VON MATTHÄUS
BIS OFFENBARUNG
Das Neue Testament verstehen
MATTHÄUS
MARKUS
LUKAS JOHANNES
APOSTELGESCHICHTE
BRIEFE DES PAULUS ÜBRIGE BRIEFE
OFFENBARUNG
Über den Autor
Dr. Paul Benware ist Bibellehrer, Theologe, Prediger, Konferenzredner und ein Autor, der sich leidenschaftlich für die Lehre und Ausbildung der Gemeinde Jesu Christi einsetzt. Als konservativer Theologe ist er der Lehre der Heiligen Schrift als dem vollständig inspirierten Wort Gottes verpflichtet. Es ist ihm ein großes Anliegen, dass die Gemeinde die Wahrheiten der biblischen Prophetie lernt, kennt und lebt.
Paul N. Benware
Von Matthäus bis Offenbarung
Das Neue Testament verstehen
Best.-Nr. 271899
ISBN 978-3-86353-899-6
Christliche Verlagsgesellschaft mbH
Am Güterbahnhof 26 | 35683 Dillenburg info@cv-dillenburg.de
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Missionswerk Mitternachtsruf
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Titel des amerikanischen Originals: Survey of the New Testament © Copyright 1990 by Paul N. Benware Published by Moody Press, Chicago. Translated by permission.
Bibelzitate nach der Revidierten Elberfelder Übersetzung, R. Brockhaus Verlag, Witten und Basel
3. Auflage 2025
© 2007–2025 Christliche Verlagsgesellschaft mbH
Übersetzung: Brigitte Hahn, Hanau
Satz: Enns Schrift & Bild, Bielefeld Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft mbH Umschlagmotiv: © pixabay.com/everton_ribas (Krone), OpenClipart-Vectors (Hände, Kirche), BedexpStock (Lamm), Aruna Khudan (Briefumschlag); Christliche Verlagsgesellschaft mbH (Krippe, Schlüsselloch)
CPI Books GmbH, Leck
Printed in Germany
Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gern kontaktieren: info@cv-dillenburg.de
Teil 1
Einführung, Überblick, Hintergrund: Der Neue Bund wird angekündigt
1. Einführung in das Neue Testament
2. Überblick über das Neue Testament
3. Der Hintergrund des Neuen Testaments
Teil 2
Die Evangelien: Der Neue Bund wird eingesetzt
4. Ein Blick auf die Evangelien
5. Matthäus
6. Markus
Teil
Zweite Gruppe: Die großen Briefe des Apostels Paulus
Zweite Gruppe: Die größeren Briefe des Apostels Paulus
14. Der erste Brief an die Korinther .
14. Der erste Brief an die Korinther
15. Der zweite Brief an die Korinther
15. Der zweite Brief an die Korinther
16. Der Brief an die Römer
16. Der Brief an die Römer
Dritte Gruppe: Die Gefängnisbriefe des Apostels Paulus
Dritte Gruppe: Die Gefängnisbriefe des Apostels Paulus
17. Der Brief an die Epheser
18. Der Brief an die Kolosser
17. Der Brief an die Epheser
18. Der Brief an die Kolosser
19. Der Brief an Philemon . .
19. Der Brief an Philemon
20. Der Brief an die Philipper
20. Der Brief an die Philipper
Vierte Gruppe: Die Pastoralbriefe
21. Der erste Brief an Timotheus
Vierte Gruppe: Die Pastoralbriefe des Apostels Paulus
22. Der Brief an Titus
21. Der erste Brief an Timotheus
22. Der zweite Brief an Timotheus .
22. Der Brief an Titus
22. Der zweite Brief an Timotheus
24. Der Brief des Jakobus
25. Der Brief an die Hebräer
26. Der erste Brief des Petrus
27. Der zweite Brief des Petrus
28. Der Brief des Judas
29. Der erste
30. Der zweite Brief des
C.
E INFÜHRUNG IN DAS NEUE TESTAMENT
Warum dieses Buch zum Bibelstudium wichtig ist
Das Neue Testament ist die Fortsetzung der Geschichte, die im Alten Testament begonnen hat. Es ist der wundersame Höhepunkt der göttlichen Offenbarung an die Menschheit. Im Alten Testament hatte Gott den Menschen Segen und Erlösung durch den Messias verheißen, und im Neuen Testament wird berichtet, wie Gott sein Versprechen wahr machte. Ohne die 27 Bücher des Neuen Testaments gäbe es eine große Unsicherheit über die Verheißungen und Absichten Gottes und viele wichtige Fragen wären unbeantwortet geblieben.
Das Neue Testament hat einen viel geringeren Umfang als das Alte, und es berichtet über einen weitaus kürzeren Zeitraum, aber über die bedeutsamste Ära in der Menschheitsgeschichte – über jene Jahre, in denen Gott Mensch wurde und einer verlorenen Menschheit die Erlösung brachte. Das Neue Testament ist es wert, dass man es zum Gegenstand eines lebenslangen Studiums macht, weil es die wichtigsten Fragen des Menschen beantwortet, wie zum Beispiel die Frage nach dem Sinn des Lebens, oder die Frage, ob es eine echte Hoffnung gibt, oder die Fragen: Wie ist Gott? Kann ich von Schuld und Sünde frei werden? Werde ich geliebt? Jesus Christus, das Wort Gottes, ist die personifizierte Antwort auf diese Fragen.
