Rudolf Möckel
ZUHÖREN UND VERSTEHEN
Menschen zu Jesus begleiten
Rudolf Möckel
Zuhören und verstehen Menschen zu Jesus begleiten
Best.-Nr. 271886
ISBN 978-3-86353-886-6
Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg
Es wurden folgende Bibelübersetzungen verwendet:
Altes Testament: Lutherbibel, revidierter Text 1984, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT). Neues Testament: Neue Genfer Übersetzung NT + PS, © Genfer Bibelgesellschaft, 1032 Romanuel-sur-Lausanne, Schweiz, Erste Auflage 2011 (NGÜ)
1. Auflage
© 2023 Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg www.cv-dillenburg.de
Satz und Umschlaggestaltung:
Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg Umschlagmotiv: © Unsplash.com/frank mckenna
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gerne kontaktieren: info@cv-dillenburg.de
„Ich
„Womit
„Ich hasse diese Einsamkeit!“
7. Ohne Gott – ein Lebensentwurf mit Risiken.
Einführung
„Missionarische Seelsorge“ ist in besonderer Weise mein Thema. Zum einen, weil ich als Seelsorger schon rein beruflich viele Jahre Menschen begleitet habe, die sich in einer Krisensituation befanden und Hilfe bei mir suchten. Ein ziemlich großer Teil meines Arbeitstages war von Begegnungen mit Menschen ausgefüllt, die meinen Rat suchten und die ich zunächst einmal mit ihrer ganz besonderen persönlichen Situation und Not verstehen musste.
Zum anderen ist das Thema „Missionarische Seelsorge“ auch deshalb mein Thema, weil ich mich viele Jahre in einem Umfeld bewegt habe, in dem die Bibel und die einfachsten Grundwahrheiten über den Gott der Bibel schlichtweg unbekannt oder, was vielleicht noch problematischer ist, nur in sehr entstellter Form bekannt waren. Es blieb mir also gar nichts anderes übrig, als zunächst einmal herauszufinden, wer die Person war, die mir in meinem Büro gegenüber saß und sich in irgendeiner Weise Hilfe von mir erhoffte. Ich hatte schlicht keinen anderen Ansatzpunkt.
Schließlich gibt es noch einen dritten Grund, warum das Thema „Missionarische Seelsorge“ mein Thema ist: Ich habe in den letzten Jahren immer
wieder festgestellt, dass die Nachricht von Jesus, dem Retter, vor allem dann eine Chance hat, gehört zu werden, wenn sie präzise in die persönliche Lebenssituation eines Menschen hinein gesprochen wird. „Missionarische Seelsorge“ ist also mein Thema. Ob es auch Ihr Thema ist, müssen Sie herausfinden.
Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich betonen, dass die seelsorgerisch-missionarische Arbeit, die ich rund 22 Jahre getan habe, gewiss nicht die einzig mögliche Art und Weise ist, Seelsorge und/oder Evangelisation zu betreiben. Es gibt eine Vielzahl von Christen, die unter dem Segen Gottes arbeiten und die Botschaft von Jesus, dem Retter, weitergeben, ohne im Einzelnen auf die persönliche Not ihrer Zuhörer einzugehen. Durch ihr Zeugnis kommen Menschen zum Glauben und werden für die Ewigkeit gewonnen. Das ist wunderbar und gut! Ich erhebe also gewiss nicht den Anspruch, das einzig wahre Konzept gefunden zu haben, wie man Menschen zu Jesus bringt. Alles, was ich dem Leser in diesem Buch vorstelle, sind Erkenntnisse, die ich im Laufe von mehr als 20 Jahren Seelsorgetätigkeit gewonnen habe, weil ich mich einer Herausforderung stellen musste, die mich dazu zwang, neue Wege zu finden und dann auch zu gehen.
Damit Sie ein wenig verstehen, was ich konkret damit meine, möchte ich Ihnen zunächst meinen Arbeitsplatz und meinen ganz normalen Arbeitsalltag beschreiben. Er ist aus vielerlei Facetten zusammengesetzt, aber es gibt auch einen roten Faden, der sich durch alles hindurchzieht.
