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Petra Schwarzkopf

Der Donnerfelsen

Band 1: Johanna und Jan

Best.-Nr. 271895

ISBN 978-3-86353-895-8

Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg

1. überarbeitete Auflage (CV)

© 2023 Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg www.cv-dillenburg.de

Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg

Umschlagmotive:

Landschaftsfoto © Frank Schwarzkopf, Holzschild: © Freepik.com/ brgfx

Windrose: © Canva Pro/ONYXprj

Piratenschiff: © Canva Pro/Sylph Creatives

Piratenfahne: © Canva Pro/lestarikhanty

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gerne kontaktieren: info@cv-dillenburg.de

Inhalt

D

E

G

H

K wie Kuchen

L wie

M wie Meer

N wie Neuigkeiten

O wie Oda

P wie

R wie Rick

S wie Smutjes Plan

T wie Tau

U wie unglaublich

V wie Verrat

W wie Wunderbeeren

Z wie zurück

Epilog

A wie Abflug

„Johanna, jetzt warte doch mal!“, sagte Julia Müller zu ihrer Tochter. Ihre Stimme klang genervt. Sie wandte den Blick zurück zu Johannas Lehrerin und versuchte zu lächeln.

„Entschuldigen Sie bitte!“

Frau Schmitt hob die Augenbrauen und sah auf ihre Schülerin. Doch Johanna dachte gar nicht daran, stehen zu bleiben und den beiden Erwachsenen noch länger zuzuhören. Mit einem Affenzahn stürmte sie aus dem Klassenraum der 4b. Das war ja wohl die Höhe! Nie im Leben würde sie zu dieser Psycho-Tante gehen. Da konnte Mama sich auf den Kopf stellen und ihre Klassenlehrerin Frau Schmitt gleich mit!

„Johanna?“, rief Laura hinter ihr her, die draußen auf dem Flur auf sie gewartet hatte. Als keine Antwort kam, sprang sie auf und folgte ihrer besten Freundin, die gerade wie eine Rakete an ihr vorbeigeschossen war. Sie hatte Mühe, Schritt zu halten, denn Johanna war die Beste im Sport. Das galt für das Schwimmen genauso wie für das Laufen.

„Was ist denn los?“, keuchte sie nach Atem ringend.

„Was los ist?“

Johanna blieb ohne Vorwarnung mitten auf dem Schulhof stehen, sodass Laura fast in sie hineingerannt wäre.

„Mama spinnt! Das ist los. Sie will mich zu so einer PsychoTante schleppen, wegen meiner Leseprobleme“, beschwerte

sie sich und zog die Silbe „Lese“ in die Länge und in die Höhe. „Schön, dass ich das auch noch erfahre.“

Laura schnappte nach Luft und machte einen Schritt rückwärts.

„Sie hätte mir wenigstens zuerst Bescheid sagen können.“

„Oh! Und wann sollst du dahin?“, fragte Laura und beugte den Oberkörper vor. Sie stützte sich mit den Händen auf ihren Oberschenkeln ab, um besser atmen zu können.

„Gar nicht gehe ich dahin!“

Johanna nahm wieder Fahrt auf und bog um die Ecke. Mama und die Lehrerin konnten sie jetzt nicht mehr sehen.

„Oh!“, machte Laura noch einmal.

Sie verdrehte die Augen, setzte sich aber auch in Bewegung.

Laura Simons wusste, dass ihre Freundin nicht gern über das Lesen sprach. Doch sie wusste auch, dass alle aus der Klasse es viel besser konnten als Johanna, und das tat ihr leid. Während sie versuchte, zu Johanna aufzuschließen, sagte sie deshalb vorsichtig:

„Wenn aber doch Frau Schmitt das auch gut findet ... Vielleicht kann die Psycho-Tante dir ja helfen.“

„Bist du jetzt auch noch gegen mich?“, brauste Johanna auf.

„Na klar, du findest Lesen ja so toll. Dauernd redest du von deinen Büchern. Ich mag es eben nicht. Basta!“, schimpfte sie. „Was kann ich dafür, dass sich die Buchstaben in meinem Kopf von selbst umdrehen und durcheinandergeraten? Könnt ihr mich nicht einfach mal in Ruhe lassen? Ich dachte, du wärst meine Freundin!“

„Bin ich auch, deshalb muss ich aber nicht immer deiner Meinung sein“, sagte Laura.