Vergleich der beiden Testamente
Altes Testament
Neues Testament
39 Bücher 27 Bücher
929 Kapitel
deckt mehr als 4000 Jahre ab
mehr als 31 Schreiber
260 Kapitel
deckt ca. 100 Jahre ab
ca. 9 Schreiber
Wozu dieses Buch dient
Dieses Buch soll dem Bibelleser dabei helfen, einen Überblick zu gewinnen über den Inhalt, die Einheit und die fortschreitende Offenbarung des Neuen Testaments. Um den Inhalt des Neuen Testaments zu verstehen, wird jedes der 27 Bücher auf die darin enthaltenen Leitmotive und Schwerpunkte hin untersucht. Obwohl nicht jeder einzelne Vers studiert werden kann, hat der Leser die Möglichkeit, die Hauptideen und einzigartigen Merkmale eines jeden Buches zu entdecken. Um ein Gespür für die Einheit des Neuen Testaments zu bekommen, wird ein Schwerpunkt auf dem Neuen Bund liegen, denn dieser ist das große Leitmotiv des Neuen Testaments (siehe dazu das Schaubild auf S. 18). Dabei ist zu beachten, dass der Begriff »Neues Testament« eigentlich »neuer Bund« bedeutet.
Mit diesem Buch soll es dem Bibelleser auch ermöglicht werden, den logisch fortschreitenden Aufbau des Neuen Testaments zu erkennen. Für viele ist das Neue Testament eine Sammlung von Geschichten, Predigten und Lehrbriefen, zwischen denen es keine eindeutige, logisch nachvollziehbare Verbindung gibt. In diesem Buch wird etwas von der schlüssigen Logik des Neuen Testaments aufgezeigt.
Die Vorgehensweise dieses Buches
Das Neue Testament besteht aus 27 Büchern. Vier von ihnen (die Evangelien) berichten über das Leben und den Dienst Jesu Christi. Etwa ein Drittel des gesamten Neuen Testaments findet sich in den Evangelien. Es ist nicht nur wichtig, den Schwerpunkt jedes einzelnen Evangeliums zu verstehen, sondern auch alle vier Berichte der Evangelisten in ihrer Gesamtheit zu sehen, um das Muster und den fortschreitenden Verlauf im Leben Jesu Christi zu erkennen. Deshalb enthält dieses Buch auch einen chronologischen Abriss über das Leben Christi, in dem die vier Evangelien miteinander in Einklang gebracht werden.
Im Neuen Testament folgt die Apostelgeschichte auf die Evangelien. Man könnte sie auch als neutestamentliches Buch der »Kirchengeschichte« bezeichnen. Viele Briefe des Neuen Testaments haben
ihre historischen Ursprünge in der Apostelgeschichte. Deshalb werden in diesem Studienbuch diese Briefe mit den Berichten in der Apostelgeschichte verknüpft. Wenn man die Briefe mit ihrer historischen Grundlage verbindet, wird die innere Ordnung des Neuen Testaments deutlicher erkennbar.
Dem Studium der neutestamentlichen Bücher wird immer die dafür erforderliche Hintergrundinformation vorangestellt. Um die Evangelien und die neutestamentlichen Briefe besser verstehen zu können, muss man sich ein wenig vertraut machen mit den politischen Kräften, Institutionen, Bewegungen und Ideen, die zur römischen Welt des ersten Jahrhunderts gehörten. Genauso wichtig ist ein Rückblick auf die Zeit zwischen den Testamenten und die darin stattgefundenen Ereignisse, die einen Einfluss auf die Zeit des Neuen Testaments hatten.
Diese Studie des Neuen Testaments schließt mit einer Betrachtung über die Offenbarung und zusätzlichen, in den Anhängen behandelten Themen.
Die für dieses Buch verwendete Gliederung des Neuen Testaments hat folgende Struktur:
I. Die Evangelien: Der Neue Bund wird eingeführt
A. Matthäus
B. Markus
C. Lukas
D. Johannes
II. Die Apostelgeschichte: Der Neue Bund wird erzählt
III. Die Briefe der Apostel: Der Neue Bund wird erklärt
A. Die paulinischen Briefe
1. Erste Gruppe: Die frühen Briefe des Apostels Paulus
a. Der Brief an die Galater
b. Der erste Brief an die Thessalonicher
c. Der zweite Brief an die Thessalonicher
2. Zweite Gruppe: Die größeren Briefe des Apostels Paulus
a. Der erste Brief an die Korinther
b. Der zweite Brief an die Korinther
c. Der Brief an die Römer
3. Dritte Gruppe: Die Gefängnisbriefe des Apostels Paulus
a. Der Brief an die Epheser
b. Der Brief an die Kolosser
c. Der Brief an Philemon
d. Der Brief an die Philipper
4. Vierte Gruppe: Die Pastoralbriefe des Apostels Paulus
a. Der erste Brief an Timotheus
b. Der Brief an Titus
c. Der zweite Brief an Timotheus
B. Die anderen Briefe
1. Der Brief des Jakobus
2. Der Brief an die Hebräer
3. Der erste Brief des Petrus
4. Der zweite Brief des Petrus
5. Der Brief des Judas
6. Der erste Brief des Johannes
7. Der zweite Brief des Johannes
8. Der dritte Brief des Johannes
IV. Die Offenbarung: Der Neue Bund wird erfüllt
2
ÜBERBLICK ÜBER DAS
NEUE TESTAMENT
Das Neue Testament erzählt die Geschichte vom erlösenden Handeln Gottes an einer verlorenen, in Sünde verstrickten Menschheit. Es berichtet über die Einführung des Neuen Bundes, des Weges, den Gott zur Rettung der verlorenen Menschheit eingeschlagen hat. Im Alten Testament (vgl. Jer 31,31-34) hatte Gott bereits diesen »neuen Bund« mit seinem Volk Israel verheißen. Der Messias sollte diesen Bund ins Leben rufen, mit Schwerpunkt auf dem geistlichen Leben und der Erlösung Israels. Als die neutestamentliche Offenbarung fortschritt, wurde deutlich, dass der Neue Bund über Israel hinaus die gesamte Menschheit erreichen sollte (vgl. 1Mo 12,3; Lk 22,20; Hebr 8,6-13). Mit dem Neuen Bund hat Gott die Errettung gewährleistet, und zwar für verlorene Menschen, die sich selbst nicht retten können. Jesus Christus, der Messias Israels, besiegelte diesen Bund mit seinem Opfertod am Kreuz.
