Aufnehmen. Ich lese und markiere die Worte oder Sätze, die mich ansprechen.
2. Auspacken. Ich denke über die markierten Stellen nach.
3. Antworten. Ich mache mir die markierten Worte in einer betenden und gehorsamen Haltung zu eigen.
4. Aufzeichnen. Ich halte schriftlich (in meinem Tagebuch) fest, was Gott gesagt hat.
Die vier As sind die Voraussetzung dafür, dass ich Gottes leise Stimme hören kann, sei es, dass er seine Liebe zu mir bekräftigt, mir bei Entscheidungen helfen will oder mich auf Sünde in ihren vielen und oft hintergründigen Formen aufmerksam machen möchte Mein Herz ist immer noch hinterhältig und verschlagen (vgl. Jeremia 17,9). Ich bin Experte darin, mich selbst zu rechtfertigen und davon zu überzeugen, dass es sich bei meiner Sünde gar nicht um Sünde handelt.
Ich verbringe meine Zeit mit Gott in einer anbetenden Haltung, die die Bereitschaft zur Umkehr mit einschließt. Ich will so offen wie möglich für sein Reden und seine Gegenwart sein Ich bitte ihn, mein Herz zu prüfen und mir zu zeigen, wo sich Schuld versteckt, der ich mich stellen muss (Psalm 51,10; 139,23f.). Ich will mich ausstrecken nach ihm und immer mehr der werden, der ich werden kann. Ich will meine Fehlerhaftigkeit gegen seine Gerechtigkeit eintauschen und meine Angst gegen seine Zuversicht. Im Laufe der Jahre habe ich das gelernt:
• Wenn ich mir nicht oft oder regelmäßig genug Zeit mit dem Auferstandenen nehme, verliere ich Vision und Begeisterung. Der Dienst wird zur freudlosen Plackerei.
• Wenn meine Freundschaft mit Gott stark ist, lebe ich ausgeglichen, konzentriert und erfahre, wie seine Kraft in meinem Leben fließt.
• In meiner Zeit mit Gott vertiefe und pflege ich die Beziehung zu ihm. Ich komme nicht irgendwelchen Pflichten nach oder hake Punkte in einer To-do-Liste ab.
• Die großen Männer und Frauen Gottes sind deswegen groß, weil sie mehr als alles andere enge Freunde und Vertraute Gottes sind. Fehlt diese Qualität in der Beziehung zu Gott, ist der Weg zu gesundem geistlichen Wachstum und nachhaltiger Wirksamkeit versperrt.
Disziplin oder Gesetzlichkeit
Ich bin sehr diszipliniert und strukturiert und muss deswegen aufpassen, dass diese »heiligen Gewohnheiten« nicht zu einer leeren Übung nach Art der Pharisäer werden, in der ich mir das Wohlwollen Gottes
erarbeiten kann. Dallas Willard sagt, dass nicht Bemühen das Gegenteil von Gnade ist, sondern Verdienst. Es ist also nicht falsch, unsere Kraft und Willensstärke einzusetzen, um Gott besser kennenzulernen.
Der Irrtum läge darin zu glauben, dass wir uns durch unsere Anstrengung Gottes Liebe, Annahme und Wohlwollen verdienen könnten.
Wie Jesus von mir denkt, hängt nicht davon ab, was ich tue, sondern davon, was er getan hat; nicht von meinen Werken, sondern von seiner Gnade (vgl Epheser 2,8ff.). Eigenes Bemühen gehört sicher zum Leben eines Christen dazu, aber als Folge der Erlösung und nicht als Vorbedingung
Diese Unterscheidung fällt mir manchmal schwer. Manchmal tappe ich in die Falle zu denken, dass Gott mich mehr mag oder besser von mir denkt, wenn ich regelmäßig meine heiligen Gewohnheiten pflege Dann wird daraus schnell eine Art Schule mit ihren Regeln und Vorschriften. Ich will diszipliniert sein, aber nicht gesetzlich. Ich will auf Gnade bauen, nicht auf Regeln
Ich fand das folgende Zitat sehr hilfreich, um meinen geistlichen Gewohnheiten mit Freude nachzugehen und nicht so strukturiert zu werden, dass es mir oder anderen schadet:
Ich will mich an deinen Ordnungen freuen. (Psalm 119,16)
Sieht so einfach aus, oder? Fast naiv. Im besten Fall altmodisch, ein wenig verstaubt. Es fällt uns heute nicht mehr leicht, uns zu freuen, wenn wir in der Bibel lesen. Haben wir da inzwischen nicht auch andere Ansprüche? Wir wollen diszipliniert, sorgfältig, pflichtbewusst und entschlossen vorgehen. Wir nutzen Tabellen, Kommentare, Konkordanzen, Wörterbücher, Enzyklopädien, Studienführer, Grafiken, Karten, Synopsen und andere Materialien. Wir suchen nach Ratschlägen, Hintergründen, Analogien, Wiederholungen, Gegensätzen, Modellen, Illustrationen, Anspielungen, Beispielen, Lehrsätzen und Warnungen. Wir finden die Schlüsselwörter, Schlüsselverse, Schlüsselgedanken, Schlüsselaussagen und Schlüsselabschnitte. Wir vergraben uns in Wortstudien, thematischen Erkundungen, geografischen Analysen und Charakterstudien. Wir benutzen Übersetzungen, Übertragungen, Versionen und neue Versionen von Versionen. Wir sind bibelfest. Wir sind Experten, wenn es um Methoden für das Bibelstudium geht.