Aber Johanna hörte gar nicht zu. Sie blieb erneut stehen und verschränkte jetzt die Arme vor der Brust. Ihre braunen Augen wurden noch dunkler.

„Du kannst alleine nach Hause gehen.“

„Mensch, Johanna, sei doch nicht gleich beleidigt!“

Laura seufzte leise und ging langsam ein Stück weiter. Dann hielt sie wieder an und drehte sich um. Doch sie wartete vergeblich. Johanna stand unbeweglich wie eine Säule in der Gegend herum. Sie starrte in die Wolken, als seien sie nicht dunkelgrau, sondern aus purem Gold.

„Nun komm schon! Was ist jetzt? Ich muss gleich zum Geigenunterricht“, drängelte Laura.

„Dann geh doch endlich! Sonst erwischt dich das Gewitter noch“, rief Johanna.

Ihre rechte Hand deutete auf die dunklen Wolken, die rasch am Himmel vorbeizogen. Es war windig geworden, und die Sonne verschwand gerade hinter einer dicken Wolkenwand.

„Mama hat gesagt, es gewittert heute, wenn sie arbeiten ist“, fügte sie hinzu, und es klang wie eine Drohung.

Laura blickte ruckartig nach oben. Sorgenfalten erschienen auf ihrer Stirn. Sie fürchtete sich vor Gewittern, und ihre Freundin wusste das ganz genau. Bis gerade eben hatte sie aber gar nicht bemerkt, dass sich das Wetter veränderte. Sie schüttelte sich.

„Okay. Dann gehe ich eben alleine weiter. Ich finde trotzdem, du solltest es versuchen“, sagte Laura noch. Dann eilte sie schnell davon.

„Hör endlich auf!“, schrie Johanna hinter ihr her und kickte einen Stein zur Seite. Aber das half auch nicht. Nicht gegen das komische Gefühl in ihrem Inneren. Da drin braute sich auch gerade etwas zusammen, genauso wie am Himmel. Dieses blöde Etwas saß im Hals fest und machte sich so unverschämt breit, dass es schon auf den Magen drückte. Der Wind war heftiger und

kälter geworden. Er zerrte jetzt an den Büschen und Bäumen und wehte unter Johannas langen Rock.

„Mist, ich hätte doch eine Hose anziehen sollen!“, ärgerte sie sich laut und versuchte mit beiden Händen, den fliegenden Stoff runter auf ihre Beine zu drücken.

Heute Morgen war sie noch so stolz auf ihren ersten selbst genähten Rock gewesen. Mama hatte ihr dabei geholfen. Aber im Moment war es ihr ziemlich egal, dass sie genauso geschickte Hände wie ihre Mutter hatte. Musste Papa mir ausgerechnet seine Probleme mit den Buchstaben vererben?, dachte sie wütend.

Laura war mittlerweile nicht mehr zu sehen, und Mama würde von der Schule direkt ins Krankenhaus zur Spätschicht fahren. Also ging Johanna allein weiter, bis ihr Elternhaus in Sicht kam. Eigentlich ist das nicht der richtige Ausdruck, denn das Haus war kaum zu sehen. Dicht wuchernde Hecken, breite Sträucher und ein riesiger Lindenbaum versperrten den Blick darauf. Johanna seufzte. Mama hatte einfach keine Zeit mehr für den großen Garten. Früher hatten ihre Eltern fast jeden Samstag an den Pflanzen herumgeschnitten und Unkraut gejätet. Wie Papa es schon mit Opa gemacht hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Abends wurde dann gegrillt. So war es auch am Tag vor Papas Unfall gewesen.

Johanna fröstelte und schob wie so oft die Gedanken an früher beiseite. Sie zog den Haustürschlüssel, der ihr an einem Band um den Hals hing, mit einer Hand unter dem T-Shirt hervor. Mit der anderen öffnete sie das quietschende Gartentor. Gerade zuckte der erste grelle Blitz über den Himmel, und leise zählte das Mädchen die Sekunden bis zum Donner, so wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Schon bei 12 krachte es heftig. Sie teilte die Zahl im Kopf durch drei. Das Gewitter war also nur etwa vier Kilometer entfernt.