Die Evangelien
Die Geschichte des Neuen Testaments beginnt mit den vier Evangelien, den Berichten über die Menschwerdung Jesu Christi, sein Leben und seinen Dienst. Durch sein sündloses Leben, seine Vollmacht beim Lehren und die Bestätigung seines Dienstes durch Wunder stellte er unter Beweis, dass er der Messias, der Sohn Gottes, war. Sein Leben endete, als er es freiwillig am Kreuz von Golgatha hingab. Mit diesem Opfertod am Kreuz wurde Gottes »neuer Bund« eingesetzt, weil es den Menschen dadurch möglich wurde, von ihrer Sünde frei zu werden und in einer persönlichen Beziehung zu Gott zu leben.
Die Apostelgeschichte
Nach seiner Auferstehung sprach Christus mit seinen Jüngern über ihren Auftrag. Sie sollten der ganzen Welt vom neuen Bund erzählen. Es war ihre freudige Pflicht, sowohl Juden als auch Nichtjuden zu verkünden, dass jeder errettet und mit Gott versöhnt werden kann, weil Jesus stellvertretend für jeden Menschen am Kreuz gestorben ist.
Die Apostelgeschichte berichtet über die Verbreitung dieser guten Nachricht in den ersten drei Jahrzehnten nach der Auferstehung Christi.
Die Briefe
Die Briefe des Neuen Testaments beschreiben die lehrmäßige Wahrheit in Verbindung mit dem Neuen Bund. Diese 21 Briefe enthalten alles, was Christen über ihr Leben als »Menschen des Neuen Bundes« wissen müssen. Christen, die im neuen Zeitalter der Gemeinde Jesu leben, müssen nicht mehr den Forderungen des »alten Bundes« (des Gesetzes, das von Mose gegeben wurde) entsprechen. Vielmehr findet sich ihre Lebensregel in der neuen Offenbarung, die Gott in den neutestamentlichen Briefen niederlegen ließ. Diese Briefe beinhalten die Gebote, Grundsätze und Maßstäbe für jene Menschen, die in der »neuen«, auf dem Werk Christi am Kreuz aufbauenden Beziehung zu Gott leben wollen.
Die Offenbarung
Den Abschluss des Neuen Testaments bildet das Buch der Offenbarung, der Bericht über die endgültige, herrliche Verwirklichung des Neuen Bundes. Die Offenbarung bestätigt uns, dass Gott wirklich souverän ist und seine zahlreichen Verheißungen für gläubige Israeliten und Nichtjuden gleichermaßen erfüllen wird. Die Menschen, die durch den Neuen Bund das ewige Leben empfangen haben, werden in der himmlischen Herrlichkeit und auf der neuen Erde die Ewigkeit mit dem Herrn verbringen. Diejenigen jedoch, die sich weigern, durch
Überblick über das Neue Testament
den Glauben an den Erlöser Jesus Christus in den Neuen Bund einzutreten, werden ihm als dem souveränen Richter gegenüberstehen und für immer in den Feuersee verbannt werden.
Exkurs: Der Neue Bund
Der Neue Bund ist eine Erweiterung des bedeutenden Bundes Gottes mit Abraham und eines der drei »untergeordneten Bündnisse«, die jene ursprünglich für Abraham bestimmten göttlichen Verheißungen weiter umreißen (1Mo 12,1-3; 13,14-17; 15,1-21; 17,1-22; 22,15-18). Im Neuen Bund geht es hauptsächlich um die Frage der Erlösung. Nach dem Sündenfall und dem Eindringen der Sünde in die Welt war es die erklärte Absicht Gottes, den Menschen die Erlösung zu bringen. Aus den neutestamentlichen Schriften geht eindeutig hervor, dass die Tieropfer des Alten Testaments die Sünde nur bedecken (»sühnen«), aber nicht wegnehmen konnten (vgl. Hebr 9,11-15.24-28; 10,4-14).
Nur das Blut Christi kann die Sünde beseitigen und sündhaften Menschen (sowohl Israeliten als auch anderen) die Gemeinschaft mit einem heiligen Gott ermöglichen. Jesus sprach von seinem Tod als dem Fundament des Neuen Bundes (Lk 22,20). Im Alten Testament galt der Neue Bund ursprünglich für Israel und Juda (Jer 31,31-34), aber im jetzigen Zeitalter der Gemeinde findet er seine Anwendung hauptsächlich auf Nichtjuden (2Kor 3,1-18; Hebr 8,8-13). Wegen der göttlichen Verheißungen für Abraham und seine Nachkommen wird in der Zukunft jedoch Israel zum Dreh- und Angelpunkt des Neuen Bundes (vgl. Dan 9,24; Röm 11,25-27). Während der großen Trübsal werden Israel die Augen geöffnet werden. Viele werden zum Glauben an den Messias kommen und so am Neuen Bund teilhaben.
DER HINTERGRUND DES NEUEN TESTAMENTS
Wenn man das Neue Testament aufschlägt, wird schnell deutlich, dass sich seit dem Abschluss des Alten Testaments vieles geändert hat. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, die Welt Jesu und der Apostel sei dieselbe gewesen wie die von Esra, Nehemia und Maleachi. Vieles war ganz anders. Deshalb müssen wir uns einige dieser Veränderungen vergegenwärtigen, bevor wir uns mit dem Text des Neuen Testaments befassen können.
Der Abschluss des Alten Testaments
Das Alte Testament ist unter anderem auch ein Bericht über das Versagen des Volkes Israel gegenüber seinem Gott. Israel verstieß wiederholt gegen die göttlichen Gebote, bis Gott sein Volk züchtigte und es nach Babylon in die Gefangenschaft schickte. Nach siebzig Jahren im Exil erlaubte Gott seinem Volk die Rückkehr ins Land und den Wiederaufbau der Nation. Männer wie Esra, Nehemia, Haggai und Maleachi waren an dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt. Als jedoch das Alte Testament mit dem historischen Bericht von Nehemia und dem prophetischen Buch von Maleachi zum Abschluss kam, begann der Niedergang des geistlichen Lebens in Israel. Die letzte Botschaft Gottes durch den Propheten Maleachi war vor allem ein Tadel am sündhaften Verhalten Israels, aber darin war auch die Verheißung enthalten, dass eines Tages der Herr und sein Wegbereiter kommen würden (Mal 3,1; 4,5-6). Es sollte jedoch noch etwa vierhundert Jahre dauern, bis sich diese Verheißung erfüllte und Johannes der Täufer das Kommen des Herrn Jesus Christus ankündigen sollte.