Als Pastor war ich mit der Wahrnehmung von Seelsorge, Unterricht und Gottesdiensten in einer diakonischen Einrichtung in Norddeutschland beauftragt. Zu dieser diakonischen Einrichtung gehörten mehrere Krankenhäuser sowie Wohnheime und Wohngruppen für Menschen, die irgendeine Art von Behinderung hatten und oft auf den Rollstuhl angewiesen waren. Des Weiteren gab es mehrere Schulen, zum Beispiel eine Förderschule. Hier wurden Schüler unterrichtet, die irgendeine Art körperlicher oder auch psychischer Behinderung1 hatten. In dieser Schule unterrichtete ich das Fach Religion.
Schließlich gab es auch einen ausgedehnten Gebäudekomplex, in dem ein Berufsbildungswerk untergebracht war. Hier bekamen junge Leute zwischen 17 und 24 Jahren eine Berufsausbildung, zum Beispiel im Metall- oder Elektrobereich, als Bürokaufleute, Produktdesigner, Köche oder Hauswirtschafterinnen. Die Ausbildung sollte es ihnen ermöglichen, später eine Stelle auf dem Arbeitsmarkt zu finden und so ein eigenständiges Leben aufzubauen. Etliche meiner Gesprächspartner in der Seelsorge waren junge Auszubildende aus dem Berufsbildungswerk.
Auf Gott angesprochen, gaben mir viele von ihnen zu verstehen, „Gott gebe es nicht und überhaupt sei Religion unwissenschaftlich“. Sie trugen die feste Überzeugung in sich, dass „Religion mit dem echten
1 Dazu gehören u. a. Autismus, ADHS und Lernbehinderungen.
Leben nichts zu tun habe“ und darum irrelevant sei. „Religion“ – so ihre Sicht – „habe sich längst selbst erledigt.“ Ihr Lebensentwurf war ein Lebensentwurf ohne Gott.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich diesen Lebensentwurf in seiner ganzen Tragweite begriffen hatte. Dann jedoch half mir das, Zugang zu der intellektuellen und emotionalen Welt zu finden, in der meine Gesprächspartner sich in aller Regel bewegten. Eine detaillierte Analyse dieses „Lebensentwurfs ohne Gott“ findet sich am Ende dieses Buches (Kapitel 7: Ohne Gott. Ein Lebensentwurf mit Risiken. Eine Analyse).
Die Frage, die mich von Anfang an in meiner Arbeit als Seelsorger am meisten bewegte, lautete: Was kann ich tun, um glaubensferne junge Menschen auf Jesus aufmerksam zu machen und sie auf dem Weg zu ihm zu begleiten? Was kann ich tun, um Zugang zu ihren Herzen zu finden und ihnen die rettende Nachricht von Jesus, dem Messias, nahezubringen?
Meine Antwort präsentiere ich in diesem Buch.2 Es ist vor allem für Christen gedacht, die in ihrem Lebensumfeld mit Menschen zu tun haben, die dem Glauben an Jesus fernstehen und gleichzeitig bei ihnen Rat und seelsorgerische Hilfe suchen. Sofort stellt sich ja dann die Frage: Wie geht das? Wie
2 Grundlage dieses Buches sind Vorträge, die im Rahmen einer Konferenz des Bibelbundes im Christlichen Gästezentrum Westerwald (CGW) gehalten wurden.
kann ich als Christ Menschen, die dem Glauben fernstehen, seelsorgerisch begleiten? Beschränkt sich die Seelsorge auf bloße Beratung oder ist doch noch mehr möglich? Lassen sich Seelsorge an Atheisten und Agnostikern einerseits und das missionarische Anliegen andererseits im seelsorgerischen Gespräch miteinander verbinden? Und falls ja, wie sieht das praktisch aus?
Viele haben an dieser Stelle grundsätzliche Bedenken. Sie zögern, sich dem Arbeitsfeld der Seelsorge zu nähern, obwohl sie es eigentlich ganz gerne tun würden. Sie befürchten, Seelsorge sei nur etwas für Spezialisten, die ein Studium der Psychologie abgeschlossen oder wenigstens ein Zertifikat in einem Seelsorgekurs erworben haben.
Daraus ergibt sich eine Verarmung. Die Seelsorge war schon zur Zeit der Urchristen einer von mehreren Diensten in der Gemeinde (Röm 12,8). Dieser Dienst wurde von ganz normalen Gemeindemitgliedern ausgeübt, die für Seelsorge begabt waren, also die Geistesgabe des „Ermahnens und Tröstens“ hatten. Psychologen, wie sie heute gang und gäbe sind, gab es damals nicht. Seelsorge fand aber trotzdem statt. Warum sollte das heute anders sein?