Rechnen konnte sie immerhin. Die ersten Tropfen fielen auf die Blätter der Sommerlinde, aber noch blieb Johanna unter dem dunkelgrünen Laubdach trocken. Das Frühjahr war ungewöhnlich warm, und so waren die Äste schon ganz schwer von dem Gewicht der blassgelben Blütenbäumchen. Sogar die Blätter schienen dieser üppigen Pracht Platz zu machen und zusammenzurücken. Sie hatten sich so dicht übereinandergelegt, dass es von Weitem aussah, als trüge der Baum einen grünen Schuppenpanzer, und nichts und niemand könnte ihm etwas anhaben.

Jetzt hob Johanna den Blick und sah von unten hoch in das duftende Blütenmeer. Sonst wimmelte es hier immer von Hummeln und Bienen. Doch die Insekten hatten einen sechsten Sinn und waren längst vor dem Regen geflüchtet. Ein heftiger Windstoß ließ die Blüten wippen. Ein paar besonders vorwitzige segelten herab und landeten auf Johannas Stirn. Ganz in Gedanken wischte sie sie weg und leckte sich die klebrigen Finger ab. Mhm, süß ...

Sie liebte den Baum! Niemand wusste wirklich genau, wie alt er war und wer ihn eigentlich gepflanzt hatte. Er hatte bereits da gestanden, als Opa damals das Grundstück gekauft hatte. Selbst in seiner Erinnerung war die Linde schon immer riesengroß gewesen. Man brauchte zwei Erwachsene und ein Kind, um ihren Stamm zu umfassen. Unverdrossen lieferte sie neue Blätter und Blüten, auch wenn ihr Stamm längst vom Alter gespalten war. Der Baum hatte überlebt, trotz dieser klaffenden Wunde im Herzen. Obwohl Bäume im Gegensatz zu Menschen streng genommen gar kein Herz haben. Doch diesmal lehnte Johanna sich nicht zur Begrüßung an den mächtigen, rauen Stamm. Heute konnte nicht einmal die trotzige Linde sie trösten. Sie wollte einfach nur weiter. Um nach vorn zur Tür zu kommen, durchquerte sie schnell den

Garten und ging längs am Gebäude entlang. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss und betrat das Haus. Im Flur roch es nach Sauerkraut und Kartoffelbrei. Auch das noch! Mama weiß doch genau, dass ich kein Sauerkraut mag!

Meistens waren ihre Mutter und sie ein gutes Team, aber sie zur Psycho-Tante zu schleppen, das ging Johanna einfach zu weit!

Ihr Mund wurde ein dünner Strich, und sie ballte die Fäuste. Sie vergaß, den Schlüssel abzuziehen, und knallte die Haustür ins Schloss. Laut vor sich hin schimpfend polterte sie die Treppe nach oben. Der Ranzen flog in die Ecke. Die nächste Tür rumste. Wenn wenigstens Papa noch hier wäre, der könnte mich bestimmt verstehen. Blöder Unfall! Dämliches Lesen! Doofe Erwachsene!

Johanna brodelte wie ein vergessener Schnellkochtopf auf einer heißen Herdplatte. Sie war locker auf mehr als hundert Grad Celsius. Das Mädchen schimpfte und schluckte, um Dampf abzulassen. Es hatte keinen Sinn – die Temperatur stieg trotzdem. Zu allem Überfluss fiel Johanna auch noch ihr Lesegestotter von heute Morgen ein. Die Erinnerung an das Kichern und Lachen der anderen Kinder verwandelte die Herdplatte in eine glühendrote Scheibe. Nicht einmal ihr Pausenbrot hatte sie noch herunterbekommen, so zugeschnürt war ihr Hals auf einmal gewesen. Oh weh! Jetzt war der Druck in dem Topf zu hoch geworden. Die Wut wusste nicht mehr, wohin sie sich noch quetschen sollte, und Johanna explodierte. Gut, dass das nicht mit Dampfdrucktöpfen passiert! Jedenfalls nicht, wenn man den Deckel richtig zudreht. Aber Menschen sind nun mal nicht aus Edelstahl.

