Udo Blumer mit Elisabeth Weise und Michael Stahl Hinter Gittern Gnade gefunden
Best.-Nr. 271913
ISBN 978-3-86353-913-9
Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg
Es wurde folgende Bibelübersetzung verwendet:
Schlachter-Übersetzung – Version 2000, © 2000 Genfer Bibelgesellschaft (SLT)
1. Auflage
© 2024 Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg www.cv-dillenburg.de
Satz und Umschlaggestaltung:
Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg Umschlagmotiv: © Pascal Funk / ERF Medien e. V.
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
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AUFWACHSEN
„Der Udo hat eine Schlange gefangen! Der Udo hat eine Giftschlange in der Tasche!“ Die Kinder im Kindergarten rannten aufgeregt vom Spielplatz in ihre Gruppe, die schmutzigen Schuhe noch an den Füßen. Einige Mädchen kreischten. Die Erzieherin, Frau Krämer, versuchte, die Bande zu beruhigen: „So ein Unsinn! Bei uns im Garten gibt es doch gar keine Schlangen.“ Aber da kam Udo angelaufen, und in seiner Hand, da war doch tatsächlich ein dunkles, langes Etwas. Eine Schlange! Und sie bewegte sich! In diesem Augenblick war es um Frau Krämer geschehen. Innerhalb weniger Sekunden stand sie auf dem Tisch in der Mitte des Raumes. „Udo!!! Bring sofort dieses Tier wieder raus!“, kreischte sie mit hoher Stimme. Der kleine Junge sah die Frau hoch über sich mit seinen dunklen Augen scheinheilig an. „Welches Ding denn, Frau Krämer?“, fragte er. „Ach, du meinst meine kleine Freundin hier?“ Geschickt ließ er den Kopf der kleine Plastikschlange mit den beweglichen Elementen in seiner Hand hin- und hergleiten. „Die wollte ich dir doch extra
zeigen. So ein hübsches Tier ...“ Er trat ein paar weitere Schritte auf den Tisch zu, von wo Frau Krämer einen verzweifelten Schrei ausstieß.
In diesem Moment trat die Erzieherin der Nachbargruppe in die Tür. „Was ist denn hier los? Was soll der ganze Lärm?“ Mit einem Blick erfasste sie die Situation. Hart packte sie Udo am Arm: „Schämst du dich nicht, du frecher Bengel, der Frau Krämer und den anderen Kindern so einen Schrecken einzujagen?“ Udo zeigte sich unbeeindruckt, denn er wurde oft geschimpft. Das änderte sich aber, als die Erzieherin drohte: „Das werde ich deinem Vater erzählen! Mal sehen, was der dazu sagt!“ Sofort hängte sich Udo an den Arm der Frau: „Bitte sag nichts meinem Vater“, bettelte er. „Das war doch nur ein Scherz, ich werde es nicht noch mal tun.“ – „Ist schon gut“, beschwichtigte Frau Krämer, die inzwischen von ihrem Tisch heruntergestiegen war. „Ich habe wohl ein bisschen überreagiert. Schlangen machen mir halt wahnsinnige Angst. Das Ding bleibt von nun an zu Hause, ja?“ Udo nickte und verschwand erleichtert in der Bauecke. Puh, das war noch einmal gut gegangen. Er wusste, was ihn zu Hause erwartete, hätte sein Vater von seinem Unsinn erfahren: mindestens eine schallende Ohrfeige, wahrscheinlich eher eine richtige Tracht Prügel. Aber der Streich hatte sich trotzdem gelohnt. Wenn er an Frau Krämer dachte, wie sie da oben zitternd auf dem Tisch stand, musste er immer wieder ein Kichern unterdrücken. Wie stark man sich fühlte, wenn man anderen Menschen Angst einjagen konnte ...