Darüber hinaus kann Seelsorge auch außerhalb der Gemeinde gerade für glaubensferne Menschen ein starkes Zeugnis für Jesus, den Retter, sein. Sie kann Menschen nicht nur Hilfe in persönlichen Nöten bringen, sondern ihnen auch den Blick für den Gott der Bibel öffnen, der sie längst sucht und liebt.
Natürlich hat der Dienst der Seelsorge Grenzen. Wenn es um schwerwiegende psychische Erkrankungen geht (wie z. B. Borderline-Störungen oder Psycho-Traumata), sind in der Tat Spezialisten gefragt, die damit in guter Weise umgehen können. Aber Seelsorge an glaubensfernen Menschen trifft gar nicht fortlaufend auf schwerwiegende psychische Erkrankungen. Sie stellt sich vielmehr den zahlreichen alltäglichen Nöten, mit denen die Menschen im Laufe ihres Lebens zu tun bekommen.
Im Kern besteht das Konzept der missionarischen Seelsorge aus fünf Schritten bzw. Aspekten:
1. Zuhören
2. Begleiten
3. Verstehen
4. Strukturieren
5. Jesus bekennen
Jeder dieser fünf Schritte baut auf dem vorhergehenden auf. Startpunkt und unabdingbare Grundlage aller fünf Schritte ist aber das Zuhören. Darum möchte ich meine Ausführungen mit einem Kapitel über das Zuhören beginnen.

Zuhören
Es ist bezeichnend, wie viel Wert die Bibel auf das Hören legt. Und zwar nicht nur auf das Hören des Wortes Gottes, sondern auch auf das gegenseitige Zuhören unter Menschen.
Jesus hat gesagt:
„Wer Ohren hat und hören kann, der höre zu!“ (Mk 4,9.23)
„Die Menschen schließlich, die dem guten Boden gleichen, hören die Botschaft und nehmen sie mit aufrichtigem Herzen bereitwillig auf.“
(Lk 8,15)
„Ja, … doch wirklich glücklich sind die Menschen, die das Wort Gottes hören und befolgen.“ (Lk 11,28)
Jakobus schreibt:
„Denkt daran, meine lieben Brüder: Jeder Mensch sei schnell zum Hören bereit – zum Reden und zum Zorn, da lasse er sich Zeit.“ (Jak 1,19)
Das Buch der Sprüche stellt fest:
„Das Ohr, das hört, das Auge, das sieht, Jahwe hat beide gemacht.“ (Spr 20,12)
Was bedeutet es, einem Menschen in guter Weise zuzuhören? Was kennzeichnet gutes und weniger gutes Zuhören? Welche Hindernisse können gutes Zuhören beeinträchtigen? Und welche inneren Fehlhaltungen blockieren es? Als Antwort auf diese Fragen möchte ich Sie in mein Arbeitszimmer mitnehmen und Sie in ein typisches Seelsorgegespräch hineinnehmen.
Dabei ist eines vorweg sehr wichtig: Das, was ich Ihnen in diesem Buch an Gesprächsdetails aus Seelsorgegesprächen schildere, geht nicht auf Gespräche zurück, die real so stattgefunden haben. Ich stehe als Seelsorger unter dem Seelsorgegeheimnis. Das heißt, ich kann und will Details aus Gesprächen, die ich geführt habe, nicht preisgeben, auch nicht in anonymisierter Form. Details aus Gesprächen, die ich Ihnen in diesem Buch schildere, sind also allesamt fiktiv. Sie wurden so nie gesagt. Trotzdem sind sie nahe an der Wirklichkeit.
Sie sind realistische Illustrationen für Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich im Laufe der Jahre in unzähligen Gesprächen mit jungen, nicht mehr ganz so jungen und alten Menschen gewonnen habe.
Sprechen wir also über das Zuhören.
Ein Ratsuchender sitzt in meinem Zimmer. Er hat mich um ein Gespräch gebeten. Nun ergibt sich sofort eine Schwierigkeit: Mein Arbeitstag ist gut gefüllt. Ich weiß, dass ich in 90 Minuten einen weiteren Termin habe. Meine Zeit ist also begrenzt. Ich muss die Zeit im Auge behalten. Eines aber geht gar nicht: Dass ich zwischendurch mit einer raschen Bewegung auf meine Armbanduhr schaue. Ratsuchende bemerken den raschen Blick auf die Armbanduhr sofort.