Die Zeit zwischen den Testamenten
Die Zeit zwischen Altem und Neuem Testament wird auch oft als die »vierhundert Jahre des Schweigens« bezeichnet. Diese Bezeichnung ist zutreffend, wenn es um die Stimme Gottes geht, weil in diesem Zeitraum kein biblisches Buch niedergeschrieben wurde und keine direkte göttliche Offenbarung durch die Propheten geschah. Diese vierhundert Jahre waren keine Zeit des Schweigens in dem Sinne, dass wir keine Informationen über diese Zeit hätten. Es ist in jenem Zeitraum vieles geschehen. Diese Ereignisse sind gut dokumentiert, und sie hatten Auswirkungen auf das Leben der Menschen in der Zeit des Neuen Testaments. Deshalb ist es wichtig, uns einen kurzen Einblick in diese Zeit zu verschaffen.
Vierhundert Jahre schwiegen die Propheten
Babylonisches Exil
Esra Nehemia
Haggai Sacharja
DER
Maleachi
Die Evangelien 400 Jahre
Johannes der Täufer
GESCHICHTLICHE HINTERGRUND DES NEUEN TESTAMENTS
Die Zeit der Perser (539 bis 331 v. Chr.)
Die Unabhängigkeit des Reiches Juda endete, als es im Jahr 605 v. Chr. von den Heeren des babylonischen Königs Nebukadnezar überrannt wurde. Danach hatten die Juden zwar noch etwa zwanzig Jahre lang einen König, aber er erhielt seine Befehle von den Babyloniern. Im Jahr 586 v. Chr. planten die Juden einen Aufstand gegen Babylon, aber dieser Versuch scheiterte und führte zur Zerstörung der Stadt Jerusalem. Der Tempel wurde geplündert und niedergebrannt, und viele Menschen wurden in die Gefangenschaft nach Babylon geführt. In den darauf folgenden fünfzig Jahren blieben die
Juden unter der Herrschaft der Babylonier (vgl. 2Kö 24,1-25,30; Jer 39,1-18).
Als die Perser und deren Verbündete im Jahr 539 v. Chr. den Babyloniern die Weltherrschaft entrissen, gerieten die Juden unter persischen Einfluss. Sie wurden von den Persern relativ gut behandelt, weil sie offenbar deren Gunst genossen. Das könnte daran gelegen haben, dass beide Völker dem Monotheismus anhingen. Der persische König Cyrus erlaubte den Juden die Rückkehr in ihr Land und erteilte ihnen die Genehmigung zum Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem (Esr 1,1-4). Mit der Unterstützung der Propheten Haggai und Sacharja wurden Widerstände und Probleme überwunden, und so wurde der Bau des Tempels 516 v. Chr. vollendet (Esr 1,5–6,22). Später, unter der Führung von Esra (458 v. Chr.) und Nehemia (444 v. Chr.), kehrten weitere Juden aus der Gefangenschaft zurück und bauten die Mauern Jerusalems. Mit Hilfe des Propheten Maleachi versuchten diese Führungspersönlichkeiten, eine moralische und geistliche Reform herbeizuführen. Obwohl sie mit ihren Bemühungen nicht auf allen Gebieten erfolgreich waren, war ihr Einfluss im Israel der Zeit zwischen den Testamenten groß. Unter ihrer Führung spielte das Wort Gottes in der Bevölkerung eine wichtigere Rolle als vorher. Die Prinzipien des göttlichen Gesetzes wurden konsequent auf das Alltagsleben angewendet. Obwohl die meisten Juden sich in diesen vier Jahrhunderten vom Gesetz Gottes abwandten, gab es doch einige, die am göttlichen Wort festhielten und sich gegen Kompromisse mit heidnischen Einflüssen wehrten.
Die Zeit der Griechen (331-143 v. Chr.)
a. Alexander der Große (331-323 v. Chr.)
Alexander der Große stieg zur Macht auf und führte sein griechisches Heer zu einem raschen und vollständigen Sieg über die Perser. Nachdem er den Persern in Kleinasien eine Niederlage bereitet hatte, marschierte er in Israel ein, und so hatten die Juden einen neuen Herrscher. Sie wehrten sich nicht gegen diese Herrschaft Alexanders, und er behandelte sie gut dafür. Alexanders Eroberungszüge führten zur schnellen und weiten Verbreitung des Hellenismus (der griechischen Kultur). Diese Kultur prägte überall das Leben der Menschen, auch in
Israel. Die griechische Sprache wurde für die Verständigung in Handel und Diplomatie verwendet, und bis zur Zeit des Neuen Testaments war sie auch für einfache Menschen zur Umgangssprache geworden. Diese beinahe universale Sprache sollte in jener Epoche zu einem bedeutenden Faktor für die rasche Verbreitung des Evangeliums von Jesus Christus werden.
Als Alexander im Alter von nur 33 Jahren starb (323 v. Chr.), zerfiel sein Riesenreich in vier Teile. Weil Alexander keinen Erben hatte, der alt genug für die Thronfolge war, teilten schließlich vier seiner Generäle das Reich unter sich auf. Von diesen vier sind nur zwei (Ptolemäus und Seleukus) für unsere Betrachtung über die Hintergründe des Neuen Testaments von Bedeutung. Das Reich des Ptolemäus hatte seinen Mittelpunkt in Ägypten, das des Seleukus in Syrien.
b. Die Ptolemäer (321-198 v. Chr.)