So vergingen die ersten Jahre von Udos Kindheit. Sie waren angefüllt mit Abenteuern und wilden Aktionen. Prügel gehörten immer dazu. Vom „Alten“, wie der Junge seinen Vater halb verächtlich, halb zärtlich nannte, bekam er sie immer dann, wenn er mal wieder über die Stränge geschlagen hatte – und das kam ziemlich oft vor. Aber auch die Jungs aus der Nachbarschaft prügelten sich regelmäßig und fochten richtige Kämpfe gegeneinander aus: die Buchenweger gegen die Tannenweger zum Beispiel. Udo, der noch zu den Jüngeren gehörte, hielt sich erst einmal auf Abstand. Doch das sollte sich bald ändern.
Es war irgendwann während Udos Grundschulzeit. Er kam vom Einkaufen zurück und lief die Straße entlang, weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Plötzlich stand Andre vor ihm. „Hey, du kleiner Hosenscheißer. Bist du auf dem Weg zur Mama? Hast wohl neue Milch für dein Fläschchen gekauft?“ Ehe Udo es sich versah, hatte der Junge ihn umgeworfen und ihm einen Schlag ins Gesicht verpasst. Udo krallte instinktiv die Hände in die Einkaufstüte, aus der die Lebensmittel auf die Straße kullerten. Noch ein Schlag, dann ein Tritt. Udo spürte Blut im Mund, weil er sich auf die Zunge gebissen hatte. „Mit dir kann man ja gar nicht kämpfen! So ein Schwächling! Der wehrt sich ja noch nicht mal.“ Der Junge spuckte verächtlich auf Udo, der sich langsam aufrappelte. Dann war er verschwunden. Udo wischte sich eine Träne aus dem Gesicht, sammelte die verstreuten Lebensmittel ein und humpelte die letzten
Meter nach Hause. Was sollte er erzählen? Seine Mutter tröstete ihn, verpflasterte das aufgesprungene Knie sowie die Blessur im Gesicht ihres Sohnes und schimpfte über die groben Nachbarsjungen. Doch Udos Vater bekam einen regelrechten Wutanfall: „Das war das erste und das letzte Mal, dass du dich einfach so verprügeln lässt! Wer war der Bengel? Der Andre? Alles klar, ich red mit seinem Vater. Das muss eine Revanche geben. Und dann lässt du dich nicht so einfach abziehen!“ Der Boxkampf fand ein paar Tage später in der Garage statt. Und diesmal steckte Udo nicht nur ein, sondern teilte auch aus. Er übersah nicht den leisen Stolz in den Augen seines Vaters, als dieser ihm nach dem Kampf anerkennend auf die Schulter klopfte. „Gott sei Dank, aus dir wird noch was“, meinte Franz zu seinem schwer atmenden Sohn. „Im Leben kriegst du nichts geschenkt. Merk dir das!“
Udo liebte seinen Vater, er war ein richtiges Papakind. In den Momenten, in denen sein Vater wütend war, fürchtete er sich vor ihm, denn die Hand saß Franz, Jahrgang 1933, immer locker. Aber trotzdem war der Alte ein toller Mann. Und bei allen seinen Fehlern, seiner Brutalität und Launenhaftigkeit auch ein wunderbarer Vater. Im Winter bei Schnee die Kinder aus der Nachbarschaft zusammentrommeln, alle Schlitten hinters Auto binden und eine Runde drehen – wer machte so etwas schon? Oder mit dem Sohn bis tief in die Nacht die Boxkämpfe von Muhammad Ali gucken und ihm dann für den nächsten Tag eine Entschuldigung schreiben – war das nicht großartig?
Und dann waren da natürlich noch die Großeltern. Udo freute sich immer sehr auf die Besuche bei ihnen, denn Opa konnte so spannend aus dem Krieg erzählen. Manchmal kam er dabei so richtig in Fahrt: „Das war was, als ich die Amerikaner vom Himmel holte! Abgeknallt haben wir sie, einen nach dem anderen.“ Dem kleinen Jungen lief eine Gänsehaut über den Rücken, aber die Kriegsgeschichten faszinierten ihn trotzdem.