„Ich bleibe zu Hause und gehe gar nicht mehr zur Schule, damit ihr es wisst!“, rief Johanna gegen die Wand und vergaß, dass niemand sie hören konnte. „Und dann brauche ich auch kein saublödes Lesebuch mehr!“

Entschlossen stand sie auf und riss das Buch aus dem Ranzen. Sie schlug die Piratengeschichte auf, an der sie sich heute vergeblich abgemüht hatte.

„Und das hier ist die dümmste Geschichte, die ich je gehört habe!“

Heftig schlug sie auf die Seiten, und dann zuckte eine Idee durch ihren Kopf. Nur ganz kurz leuchtete sie auf, wie ein Blitz, doch sie wurde zur Tat.

„Na warte, du machst den Abflug!“, murmelte das Mädchen, öffnete die Balkontür und trat hinaus.

Der Regen flog inzwischen waagerecht, und der Wind zerrte an Johannas langen braunen Haaren. Er ließ die Rollläden gegen die Fensterrahmen klappern. Die Blätter rauschten laut, und es war fast dunkel geworden. Hätte sie die Sekunden zwischen Blitz und Donner noch gezählt, wäre sie kaum bis drei gekommen. Aber Johanna zählte nicht mehr, sondern holte schwungvoll aus und warf das Lesebuch mit voller Wucht vom Balkon.

„Ich möchte wissen, ob die Piraten überhaupt lesen konnten!“, rief sie gegen den brausenden Wind.

Es war ein ausgezeichneter Wurf, und bei den Bundesjugendspielen hätte er sicher gute Punkte für die Ehrenurkunde gebracht. Doch leider befand sich die dicke Linde genau in der Flugbahn. In dem Moment, als das Buch den knorrigen Stamm traf, zuckte ein besonders großer und breiter Blitz über den Himmel und schlug dann mit lautem Krachen in den uralten Baum ein. Die Erde erbebte vom Donner. Selbst der Balkon vibrierte. Johanna machte vor Schreck kurz die Augen zu. Was sie dann sah, als sie sie wieder öffnete, ließ ihr den Mund offen stehen: Das Buch fiel nicht zur Erde, sondern es verschwand vor ihren Augen!

B wie blond

Dann hörte Johanna ein lautes „Aua!“ und klappte den Mund schnell wieder zu. Der Schrei kam von einem dünnen, hochgewachsenen Jungen mit Sommersprossen. Er war blond wie die Sonne, und seine langen Beine steckten in viel zu kurzen grauen Hosen. Ein Strick diente als Gürtel und verhinderte, dass sie ihm auf die schmutzigen Füße rutschten. Wenn er eine blaue Schirmmütze aufgehabt hätte, hätte man ihn für den großen Bruder von Michel aus Lönneberga halten können. Er rieb sich den Kopf und sah das Mädchen an. Seine blauen Augen funkelten.

„Spinnst du? Warum schmeißt du nach mir?“, fragte er.

Johanna zog die Augenbrauen hoch.

„Was machst du in unserem Garten?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage.

„Garten? Wieso Garten? Ich war im Wald, Holz sammeln.“

Der Junge starrte sie an. Es war die Wahrheit. Er hatte tatsächlich einen Stapel Feuerholz im Arm getragen, als das Lesebuch ihn am Kopf traf. Vor Schreck hatte er einige Stücke fallen gelassen und bückte sich nun, um sie wieder aufzuheben. Dabei entdeckte der fremde Junge Johannas Buch. Es lag aufgeschlagen auf der Erde. Ich muss mich geirrt haben. Es ist gar nicht verschwunden!, überlegte Johanna. Sie hatte noch gar nicht richtig zu Ende gedacht, da streckte der Dünne auch schon seine freie Hand nach dem Lesebuch aus.

„Was ist das?“, fragte er und sah sie neugierig an. Aber Johanna antwortete nicht. Sie wandte ihre Augen gerade von dem Stamm der alten Linde, der plötzlich so nah war, und drehte sich langsam um sich selbst. Oh, nein!, dachte sie. Wo bin ich hier bloß gelandet? Wo sind unser Haus und der Balkon?! Der Garten ist auch nicht mehr derselbe!