Bei der Teilung von Alexanders Reich wurde das Land Israel zu einem Teil des Gebietes von Ptolemäus. Die Ptolemäer herrschten über ein Jahrhundert lang über die Juden, die in dieser Zeit ein Leben in Frieden und Wohlstand führten, obwohl Israel durch regelmäßig wiederkehrende Kriege zum Kriegsgebiet wurde, mit den damit verbundenen negativen Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft. Aber sogar in diesen schwierigen Zeiten erfuhren die Juden häufig eine bevorzugte Behandlung, weil beide Seiten um ihre Unterstützung warben. Während der Regierungszeit von Ptolemäus Philadelphus (285-247 v. Chr.) fand ein wichtiges Ereignis statt. Er ließ das hebräische Alte Testament von jüdischen Gelehrten in die griechische Sprache übersetzen, um den Bedürfnissen von Juden gerecht zu werden, die in der Kultur des Hellenismus aufgewachsen waren. Viele von den in Alexandria, Ägypten, geborenen Juden verstanden die griechische Sprache besser als das Hebräische. Diese Bibelübersetzung, die man als Septuaginta bezeichnete, wurde zu einem wichtigen Dokument der jüdischen Gemeinwesen außerhalb Israels. Später war sie die Bibel der frühen christlichen Gemeinde.
c. Die Seleukiden (198-143 v. Chr.) Kriege und Intrigen prägten das Verhältnis zwischen den Ptolemäern und den Seleukiden. Mit Hilfe einer starken jüdischen Gruppierung
Der Hintergrund des Neuen Testaments
besiegte Antiochus III. von Syrien im Jahr 198 v. Chr die Ptolemäer und trieb sie zurück nach Ägypten. Nach diesem Sieg erfuhr der Hellenismus in Israel eine rasche Verbreitung. Diese Entwicklung ging unter Antiochus IV. (Epiphanes) weiter. Antiochus IV. förderte nicht nur den Hellenismus unter den Juden, sondern er griff auch die jüdische Religion und Kultur an.
»Der syrische König Antiochus IV. oder Epiphanes (175-163 v. Chr.) tauschte den jüdischen Hohenpriester Onias III. gegen dessen Bruder Jason ein, einen Anhänger des Hellenismus, der aus Jerusalem eine griechische Stadt machte. Eine Sporthalle mit einer dazugehörigen Rennbahn wurde errichtet. Dort trainierten jüdische Jünglinge unbekleidet, wie es bei den Griechen üblich war, aber für fromme Juden war so etwas anstößig. Die Wettrennen wurden mit Gebeten zu heidnischen Göttern eröffnet. Sogar jüdische Priester nahmen an solchen Veranstaltungen teil. Die Hellenisierung beinhaltete auch den Besuch von griechischen Theatern, die Übernahme der griechischen Mode, das operative Rückgängigmachen der Beschneidung und die Verwendung von griechischen anstelle von hebräischen Namen.«1
»Der Tempel wurde seiner Schätze beraubt und in ein Heiligtum für den olympischen Zeus umgewandelt. Am 15. Dezember 168 v. Chr. wurde auf dem Altar ein Bildnis des Gottes aufgestellt. Zehn Tage später wurde ihm zu Ehren ein Schwein geopfert. Überall im Land wurden Altäre für heidnische Götter errichtet, und die Beachtung heidischer Festtage wurde zur Pflicht gemacht. Das Judentum wurde vollständig geächtet. Die Todesstrafe drohte denjenigen, die die Thora besaßen oder lasen. Die Einhaltung des Sabbats und die Beschneidung wurden verboten.«2
So boshaft war Antiochus IV., dass er in der Bibel als Bild für den in der Endzeit erwarteten Antichristen verwendet wird. Die Situation damals war natürlich unerträglich für jene fromme Juden, die treu am Gesetz Gottes festhielten. Deshalb war eine Rebellion gegen die syrischen Seleukiden unausweichlich. Diese Revolte begann, als Mattatias, ein bedeutender Priester aus der Stadt Modein, sich einem syrischen Hofbeamten widersetzte, als dieser nach Modein
kam, um die Bewohner zu heidnischen Opferriten zu zwingen. Der mutige Mattatias verweigerte dem Vertreter des Königs nicht nur den Gehorsam, sondern tötete sogar einen Juden, der bereit war, dieses Opfer darzubringen.
»Kaum hatte er das gesagt, da trat vor aller Augen ein Jude vor und wollte auf dem Altar von Modein opfern, wie es der König angeordnet hatte. Als Mattatias das sah, packte ihn leidenschaftlicher Eifer; er bebte vor Erregung und ließ seinem gerechten Zorn freien Lauf: Er sprang vor und erstach den Abtrünnigen über dem Altar. Zusammen mit ihm erschlug er auch den königlichen Beamten, der sie zum Opfer zwingen wollte, und riss den Altar nieder; der leidenschaftliche Eifer für das Gesetz hatte ihn gepackt …«3
Mattatias erkannte, was für ernste Folgen seine Taten haben würden, und so floh er mit seinen fünf Söhnen und anderen gottesfürchtigen Juden in die Berge. Kurz darauf starb er, aber die Bewegung wurde von seinem Sohn Judas (der auch bekannt war unter dem Beinamen »Makkabäus«, was übersetzt »der Hammer« bedeutet) weitergeführt.
Unter der Führung von Judas errangen die Rebellen große Erfolge. Anfänglich führten die Juden einen Guerillakrieg. Dadurch war es den Streitkräften von Antiochus IV. so gut wie unmöglich, die Revolte einzudämmen. »Diese Siege erkämpfte Judas mit stark unterlegenen Truppen, nur durch seine Strategie und seinen religiösen Enthusiasmus.«4 Drei Jahre, nachdem Antiochus IV. in Jerusalem den Tempel entweiht hatte, fügten Judas und seine Truppen den Syrern eine entscheidende Niederlage zu. Sie konnten Jerusalem wieder einnehmen und den Tempel neu einweihen (im Dezember 165 v. Chr.). Schließlich wurde im Jahr 143 v. Chr. mit den Syrern ein Friede geschlossen, und die Juden hatten ihre Unabhängigkeit wieder.