Manchmal schlachtete Udo zusammen mit seinem Opa Hühner. „Hau feste zu! Und jetzt lass schnell los.“
Angeekelt und fasziniert zugleich sah Udo, wie das tote Huhn mit den Flügeln flatterte und noch ein paar Meter weiterkam, bis es schließlich leblos liegen blieb. „Gut gemacht! Du wirst einmal ein richtiger Mann, Udo“, sagte der Opa dann anerkennend zu seinem Enkel.
Oma war anders. Sanft, zart, mehr wie Udos Mutter. Sie liebte ihren riesigen Garten, der fast die Größe eines Fußballfeldes hatte und in dem alles wuchs, was man sich vorstellen konnte. Und sie liebte Opa. Als dieser nach 64 Jahren Ehe starb, da wollte auch sie nicht mehr. Drei Monate nach dem Tod ihres Mannes lud sie Udos Familie ein letztes Mal zu sich nach Hause ein. „Ich gehe zu Opa“, erklärte sie, „das war euer letzter Besuch bei mir.“ – „Was meinst du damit: ‚Ich gehe zu Opa‘? Der Opa ist doch tot?“, fragte der kleine Udo verwundert. „Lass mal, ich erkläre dir das später“, raunte sein Vater ihm zu.
Auf der Heimfahrt im Auto erklärte Franz seinem Sohn dann: „Mit Oma und Opa, das war
etwas ganz Besonderes. Sie waren sehr lange verheiratet, viel länger, als du dir vorstellen kannst. Und sie hatten sich sehr lieb. Deswegen ist es sehr schwer für Oma, allein weiterzuleben.“ –„Aber sie ist doch total gesund! Versorgt noch ganz allein den großen Garten. Sie kann noch lange weiterleben!“ – „Aber sie möchte nicht mehr. Und wahrscheinlich fühlt sie, dass sie Opa bald folgen wird.“ Udo grübelte nach. War das die wahre Liebe? Sein ganzes Leben mit einem anderen Menschen zu teilen? Nicht mehr ohne den anderen leben zu können? Sechs Wochen später kam die Nachricht: Seine Oma war gestorben. An gebrochenem Herzen, wie der Arzt sagte.
Die Familie Blumer war katholisch, der Gang zur Kirche gehörte zu ihrem Leben wie die Butter aufs Brot. Woher sollten Anstand und Moral kommen, wenn nicht aus dem Glauben? Wenn Franz sonntagmorgens auf Schicht war, besuchte man wenigstens die Abendmesse. Und wenn der Vater gar nicht gehen konnte, bestand er doch darauf, dass Udo trotzdem am Gottesdienst teilnahm. Weil er aber wusste, dass sein Sohn lieber draußen Fußball spielte, als drinnen seine Zeit abzusitzen, fragte er ihn später ab: „Worüber hat der Pfarrer gesprochen? Welche Lieder wurden gesungen?“ Wenn Udo die Antwort nicht wusste, setzte
es Hiebe, so wie auch bei vielen anderen Gelegenheiten. Einmal wäre es dabei fast zu einem Unglück gekommen: Im Wohnzimmer stand eine Zigarrenkiste, in der Franz immer ein paar Scheine zum Lottospielen aufbewahrte. Der kleine Udo brauchte Geld, und weil gerade niemand zu Hause war, hatte er sich von dort fünf Mark genommen, mit der festen Absicht, das Geld später zurückzuzahlen. Als der Vater nach Hause kam, bemerkte er sofort, dass ein Schein fehlte. Er ließ Udo keine Zeit für Erklärungen. „Du Dieb! Mein Sohn ein Dieb! Ich werde dich lehren ...“
Der erste Hieb saß, den weiteren Schlägen seines Vaters wich Udo jedoch aus. Plötzlich war kein Boden mehr unter seinen Füßen; er fiel ins Nichts und fühlte einen dumpfen Schmerz, bevor es dunkel wurde. Udo hatte nicht bemerkt, dass die Kellertür offenstand, und war die ganze lange Treppe hinuntergestürzt. Als Franz seinen Jungen unten im Keller liegen sah, bleich und mit geschlossenen Augen, merkte er sofort, dass etwas Ernstes passiert war. Vorsichtig trug er seinen Sohn, der vor Schmerzen leise wimmerte, nach oben ins Wohnzimmer. Da blieb nur eins: Krankenhaus.