Die Wirkung: Sie verschließen sich. „Müssen Sie bald weg?“, fragen sie vielleicht. Vielleicht sagen sie auch nichts, haben aber den Eindruck, dass ich irgendwie in Eile bin. Schlechte Voraussetzungen für ein seelsorgerisches Gespräch.
Meine Lösung für dieses Problem: Ich habe an zwei Stellen in meinem Zimmer zwei kleine Tischuhren platziert, von denen ich immer eine sehen kann. So kann ich die Zeit im Auge behalten, ohne auf die Armbanduhr zu schauen.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, frage ich. Oder: „Was kann ich heute für Sie tun?“ Oder: „Worüber sollen wir heute sprechen?“ Oder: „Irgendetwas quält Sie. Was ist es? Können Sie darüber reden?“ So oder so ähnlich eröffne ich das Gespräch. Und dann beginnt das Zuhören.
Mein Gegenüber beginnt zu sprechen. Es ist für mich, als beträte ich unbekanntes Land, einen weißen Fleck auf der Landkarte. Ein Mensch öffnet mir sein Leben, und ich muss lernen, mich in diesem Leben zurechtzufinden. Das braucht auf alle Fälle eines: Zeit – viel Zeit.
Wie ist das, wenn ein Ratsuchender mir vorsichtig Stück für Stück sein Leben und seine Not offenbart? Es ist wie das Zusammensetzen eines großen Mosaiks oder eines Puzzles mit 1000 Teilen. Hinzu kommt, dass die Informationen, die ich höre, in aller Regel ungeordnet präsentiert werden. Der Ratsuchende nähert sich oft in langen Schleifen oder auf Umwegen seinem eigentlichen Thema. Er lässt vielleicht auch Rückblicke auf weiter in der Vergangenheit liegende Phasen seines Lebens einfließen. Er schweift möglicherweise auch unabsichtlich ab und verliert sich in weniger wichtigen Details. Er gibt mir Mosaiksteinchen seines Lebens. Und ich stehe vor der Aufgabe, die zugrunde liegende Ordnung (das System) unter all den Mosaiksteinchen zu erkennen und herauszufinden, was wohin gehört. Aber das ist alles andere als einfach! Es prasseln viele kleine Informationen auf mich ein, die ich unmöglich alle sofort richtig einordnen kann, denn ich habe ja noch keinen Überblick über das große Ganze. Eine schwierige Situation!
Manchmal berichtet mein Gegenüber von Dingen, die schrecklich falsch gelaufen sind. Dann bin ich versucht, sofort einzugreifen und auf diesen
oder jenen haarsträubenden Fehler hinzuweisen. Das kann ich natürlich tun, aber damit unterbreche ich mein Gegenüber in dem, was er oder sie mir eigentlich sagen will. Ich fixiere ihn oder sie auf Dinge, die ihm momentan gar nicht so wichtig sind, auch wenn sie vielleicht wirklich haarsträubend falsch waren. Also diszipliniere ich mich und höre zu. Ich behalte aber die betreffenden Dinge im Hinterkopf, um sie in einem späteren Gespräch ansprechen zu können.
Oft ist es auch so, dass der Ratsuchende umständlich erzählt. Das lässt mich nach einer Weile ungeduldig werden. Aber ich hüte mich, meine Ungeduld zu zeigen. Das würde mein Gegenüber sofort verunsichern und verschließen. Also höre ich weiter zu und mache mir klar, wie verletzt ich selbst wäre, wenn ein Seelsorger mir mit Ungeduld begegnen würde.
Zuweilen höre ich auch Dinge, die mir nur mäßig interessant erscheinen oder mich schlicht langweilen. Dann höre ich bewusst noch genauer zu und mache mir klar, dass ich überhaupt nicht wissen kann, welche Details im Laufe des Gesprächs noch wichtig werden können.
Ich gebe dem anderen Raum in meiner Seele und höre und höre und höre. Manchmal frage ich nach, wenn ich etwas nicht verstehe. Aber in aller Regel kommentiere ich an dieser Stelle noch nicht. Ich versuche, mich im Leben des anderen zurechtzufinden und damit vertraut zu werden. Und das geht nur, wenn ich höre und höre und höre. Und so diene ich meinem Gegenüber.