Die Zeit der Hasmonäer (143-63 v. Chr.)
Simon, ein Bruder von Judas, war der erste Herrscher des unabhängigen jüdischen Staates. (Hier ist zu beachten, dass der Ausdruck Hasmonäer sich vom Familiennamen des Mattatias, nämlich Hasmon,
ableitet.) Simon wurde auf Lebenszeit zum Hohenpriester und zur politischen Führungsfigur der Juden erklärt. Dieser Akt verlieh dem Amt des Hohenpriesters neue Macht, da es sowohl religiöse als auch politische Autorität in sich vereinte. (Der Machtzuwachs im Amt des Hohenpriesters ist in der Zeit Jesu und der Apostel deutlich erkennbar.) Die Regierungszeit von Simon war kurz, aber für die Juden sehr förderlich. »Mit Rom wurde ein Vertrag ausgehandelt, der 139 v. Chr. rechtsgültig wurde. Darin wurde die Unabhängigkeit des jüdischen Staates anerkannt und den Untertanen und Verbündeten von Rom zur Freundschaft anempfohlen. Die wirtschaftliche Lage verbesserte sich, in den Gerichten wurde gewissenhaft Recht gesprochen, und das religiöse Leben der Juden erwachte neu.«5 Leider war die Zeit der Hasmonäer jedoch weitgehend geprägt von Machtkämpfen und Konflikten. Verschiedene Interessengruppen innerhalb des jüdischen Staates hatten sehr unterschiedliche Ansichten, und die Neigung zur Uneinigkeit war stets vorhanden.
Simon und zwei seiner Söhne wurden ermordet, aber Johannes Hyrcanus, ein weiterer Sohn, wurde zur politisch-religiösen Führungsfigur. Johannes Hyrcanus tat viel, damit die Position des neuen jüdischen Staates weiter gestärkt wurde. Er war ein fähiger militärischer Befehlshaber. Unter seiner Führung wurde Territorium zurückerobert, das einst den Juden gehört hatte. Er besiegte die Syrer, Samaritaner, Edomiter und Idumäer. In mancher Hinsicht war seine Zeit für die Juden eine Blütezeit. Aber nicht alle politischen Entscheidungen, die Johannes Hyrcanus traf, fanden den Beifall des Volkes. Diese Differenzen führten später zu Konflikten und Bürgerkriegen. So schloss Johannes Hyrcanus beispielsweise ein Bündnis mit Rom. Für die Befürworter einer staatlichen Eigenständigkeit (dazu gehörte auch die neu entstehende Partei der Pharisäer) war diese Maßnahme ein Affront gegen ihren Glauben und ihre religiösen Überzeugungen. Dann zwang Johannes Hyrcanus den Idumäern das Judentum auf. Für bestimmte Gruppierungen kam dies einer Verunreinigung der besonderen Bundesbeziehung zwischen den Juden und Gott gleich. Darüber hinaus wollten viele Juden den Anspruch der Hasmonäer auf das Priestertum nicht anerkennen, weil sie wussten, dass diese keine Nachkommen von Aaron waren. Möglicherweise wollte Johannes Hyrcanus sogar das Königtum für sich beanspruchen, obwohl er nicht aus dem Geschlecht Davids stammte.6 Diese Probleme wurden mit seinem
Tod im Jahr 106 v. Chr. nicht gelöst. Innere Streitigkeiten gehörten im neuen jüdischen Staat zum Alltag, bis sie 63 v. Chr. ihren Höhepunkt erreichten. In jenem Jahr griff ein römisches Heer in einen Bürgerkrieg ein, der von zwei Angehörigen der Hasmonäer-Dynastie ausgefochten wurde. Die Römer konnten den Konflikt beenden, aber mit diesem Eingreifen begann auch ihre Vorherrschaft.
Die Zeit der Römer (63 v. Chr. bis zum Neuen Testament)
Die Herrschaft der Römer begann mit ihrer Intervention im Jahr 63 v. Chr., als Johannes Hyrkanus II. von Rom als König eingesetzt wurde. Es war jedoch offensichtlich, dass nicht diesem König, sondern Rom die wahre Macht gehörte. Noch während der Regierungszeit von Hyrcanus II. gewann ein Idumäer namens Antipater die Gunst der Römer. Antipater gelang es, seinen Söhnen Machtpositionen in Israel zu verschaffen. Einer seiner Söhne war Herodes der Große. Er sollte schließlich zum König ernannt und in Israel eine alles beherrschende Rolle spielen. Er regierte von 37-4 v. Chr. Herodes der Große war ein Mann mit vielen Begabungen, aber auch mit vielen Lastern.
»Die Geschichte vom Aufstieg des Reiches von König Herodes ist ein Drama, bestehend aus außerordentlichen politischen Winkelzügen, begleitet von einer Abfolge abscheulicher Verbrechen, deren Motive meistens einer Eifersucht im Herzen von Herodes entsprangen und die hauptsächlich gegen seine eigene Familie gerichtet waren. Mit außergewöhnlichem Geschick gewann und behielt er die Gunst mehrerer römischer Kaiser. Dabei ging er äußerst skrupellos vor … In seiner Regierungszeit folgte ein ungeheuerliches Verbrechen auf das andere.«7
Das Leben und die Herrschaft von Herodes dem Großen bringen uns direkt in die Zeit des Neuen Testaments, weil eines seiner letzten »ungeheuerlichen Verbrechen« (der Kindermord in Bethlehem) im Matthäusevangelium festgehalten ist. Die Familie von Herodes spielte weiter eine bedeutende Rolle in der Zeit Jesu und der Urgemeinde. In der nachfolgenden Aufstellung sind die im Neuen Testament erwähnten Angehörigen aus der Familie des Herodes aufgeführt.
Die herodianischen Herrscher in der Bibel
NameRegierungszeit
Herodes der Große
Herodes Antipas
Herrschaftsgebiet
Verwandtschaftliche Beziehung zu Herodes
37 bis 4 v. Chr.König von Israel–
4 v. Chr. bis 39 n. Chr.