Woran könnte der Psalmist gedacht haben, als er schrieb: »Ich habe meine Freude an deinen Gesetzen«? Das ist doch sicher zu kindisch für gut ausgebildete Exegeten! Und doch fragen sich einige von uns: »Glauben Sie, der Vater hätte etwas dagegen, wenn wir die Schule mal Schule sein lassen und es uns einfach mit seinem guten Buch gemütlich machen? Das tut so gut.«5 Die Sache mit der Kraft und der Quelle beginnt für mich also auf den Knien, wenn ich Gott meinen Tag hinlege. Ich schöpfe neue Kraft, wenn ich Zeit mit ihm im Gebet und mit seinem Wort verbringe. Mit seiner Hilfe gehe ich auf diese Weise gestärkt in den Tag. Ich gebe es zu, wenn ich mich auf meine eigene Kraft verlasse, und ich freue mich, wenn er mich sanft zurechtweist und daran erinnert, dass meine Kraft von ihm kommt. Und er führt mich dann zur Quelle zurück: zu sich selbst! Johannes 15 ist das große Kapitel, in dem Christus uns lehrt, in ihm zu bleiben. Ich habe diesen tiefen und beständigen Wunsch, immer wieder in einer aufrichtigen und engen Abhängigkeit von Gott zu leben. Wenn ich anfange zu glauben, dass ich die Verantwortung für alles habe, dann werde ich sehr schnell sehr müde und brauche viel länger, um mich wieder zu erholen.
Mir hat auch Eugene Petersons Übertragung von Matthäus 11,28ff. gutgetan: »Lebt mit mir zusammen, arbeitet mit mir zusammen – seht mir einfach zu. Lernt, mit dem Wind der Gnade zu segeln. Ich werde euch nichts aufladen, was zu schwer oder schwierig ist. Bleibt mit mir zusammen, dann werdet ihr lernen, mit leichtem Gepäck zu reisen und als freie Menschen zu leben.«6 Das begeistert mich! Dieser Text vermittelt mir ein Bild davon, was es heißt, jeden Moment in Gottes Gegenwart zu verbringen. Ganz besonders berührt mich der Gedanke »zu lernen, mit dem Wind der Gnade zu segeln«. Diese Formulierung hilft mir zu glauben, dass man das lernen kann, dass ich persönlich in der Lage bin, es zu lernen, und dass Gott sogar will, dass ich es lerne. Vor meinem inneren Auge sehe ich dabei einen Surfer, wie er mühelos mit der Kraft des Ozeans die Wellenkämme hinauf- und hinabgleitet. Ich stelle mir einen Reiter vor, der sich dem Galopp des Pferdes anpasst. Ich habe viele Jahre lang einen eher starren Ansatz praktiziert. Nun beginne ich zu verstehen, dass wir lernen müssen, »mit dem Wind der Gnade zu segeln«, wenn unser Leben und unser Dienst Freude machen und Frucht bringen sollen.
Für alle Speichen des Rades ist Jesus die Nabe. In ihm wird alles zusammengehalten. Von ihm kommt alle Kraft. Sie werden keine Vision, Leidenschaft und Prioritäten haben oder Ihre Kräfte einteilen können, wenn Sie es aus eigener Kraft versuchen. »Nicht durch Gewalt und Kraft wird es geschehen, sondern durch meinen Geist, spricht der Herr, der Allmächtige« (Sacharja 4,6). Wenn Christus die Quelle Ihrer Kraft ist, sind Sie bereit, seine Vision für Ihr Leben kennenzulernen.