Genauer gesagt gab es gar keinen Garten mehr, sondern nur unbekannte, wilde Sträucher um sie herum. Nur hinter dem etwa zwölfjährigen Jungen konnte man über die Büsche hinwegsehen. Johanna riss die Augen auf. Das ... das ist das Meer! Ganz bestimmt ist das das Meer!, schoss es ihr durch den Kopf. Johanna hatte zwar noch nie ein echtes Meer gesehen, aber sie kannte Fotos und Filme und wusste genau, was sie vor sich hatte. Das konnte doch nicht wahr sein! Nur die Linde war noch dieselbe ... oder? Der Boden schwankte, und Johanna lehnte sich an den Stamm. In ihren Ohren rauschte es. Sind das die Wellen? Kann man die bis hierher hören? Warum wird es so schnell dunkel?

„He, alles in Ordnung mit dir?“ Der fremde Junge hatte sie bei der Schulter gefasst. „Du bist ganz blass. Setz dich hin!“, kommandierte er und drückte sie nach unten.

Johanna ließ sich im Zeitlupentempo am Stamm hinunterrutschen und blieb sitzen. Sie legte den Kopf leicht in den Nacken. Langsam wurde es wieder hell, und sie guckte zu dem Jungen. Nun lag sein ganzes Holz auf dem Boden. Er hatte das Lesebuch aufgehoben und blätterte vorsichtig darin.

„Das ist ein Buch!“, wunderte er sich. Dann sah er zu dem Mädchen hinüber. „Du bist bestimmt nur hungrig.“

Na logisch, Hunger! Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.

„Wo hast du das her?“, fragte er und klappte das Buch zu. „Und warum hast du so komische Sachen an?“

Sein Misstrauen stand ihm auf der Stirn geschrieben. Er hatte die Augenbrauen so weit zusammengezogen, dass die Haut darüber Falten warf. Johannas Gedanken fuhren immer noch Karussell. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Außerdem war ihre Wut noch nicht ganz weg. Komische Sachen?! Was fiel dem eigentlich ein?

„Wo bin ich hier? Wieso komisch? Du trägst komische Sachen!“, gab sie daher zurück.

„Du bist an der Küste, was dachtest du denn? Und hier laufen alle so herum“, stellte der Junge klar. „Jedenfalls alle, die sich keine besseren Sachen leisten können“, fügte er dann noch hinzu und kniff die Augen zusammen. „Aber niemand trägt so bunte Röcke wie du. Von wo kommst du?“, fragte er.

„Na, woher wohl? Aus Deutschland, genau wie du oder nicht?“, sagte Johanna leise. Sie fühlte sich auf einmal schlapp und müde.

„Deutschland kenne ich nicht. Ist das hinter dem großen Moor im Süden?“

Seine Stimme klang anders als gerade eben noch, und er schien seine Muskeln anzuspannen.

„Hä? Keine Ahnung, welches Moor?“, fragte Johanna, und plötzlich liefen ihr die Tränen über das Gesicht. „Gerade war ich jedenfalls noch zu Hause. Es gab ein furchtbares Gewitter, und ich habe mein Lesebuch weggeworfen. Da hat es geblitzt und ... und plötzlich war ich hier ...“

Sie wusste nicht mehr weiter und zuckte hilflos mit den Schultern. Der Junge kratzte sich am Kopf und starrte auf die Erde zu seinen Füßen.

„Hier hat es nicht gewittert! Schau doch, alles ist trocken!“, sagte er und zeigte mit der Hand auf den Boden. „Bist du sicher, dass es geblitzt hat?“

Ein winziges Lächeln spielte um seinen Mund, als er den Kopf wieder anhob. Aber Johanna sah es nicht. Sie guckte ihn empört an. Natürlich war sie sich sicher! Hielt der sie eigentlich für blöd?

„Dann war das wohl in einer anderen Welt!“, sagte sie schnippisch und wischte sich die Tränen ab. Eigentlich war das nicht so ernst gemeint, aber als sie es aussprach, wurde ihr heiß und kalt. Was, wenn es die Wahrheit war?