Archelaus4 v. Chr. bis 6 n. Chr.
Herodes Philippus II.
Herodes Agrippa I.
Herodes Agrippa II.
Weitere, im Neuen Testament erwähnte Verwandte des Herodes: Herodes Philippus I. (Mk 6), Herodius (Mk 6), Drusilla (Apg 24), Bernice (Apg 25). Von ihnen war niemand König oder Herrscher. Der Hintergrund des Neuen Testaments
4 v. Chr. bis 34 n. Chr.
37 bis 44 n. Chr.
48 bis 70 n. Chr.
Tetrarch von Galiäa, Perea
Ethnarch von Judäa, Samaria, Idumäa
Tetrarch von Iturea, Trachonitis
Sohn
Sohn
Sohn
König von IsraelEnkel
Tetrarch von Chalkis, anderen Gebieten
Urenkel
Erwähnung in der Bibel
Matthäus 2,1; Lukas 1,5
Lukas 3,1; 13,31; 23,7
Matthäus 2,22
Lukas 3,1
Apostelgeschichte 12,1-23
Apostelgeschichte 25,26
DER RELIGIÖSE HINTERGRUND DES NEUEN TESTAMENTS
Wie es in der heutigen Gesellschaft eine Vielzahl von religiösen Systemen und Ideen gibt, war das auch der Fall in der Zeit des Römischen Reiches. Christen, die Apostel und die frühe Gemeinde sahen sich einem breiten Spektrum von Religionen und Philosophien gegenüber. Ein kurzer Abriss über diese Ideen ist erforderlich für unser Verständnis des religiösen Rahmens, in dem das Leben und der Dienst des Herrn Jesus und der Apostel stattfanden.
Religionen und Philosophien in der römischen Welt
a. Die griechisch-römische Götterwelt Als sich das Römische Reich weiter ausbreitete, fand eine immer engere Verbindung und zunehmende Assimilation mit der griechischen
Kultur und Religion statt. Die vielen Götter und Göttinnen Roms fanden bald ihre Entsprechungen in der griechischen Götterwelt. So wurde Venus, die römische Liebesgöttin, mit ihrem griechischen Gegenstück Aphrodite identifiziert, Mars mit Ares, Diana mit Artemis, Jupiter mit Zeus usw.
Zur Zeit des Neuen Testaments erlebte die Anbetung dieser Vielzahl von Göttern und Göttinnen einen Niedergang. Die Machtkämpfe, Intrigen und das unmoralische Verhalten dieser Gottheiten, zusammen mit ihrer offenkundigen Unfähigkeit, denen, die sie verehrten, zu helfen, waren die Ursachen für diesen Rückgang des Glaubens unter den Bewohnern des Römischen Reiches. Viele Philosophen und Lehrer hinterfragten und verhöhnten diese Götterwelt. Dennoch hielten einige noch immer an der Verehrung der alten Götter fest. Aber bis zu dem Zeitpunkt, als die Gemeinde Jesu in der römischen Welt Fuß fasste, war die Zahl dieser traditionell Denkenden deutlich zurückgegangen. Im Neuen Testament wird die griechisch-römische Götterwelt an mehreren Stellen erwähnt. In Apostelgeschichte 14 heilten Paulus und Barnabas einen Gelähmten. Die Priester an diesem Ort setzten die beiden sofort mit den Göttern Hermes (Merkur) und Zeus (Jupiter) gleich. Apostelgeschichte 19 berichtet uns von einem wilden Aufstand von Anhängern der Göttin Diana (Artemis). Eine seiner berühmten Predigten hielt Paulus auf dem Marshügel, der nach einem dieser Götter benannt war.
b. Der Kaiserkult
Lange bevor Rom zur Weltherrschaft gelangte, hatten andere Völker ihre Herrscher zu Göttern erhoben. Weil diese antiken Reiche dem Polytheismus (der Vielgötterei) anhingen, war es keine große Sache, einer Vielzahl von Göttern einen weiteren hinzuzufügen. Deshalb war der Kaiserkult Roms nichts Außergewöhnliches. Zunächst wurden römische Kaiser nach ihrem Tod durch einen Beschluss des Senats zur Gottheit erhoben. Aber im ersten Jahrhundert n. Chr. beanspruchten einige, wie z. B. Kaiser Nero, diesen Status schon zu Lebzeiten. Natürlich wollten Christen weder tote noch lebende Kaiser anbeten; und diese Weigerung, sich am Kaiserkult zu beteiligen, führte zur Verfolgung der frühen Gemeinde Jesu. Für die Römer ging es bei dieser Sache nicht nur um Religion, sondern auch um Patriotismus. Der
offensichtliche Mangel an Loyalität, den die Christen an den Tag legten, brachte den Zorn Roms über viele von ihnen.