Lassen Sie mich dafür ein Bild gebrauchen: Das Leben eines Ratsuchenden ist für mich wie ein großer, unbekannter Garten. In diesem Garten gibt es Wege, Bäume und Sträucher. Es gibt gepflegte Beete, aber auch verfilztes Unterholz und von Unkraut überwucherte Stellen. Es gibt einen Weiher, einen Platz für Gartenmöbel, einen Geräteschuppen, weite Wiesen, eine Wasserpumpe und ein Gewächshaus.
Stück für Stück lerne ich nun diesen großen Garten kennen. Mit der Zeit finde ich heraus, wo welche Bäume stehen, welche Sträucher sich in welchem Abschnitt des Gartens befinden, wo Pumpe, Gewächshaus und Geräteschuppen platziert sind, wo das Unterholz sich ausbreitet, wo die Rosenbeete sind und welche Gartenwege wohin führen. Auch den Weiher entdecke ich irgendwann. Ich kann nicht den ganzen Garten sofort überblicken. Ich muss mich von meinem Gegenüber an die Hand nehmen und durch den Garten führen lassen. So lerne ich alles Stück für Stück kennen und werde allmählich mit dem Garten vertraut. Aber das geht nur, wenn ich meinem Gegenüber die Zeit gebe, mir in Ruhe alles zu zeigen. Greife ich zu früh lenkend in das Gespräch ein, werde ich die volle Größe und vielleicht sehr wichtige Teile des Gartens möglicherweise nie kennenlernen. Und weil das so ist, ermuntere ich mein Gegenüber zu sprechen. Und ich höre zu. Ich leiste den Dienst des Zuhörens. Aus Erfahrung weiß ich, dass es nur wenige Menschen gibt, die bereit sind, länger zuzuhören. Die allermeisten Menschen sind eher daran interessiert,
selbst zu reden, als einem anderen zuzuhören. Aus Erfahrung weiß ich aber auch, wie schön es ist, wenn mir jemand gespannt und konzentriert über längere Zeit hinweg zuhört und mich nicht unterbricht. Ich fühle mich dann angenommen und irgendwie wertvoll. Konzentriertes Zuhören öffnet also die Herzen.
Und das ist für jedes seelsorgerische Gespräch absolut grundlegend.
Zuhören ist also ein Dienst, und zwar ein sehr wertvoller! Man kann diesen Dienst nur dann tun, wenn man bereit ist, sich selbst zurückzunehmen und dem Gegenüber viel Zeit und Raum zu geben. Und zwar auch dann, wenn man mit manchem, was der Ratsuchende offenbart, vielleicht durchaus nicht einverstanden ist.
Viele Ratsuchende sind zunächst sehr vorsichtig. Sie wissen nicht, wie viel sie mir zumuten und was sie von mir erwarten können. Sie fragen vielleicht nach: „Rede ich zu viel?“ Oder: „Langweile ich Sie?“
Dann antworte ich: „Bitte sprechen Sie weiter. Sie haben mein ganzes Ohr! Sie dürfen sich auch gern wiederholen. Ich weiß, dass es Dinge im Leben gibt, die sind so groß, dass man sie vielleicht 96-mal erzählen muss, weil man sie anders nicht verarbeiten kann.“
Und so höre ich lange zu. Allmählich wird mein Gegenüber sicherer. Die Worte fangen an und sprudeln aus seinem Mund. Und schon dieses Erzählendürfen und Gehörtwerden hat eine erste heilende Wirkung. Das, was vielleicht lange in Dunkelheit verschlossen und verborgen war, darf nun hinaus ans Licht.
Ein junger Auszubildender bittet mich um ein Gespräch. Er beklagt sich darüber, dass die Ausbildung ihn überfordere: Die Ausbilder seien fordernd, hart und unfreundlich. Die Mitauszubildenden würden sich nicht um ihn kümmern und seien nur mit den eigenen Problemen beschäftigt. Er fühle sich alleingelassen und überbelastet und spiele mit dem Gedanken, die gesamte Ausbildung hinzuwerfen. Im Laufe der Gespräche stimmt er diese Klage immer wieder an.
