Anke Hillebrenner
Ein paar Worte zu Beginn
n diesem Buch erwartet dich eine Geschichte über fünf kleine Mäusekinder. Allerdings hat sie auch eine ganze Menge mit uns Menschen zu tun. Jetzt fragst du dich sicherlich, wie das sein kann.
Ich will das kurz erklären:
Bestimmt bist zu schon einmal einem Menschen begegnet, der dir besonders aufgefallen ist, weil er ein bisschen anders ist. Anders eben als die meisten anderen, denen man so tagein, tagaus begegnet.
Jemandem, der vielleicht etwas anders aussieht, sich ganz andere Gedanken macht oder irgendetwas ganz besonders gut kann. Oder vielleicht hast du irgendwann sogar gemerkt, dass du selbst anders bist als andere.
In dem Fall weißt du ja auch, dass man sich dann manchmal ein bisschen einsam fühlen kann – so als gehöre man nicht richtig dazu.
Genau darum geht es in diesem Buch: um Menschen – oder eben Mäuse –, die anders sind als andere. Und darum, dass das Leben nur halb so schön wäre, wenn es dich und die anderen besonderen Menschen nicht gäbe. Weil Gott dich nämlich ganz wunderbar gemacht hat. Und nicht zuletzt auch, weil besondere Menschen oft auch besondere Ideen haben.
Aber ich will nicht zu viel verraten! Lies einfach selbst!
Die Mäusekinder von Henrikshöhe
lara war sechs Jahre alt und das jüngste von fünf Mäusegeschwistern. Sie hatte vier Brüder. Titus war der Älteste von ihnen. Dann kamen Julius, Vitus und Linus.
Klara hatte ein ganz besonderes Merkmal: Zwischen ihren beiden Öhrchen schaute ein tellerrunder, kahler Fleck hervor. Außerdem sausten in ihrem kleinen Kopf fast pausenlos unzählige Gedanken hin und her und auf und nieder und rundherum. Gedanken über Dinge und Gedanken über das Denken. Und jedermann konnte sehen, dass Klaras Mäuseköpfchen voll war mit solchen Gedanken. Denn immer dann, wenn sie besonders viel nachdachte, färbte sich die tellerrunde, ratzekahle Stelle in ihrem Fell rötlich.
Klara lebte mit Titus, Julius, Vitus und Linus und mit ihren Mäuseeltern in einem kleinen Mäusenest namens Henrikshöhe. Henrikshöhe lag gemütlich und versteckt in einem kleinen Buchenwäldchen zwischen einem plätschernden, klaren Bächlein und einer Lichtung, die von dichten Tannen und ein paar jungen Eichen umgeben war. Ein hervorragender Platz für eine siebenköpfige Mäusefamilie. Denn dort, unter den Bäumen, fanden sich immer Unmengen von Nüssen und ähnlichen Leckereien.
Den ganzen Sommer und Herbst hindurch waren Klara und ihre Familie damit beschäftigt gewesen,
Nahrungsvorräte für den langen Winter zu sammeln. Fleißig und unermüdlich hatten sie Bucheckern, Eicheln und kleine Pflanzensamen herbeigeschleppt.
Diese hatten sie anschließend an gut geschützten Stellen im weichen Waldboden vergraben oder in Baumrindenspalten versteckt. Wenn der Mäusebauch im Winter dann knurrte, konnten sie immer so viel hervorholen und verspeisen, wie sie gerade brauchten. Dieses Jahr jedoch war ein Teil der Vorräte für Onkel Theophil, den Bruder von Mama Luise, bestimmt. Der gutherzige, freundliche Mäuserich war nicht mehr der Jüngste und konnte selbst nicht mehr genügend Vorräte zusammentragen.
Nun war der Winter schließlich gekommen – weiß und kalt –, und Schnee bedeckte glitzernd die Welt. Klara liebte es, die kalte Luft einzuatmen und den blauen Himmel mit kleinen Wölkchen aus ihrer Mäusenase zu begrüßen. In solchen Momenten schien sogar Ruhe in ihre sausenden Gedanken einzukehren.
Heute war ein besonders schöner Tag in Henrikshöhe. Die Sonne funkelte durch die Baumkronen und ließ ihr Licht auf dem sich kräuselnden Bach glänzen und tanzen. Der Schnee strahlte gleißend hell. Und heute war es auch so weit: Die fünf Mäusekinder durften ihren
Onkel Theophil besuchen. Sein Häuschen lag jenseits der Lichtung, verborgen hinter einer dicken Baumwurzel an der Uferböschung eines großen Teiches.
„Grüßt mir meinen lieben Bruder Theophil ganz besonders herzlich“, gab ihnen ihre Mutter Luise mit auf den Weg. „Und passt gut auf die Tannenzapfensamen auf; sie sind Onkel Theophils Lieblingsessen. Und Titus ...“, fügte sie langgezogen hinzu. Dabei blickte sie ihren ältesten Sohn, der ein etwas dickeres Bäuchlein hatte als seine Geschwister, streng an. „Die Zapfensamen sind ein Geschenk für deinen Onkel. Bitte sorge dafür, dass sie nicht in deinem hungrigen Mäusebauch verschwinden, bevor ihr bei Onkel Theophil ankommt!“
„Ja, Mama“, brummelte Titus und schaute dabei verlegen auf seine Fußspitzen.