c. Die Mysterienkulte
Im Römischen Reich gab es eine große Vielfalt an erfahrungsorientierten Religionen, die man unter dem Oberbegriff »Mysterienkulte« zusammenfassen kann. Diese Mysterienkulte wurden deshalb so bezeichnet, weil sie den in ihre Geheimnisse Eingeweihten eine mystische Vereinigung mit einer Gottheit versprachen. Im Vergleich mit dem Kaiserkult oder der traditionellen Götterwelt boten diese Religionen ihren Anhängern einen persönlicheren, auf Erfahrung beruhenden Glauben. Sie sprachen eher das Gefühl an als den Willen oder den Verstand. Der Schwerpunkt lag auf ekstatischen Erlebnissen und weniger auf der Lehre. (Die Lehren waren von ihrem Inhalt her häufig vage und voller symbolischer Aussagen.) Obwohl es eine Vielfalt an Mysterienkulten gab, hatten sie dennoch einen gemeinsamen Schwerpunkt. Ihre Anhänger erlebten eine Vereinigung mit ihrem Gott durch Geheimriten, die nur den Mitgliedern der einzelnen Kulte bekannt waren. Diese Vereinigung mit der Gottheit garantierte den Teilnehmern der Riten die Unsterblichkeit.8 »Zu den Mysterien gehörten auch geheime Initiationsriten und andere Zeremonien wie Waschungen, Besprengen mit Blut, sakramentale Handlungen, Rauschzustände, Ekstase und beeindruckende Prozessionen, in deren Verlauf die Anhänger des jeweiligen Kultes die Vereinigung mit ihrer Gottheit erlebten. Die gesellschaftliche Gleichstellung der Anhänger innerhalb der Mysterienkulte verlieh diesen Religionen eine große Anziehungskraft.«9 Unter Neutestamentlern gibt es eine anhaltende Debatte über den Einfluss der Mysterienkulte auf die Gemeinde Jesu. Obwohl sie im Neuen Testament nicht direkt erwähnt werden, sind manche Theologen der Auffassung, dass der Apostel Paulus sich deren Vokabular bediente, um mit den Menschen aus dem Römischen Reich wirksamer kommunizieren zu können. Möglicherweise haben die Mysterienkulte manche ihrer Lehren vom Christentum entliehen.10
d. Der Gnostizismus
Die Bezeichnung Gnostizismus kommt vom griechischen Wort gnosis, das »Wissen« oder »Erkenntnis« bedeutet. Der Gnosis zufolge
konnte Erlösung nur durch das Erwerben eines bestimmten Wissens erreicht werden. Diese Philosophie stützte sich auf den Dualismus von Platon, der lehrte, dass die Materie böse und der Geist gut war.
»Den Gnostikern zufolge war Gott zu groß und heilig, um die materielle Welt mit all ihrer Niedrigkeit und Verderbtheit geschaffen zu haben. Sie behaupteten, dass von der höchsten Gottheit eine Reihe von Emanationen oder Ausstrahlungen ausgegangen seien, jede von ihnen sei ein wenig unbedeutender als diejenige, von der sie entsprang, bis schließlich die letzte dieser Emanationen oder »Äonen«, wie sie auch genannt wurden, die Welt erschuf. Die Materie wurde deshalb mit dem Bösen gleichgesetzt. Wenn der Mensch die Erlösung erwerben wollte, musste er die materielle Welt verleugnen und nach der unsichtbaren Welt streben.«11
Dieses Streben wurde von den gnostischen Lehrern stark unterstützt. Die Lehren des Gnostizismus wurden im Alltagsleben seiner Anhänger auf zwei gegensätzliche Weisen angewendet. Zum einen gab es die Askese oder die strenge Unterdrückung körperlicher Bedürfnisse. Manche Vertreter dieser Richtung versuchten, die Triebe des »bösen« Leibes zu beschneiden oder in den Griff zu bekommen. Eine zweite Anwendung dieser Philosophie fand ihren Ausdruck im Libertinismus oder einer moralischen Freizügigkeit. Die Auffassung, dass der materielle Leib böse und von der Erlösung ausgenommen sei, veranlasste wieder andere zu einem zügellosen Leben. Weil nur der Geist erlöst werden könne, so argumentierten sie, sei das, was man mit seinem Körper tue, unbedeutend für die höchste Realität, also könne man das Leben in vollen Zügen genießen.
Obwohl der Gnostizismus in seiner vollständigen Ausprägung erst im zweiten Jahrhundert n. Chr. auftrat, waren seine frühen Formen bereits im ersten Jahrhundert vorhanden. Viele Theologen sind der Meinung, dass neutestamentliche Briefe wie der Kolosserbrief und der 1. Johannesbrief verfasst wurden, um diese neu entstehende Philosophie zu widerlegen.
Der Hintergrund des Neuen Testaments
e. Andere Philosophien
Neben dem Gnostizismus gab es in der Zeit des Neuen Testaments eine Vielzahl von anderen Philosophien. Der Text in Apostelgeschichte 17,21 macht deutlich, dass Philosophie bei vielen Menschen so etwas wie eine Leidenschaft war und dass etwas »Neues« die Menschen sehr interessierte. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie Wanderlehrer und Philosophen immer wieder auf der Suche nach »neuen« Ideen waren, um diesen Hunger nach einem »neuen« Verständnis des Lebens zu stillen. Den sogenannten neuen Ideen standen in der Zeit des Neuen Testaments die grundlegenden philosophischen Sichtweisen gegenüber. Robert Gundry fasst diese Philosophien wie folgt zusammen:
»Die Intellektuellen wandten sich reineren Formen der Philosophie zu. So lehrten die Epikuräer, dass der Genuss (nicht unbedingt der sinnliche Genuss) das größte Gut im Leben sei. Der Stoizismus dagegen lehrte die pflichtbewusste Annahme des eigenen Schicksals, das von einer unpersönlichen, höheren Vernunft vorherbestimmt sei. Diese höhere Vernunft beherrsche das Universum, zu dem auch die Menschen gehörten. Die Zyniker, für die es viele Entsprechungen gibt, sahen in einem einfachen, unkonventionellen Leben die höchste Tugend. Sie lehnten das allgemeine Streben nach Bequemlichkeit, Wohlstand und gesellschaftlichem Ansehen ab. Die Skeptiker waren Relativisten und wiesen den Glauben an alles Absolute zurück und erlagen dem Zweifel sowie dem jeweils herrschenden Zeitgeist. Diese und andere Philosophien prägten jedoch nur das Leben weniger Menschen. In der Regel war das Lebensgefühl der großen Masse bestimmt von Aberglauben und Religionsvermischung. Deshalb kam das Christentum in eine Welt religiöser und philosophischer Verwirrung. … Trübsinn und Verzweiflung waren die vorherrschenden Gefühle.«13
Diese Philosophien versagten, weil sie kein echtes Verständnis vom wahren Wesen des Menschen (nach dem Bild Gottes geschaffen, aber gefallen) vermittelten, und auch nicht vom Charakter des einen, einzigen Schöpfergottes.