„Warum wolltest du denn dein Buch wegwerfen? Das verstehe ich nicht. Niemand wirft ein Buch weg. Man wirft doch auch keinen Schatz weg.“

„Wieso Schatz? Was hat ein Buch mit einem Schatz zu tun?“, fragte Johanna und wurde lauter. „Ich brauche es nicht mehr. Ich will nicht mehr lesen lernen. Ich hasse dieses Buch.“

Die Augen des Jungen blitzten auf.

„Heißt das, mit diesem Buch kann man lesen lernen?“

„Was interessiert dich dieses dämliche Buch?! Ich will nur wissen, wie ich wieder nach Hause komme!“

Dieser Junge nervte ganz kolossal! Sie hatte jetzt wirklich andere Sorgen.

„Man kann mit diesem Buch lesen lernen, und du willst nicht!“, fasste der Dünne zusammen.

„Ich wollte schon, aber ich kann es immer noch nicht gut genug. Die andern sind viel schneller und besser als ich. Deswegen will ich nicht mehr weiterlernen. So, jetzt weißt du es!“, schnauzte Johanna ihn an.

„Das heißt, du kannst lesen?“, fragte der Junge und setzte sich neben sie. Er klang, als hätte Johanna eben erklärt, dass der

Himmel grün sei. „Weißt du wirklich nicht, welche Macht du damit hast? Es können nicht viele Menschen lesen!“

„Was für ein Quatsch! Bei uns kann jeder Sechsjährige lesen ... na ja, fast jeder.“

Ein seltsamer Ausdruck trat in die Augen des Jungen. Er sah das Buch an wie ein ausgehungerter Bär eine Honigwabe.

„Dann bring es mir bei!“, befahl er und biss sich auf die Lippen.

„Spinnst du?“, heulte Johanna los. „Ich will zurück nach Hause! Ist das so schwer zu verstehen? Zurück nach Hause! Und zwar sofort!“

„Warum sofort?“

„Warum, warum?! Weil es dort schön ist, weil es mein Zuhause ist, weil Mama da ist und ich nicht, wenn sie nach Hause kommt. Darum!“

Johannas Stimme schraubte sich immer höher und klang jetzt fast schon wie Kreischen.

„Ist ja gut!“, sagte der Junge. „Du musst nach Hause, und ich muss lesen lernen.“

Er sprach ganz langsam, so als müsste er sehr genau überlegen und deshalb Zeit gewinnen.

„Da hast du aber Glück, dass du ausgerechnet mich getroffen hast. Es gab hier nämlich schon einmal Fremde, die auch so komisch aussahen wie du. Auch sie haben von einem Blitz erzählt.“

Seine Stimme wurde leiser, deshalb beugte er sich ziemlich nah zu Johanna. Das Mädchen rückte vorsichtshalber ein Stück zur Seite.

„Sie blieben hier ein paar Tage bei uns und kehrten dann nach Hause zurück. Und nur ich weiß, wie sie es gemacht haben“, fuhr der Junge fort.

Und als er das sagte, war für einen kurzen Augenblick erneut dieses winzige Lächeln in seinem Gesicht zu sehen. Johanna aber war zu verzweifelt, um es zu bemerken. Selbst wenn sie ihn von vorne und nicht nur von der Seite gesehen hätte, wäre sie blind für dieses Lächeln gewesen.

„Sie haben überall im Dorf erzählt, dass sie Schiffbrüchige sind. Ich allein wusste, dass sie aus einer anderen Welt waren“, behauptete der Dünne jetzt.

„Wenn du weißt, wie ich zurückkomme, dann musst du es mir sagen!“, befahl das Mädchen und sprang auf.

Doch der Junge rührte sich nicht.

„Erst, wenn du mir das Lesen beigebracht hast. Hier gibt es nichts umsonst, das wirst du schnell feststellen. Ob du es willst oder nicht, du bist auf mich angewiesen. Also müssen wir miteinander klarkommen. Fürs Erste musst du tun, was ich sage, bis du weißt, wie der Hase hier läuft.“

„Was für ein Hase? Ich sehe keinen Hasen.“

Johanna guckte sich um. Der Junge verdrehte die Augen.