Mutter Luise drückte Titus den Vorratskorb mit den Samen und einer Flasche mit frischem Quellwasser in die Pfoten. Linus reichte sie eine Laterne. Jetzt blickte sie ihr kleines Mäusemädchen an, dessen kahle Stelle auf dem Kopf sich langsam rötlich färbte.
Sanft lächelnd drückte die Mutter Klara zärtlich an
ihr weiches Fell. „Mein kluges Mädchen soll sich nicht immer so viele Gedanken machen“, flüsterte sie und stupste mit ihrer Nase einen Mäusekuss auf Klaras Kopf.
„Aber der Wald steckt voller Gefahren, Mama“, murmelte Klara. „Könnt ihr, Papa und du ... ich meine, könnt ihr nicht mitkommen zu Onkel Theophil? Und überhaupt – was sollen wir tun, wenn es plötzlich dunkel wird? Wir könnten uns verlaufen und –“
„Mein liebes Mäuschen“, unterbrach Mutter Luise sie mit ruhiger Stimme, „ihr seid schon große Kinder. Ich bin mir sicher, dass ich euch ohne Bedenken allein durch unseren Wald spazieren gehen lassen kann. Deine großen Brüder werden ganz bestimmt auf dich achtgeben. Und Linus hat eine Laterne dabei für den Fall, dass ihr noch nicht zurück seid, wenn die Dunkelheit hereinbricht. Mach dir also keine Sorgen.“
Als Klara sich hilfesuchend nach ihren Brüdern umdrehte, bemerkte sie, dass Titus, Julius, Vitus und Linus offensichtlich die Ungeduld gepackt hatte. Schon längst waren sie in Richtung Waldrand getobt. Klara drückte sich rasch noch einmal an Mutter Luises Fell, nahm ihre Hinterpfoten in die Vorderpfoten und rannte
ihren Brüdern nach, so schnell ihre kleinen Beinchen sie trugen. Noch vor dem großen Wald holte sie die vier Jungen ein.
Der Fund im Schnee
as für ein herrlicher Spaziergang! Die fünf Mäusekinder tollten durch den hellen Buchenwald, rollten sich kleinere Hügel hinunter, malten mit ihren Pfoten lustige Bilder und Figuren in den Schnee und spielten im dichten Unterholz Verstecken.
„Halt, aufhören!“, keuchte Julius, als sein Bruder Vitus ihn entdeckt und zu Boden gerissen hatte, um sich mit ihm im Schnee zu wälzen. „Ich brauche eine Pause zum Verschnaufen.“ Mühsam richtete er sich auf, klopfte sich den Schnee aus seinem Pelz und sah sich suchend um.
„Dort!“, rief er und deutete auf eine helle, freundliche Lichtung, auf der eine kleine, sprudelnde Quelle entsprang. „Dort ist ein schöner Platz für eine kleine Ruhepause.“ Die anderen stimmten zu und folgten ihm. Klara war insgeheim froh, denn sie hatte immer Mühe, mit ihren Brüdern mitzuhalten, wenn sie so
Verschnaufen gar nicht geben.
Klara ließ sich neben dem sprudelnden Quellwasser in den Schnee fallen und lauschte dem Plätschern des Baches. Verträumt schaute sie in den Himmel, an dem sie ein paar weiße Federwölkchen entdeckte. Die Wolken sahen aus wie gemalt und schwebten langsam über die blaue Fläche. Klara schloss die Augen. In ihrem Kopf wurden die Wolken zu weißen Figuren, die in ganzen Scharen durch ihre Gedanken zogen: große, kleine, dicke, dünne, freundlich winkende und grimmig dreinschauende. Den Figuren folgten die Geschichten, die in ihrem Kopf zu entstehen begannen. Ob der Grimmige durch den freundlich Winkenden wohl ein bisschen freundlicher würde? Könnte der schnaufende Dicke den Dünnen wohl noch einholen? Oder war der Große mit seinen Riesenschritten am Ende doch der Schnellste?
Plötzlich aber musste Klara an etwas ganz anderes denken. „Meine Gedanken – und meine kahle Stelle am
Immer wenn ihre Brüder sahen, dass sich Klaras Kopf rötlich färbte, machten sie sich über sie lustig. Aber die vier beachteten sie gar nicht. Stattdessen rollten sich Titus, Linus und Vitus schon wieder kichernd durch den Schnee. Nur Julius lag auf dem Rücken und blies kleine Wölkchen in die kühle Luft.
Klara setzte sich auf, beugte sich über die Quelle und nahm einen Schluck von dem köstlichen, kalten Wasser. Mit einem Mal fiel ihr Blick auf etwas Rotes, das durch die weiße Schneedecke schimmerte. Sie stutzte und rieb