Die Untersuchung ergab eine Nierenquetschung. „Ein ziemlich dummer Sturz“, sagte der Arzt und betrachtete misstrauisch die vielen blauen Flecken an Udos Körper. Dieser sah seinem Vater fest in die Augen. Sollte er ...? Nein, dazu liebte er seinen Vater zu sehr. „Ja, das war echt ein ziemlich dummer Sturz“, antwortete Udo dem Arzt zögernd.
Zu Udos Kindheit gehörte auch seine kleine Schwester Maria, ein lustiges Mädchen mit blonden Haaren. Drei Jahre jünger als Udo war sie seine engste Spielgefährtin und Freundin. Udo liebte und beschützte sie, kassierte ihre Prügel und nahm sie mit zu seinen Freunden. Am glücklichsten waren die Kinder, wenn sie im „Tennehimmelchen“ waren. Das war eine große, halb verwilderte Freifläche am Ende der Straße, wo man herrliche Buden bauen und sich zwischen Bäumen und Sträuchern verstecken konnte. Und wo man sich fern von aller elterlichen Aufsicht stritt und gegenseitig verkloppte.
Einmal zelteten die Kinder im Tennehimmelchen und zündeten ein Lagerfeuer an, allerdings, ohne es zu wissen, genau über einem Kaninchenbau. Irgendwann trieb die Hitze die Kleinen nach draußen. „Die teilen wir uns“, schlug jemand vor. „Jeder darf ein Kaninchenbaby mit nach Hause nehmen.“ – „Au ja!“ Im Nu waren die kleinen Lebewesen verteilt. „Guck mal, da kommt ja noch eins aus dem Gang gekrabbelt! Mensch, das sieht mitgenommen aus. Ist ja schon halb verkohlt!“ – „Das kriegt der Udo. Der ist ja auch schwarz!“ Schallendes Gelächter. Udo schluckte. Dass sich die anderen immer über seinen dunklen Teint lustig machen mussten! Doch irgendetwas in dem Jungen wurde angerührt, als er das kleine Kaninchenbaby sah. Behutsam steckte er es in seine Hosentasche. Immer wieder glitt seine Hand vorsichtig über das weiche Fell, und langsam wurde das zitternde Tierchen ruhiger.
Zu Hause baute der Vater einen kleinen Stall für das neue Familienmitglied, die Mutter brachte Möhrenschalen und Salat. Und während alle anderen Kaninchen eingingen, überlebte das kleine Liebchen, wie Udo sein Tierchen oft zärtlich nannte. Einige Wochen später war es zu einem ziemlich großen, sehr zahmen Kaninchen herangewachsen, und Udo konnte mit ihm auf der Wiese spielen, ohne dass es weglief. Es waren glückliche Wochen, bis die Mutter eines Tages die Tür zum Freilauf offenließ und das Tier verschwand. Udo suchte und rief seinen kleinen Liebling vergeblich. Drei Tage später klingelte ein Nachbar, Besitzer eines großen rot-weißen Katers. „Udochen, wir haben dein Kaninchen, es ist auf eurer Terrasse.“ Sein gemeines Grinsen ließ Udo jedoch nichts Gutes ahnen. Als der Junge auf die Terrasse rannte, sah er sein Liebchen dort liegen. In sieben Teilen. In diesem Moment zerbrach irgendetwas in Udo. Er wusste, dass niemand ihn trösten könnte oder seinen Schmerz verstehen würde, und so schluckte er seine Tränen hinunter. Und rächte sich brutal an der Katze. Fressen oder gefressen werden, stark sein oder untergehen. Ein anderes Gesetz gab es wohl nicht in diesem Leben.