„Wie man hier so lebt, heißt das! Also, du gehorchst, und dafür zeige ich dir später, wie du nach Hause kommst. Abgemacht?“

Er hielt ihr die Hand hin. Das Mädchen zögerte einzuschlagen. Es war gemein von ihm, Bedingungen zu stellen, aber so wie die Dinge lagen, hatte er sie in der Hand.

„Ich heiße Jan, und du?“

Johanna spitzte die Lippen, um ihm etwas Böses entgegenzuschleudern, aber dann würgte sie ihre Empörung herunter. Sie sah ein, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich auf den Handel einzulassen, wenn sie je wieder nach Hause kommen wollte. Deshalb ergriff sie seine ausgestreckte Hand. Sie war kräftig und hart.

„Das ist Erpressung. Aber gut, ich bin Johanna und fast elf“, sagte sie und klang dabei nicht gerade freundlich. Doch ein Erpresser kann auch keine Freundlichkeit erwarten. „Und ich habe Hunger“, fügte sie hinzu. In diesem Moment knurrte ihr Magen gut hörbar.

„Also, abgemacht! Da, hilf mir mit dem Feuerholz!“

Jan grinste wie ein Honigkuchenpferd und drückte ihr ein paar Scheite in den Arm. Dann bückte er sich, um den Rest aufzusammeln.

„Dieses Stück Linde hier nehmen wir auch mit“, bestimmte er und griff nach einem hellen, armlangen Ast. „Es ist für meine Schwester Emily. Sie ist sechs und schnitzt gern. Und sie kann es ziemlich gut. Manchmal tauschen wir ihre Löffel oder Figuren sogar gegen etwas Essbares ein.“

Johanna biss die Zähne zusammen und versuchte mitzuhelfen, doch mit jedem Stück Holz, das sie aufhob, fiel ein anderes wieder zu Boden. Jan achtete nicht auf sie und sprach einfach weiter.

„Eigentlich holt meine Schwester sich das Holz selbst, aber im Moment ist sie nicht ganz gesund, deshalb bin ich heute gegangen.“

Schließlich wandte sich der Junge in Richtung Strand.

„Das Buch nehme ich. Das darf niemand sehen, ist das klar?“

Ohne zu fragen, stopfte er es unter sein schmutziges Hemd und wies mit dem Kinn zum Meer.

„Dort unten liegt unser Dorf. Du kannst bei uns wohnen, wenn du dich nützlich machst.“ Johanna reckte den Hals, konnte aber keine Häuser entdecken. „Wir haben noch ein Stück zu gehen, bis du es sehen kannst“, erklärte Jan, „und wir müssen uns auf dem Weg ein kleines Märchen ausdenken, das wir den Leuten

auftischen, damit niemand Verdacht schöpft, dass du nicht von hier ...“ Er stockte kurz und räusperte sich. „Na ja, dass du nicht von hier, sondern aus einer anderen Welt kommst“, beendete er dann schnell den angefangenen Satz.

„Hä?!“, entfuhr es Johanna, sie starrte ihn erstaunt an.

„Was ist?! Was guckst du so, kennst du etwa keine Märchen?“, fragte der Junge.

„Natürlich weiß ich, was ein Märchen ist, für wie dumm hältst du mich?“

„Die Schuhe und die Bluse sind ganz in Ordnung, aber für den Rock brauchen wir eine gute Erklärung. Die Geschichte muss glaubhaft sein“, überlegte Jan laut, ohne auf ihre Frage einzugehen.

Johanna stapfte stumm hinter ihm her. Sie wollte nichts mehr sagen. Bei dem Typen war jedes weitere Wort verschwendet!

Sie waren noch nicht weit gegangen, da veränderte sich der Boden schon, und Sand rieselte plötzlich in ihre Sandalen. Gut, dass die aussehen wie aus dem vorletzten Jahrhundert, oder was hatte Jan da gerade gesagt? Wie aus einer anderen Welt? Mit modernen Turnschuhen hätte sie in seinem Dorf wohl kaum auftauchen können, ohne alle misstrauisch zu machen. Johanna schüttelte sich, obwohl es warm war und die Sonne schien.

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