Während ich dem jungen Mann zuhöre, wird für mich sehr bald spürbar, dass mit seiner Darstellung der Probleme etwas nicht ganz stimmen kann: Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass er ausschließlich von unfreundlichen, harten und gleichgültigen Menschen umgeben ist. Aber was ist dann der Grund für seine Klagen? Wie kommt es, dass er seine Umwelt derart feindselig erlebt? Ich weiß es nicht und möchte auf keinen Fall spekulieren. Also ermutige ich ihn, mir mehr zu erzählen. Ich frage nach, wie sein Alltag aussieht, welchen Menschen er begegnet und wie sich diese Begegnungen gestalten. Ich höre weiter zu und lerne so den Garten seines Lebens immer besser kennen.
Bei allem Zuhören steht mir stets vor Augen, dass ich es sehr wahrscheinlich mit einem verlorenen Menschen zu tun habe, der Jesus, den Retter, dringend braucht. Aber ich nehme mir die Zeit und lerne den Garten seines Lebens kennen. Die ganze Fülle seiner Erfahrungen – seine Freuden, Fragen, Niederlagen,
Siege, Nöte, Zweifel, Verletzungen, Ausweglosigkeit, Bitterkeit und Selbstverliebtheit, sehr wahrscheinlich auch handfeste Fehler, alles kommt zur Sprache. Ich lerne den individuellen Lebensgarten dieses einen Menschen kennen. Und ich warte darauf, dass mir klar wird, wo das Evangelium von Jesus in seinem Leben greifen könnte. Ich werde ein Hörender.
Seelsorge hat viele Aspekte. Aber die Disziplin des Zuhörens ist ihre Grundlage. Wer ein Hörender sein will, muss bereit sein, sich selbst für begrenzte Zeit loszulassen und dem anderen mit dem Dienst des Zuhörens zu dienen. Nur so erschließt sich der Garten des Lebens, den mein Gegenüber mir schildert. Je länger ich zuhöre, umso besser lerne ich diesen Garten kennen. Ich begreife, wie mein Gegenüber „tickt“. Und ich kann immer besser einschätzen, wo und wie ich diesem besonderen Menschen mit seinem besonderen Leben Jesus bekennen muss.
Manchmal stockt der Ratsuchende. Der Redefluss bricht ab. Dann frage ich mich, warum das wohl so ist. Steht mein Gegenüber vielleicht jetzt gerade an einer Stelle, wo ihm das Reden schwer wird? Kann es sein, dass er jetzt an Dinge rührt, die schmerzhaft, peinlich, dunkel oder schlicht unbegreiflich sind? Dann versuche ich, mein Gegenüber dort abzuholen. Ich sage vielleicht: „Kann es sein, dass Sie von etwas sprechen wollen, was Sie zutiefst aufwühlt? Fehlen Ihnen die Worte? Oder befürchten Sie, ich könnte mich von Ihnen abwenden? Seien Sie unbesorgt! Sprechen Sie ruhig ungeordnet, umständlich oder
auch ein bisschen wirr. Ich finde mich schon zurecht!
Und im Übrigen: Mir ist nichts Menschliches fremd, egal wie dunkel oder hässlich es aussehen mag. Ich falle bestimmt nicht in Ohnmacht! Ich bin ganz dicht an Ihrer Seite!“
Meist geht das Gespräch dann weiter. Die Ermutigung greift. Gemeinsam erforschen wir weiter den Garten des Lebens meines Gegenübers. Ich höre und höre. Und ich staune immer wieder, wie unglaublich verschieden und vielfältig der Lebensgarten jedes einzelnen Menschen ist. Es gibt nur Originale.

Begleiten
Seelsorge hat eine kleine Schwester: die Langsamkeit. Wer Seelsorge schnell und effizient über die Bühne bringen will, hat es schwer! Nichts geht schnell in der Seelsorge. Sie braucht ihre Zeit und lässt sich nicht einfach beschleunigen.
Das hängt mit der Machart von uns Menschen zusammen. Unser Verstand kann schnell, vielleicht sogar sehr schnell sein. Aber alles, was mit unseren inneren Entwicklungen und den damit verbundenen Gefühlen zu tun hat, vollzieht sich mit einer gewissen Langsamkeit. Wer Menschen seelsorgerisch begleiten will, muss sich auf diese Langsamkeit einstellen.
Maschinen sind immer gleich. Sie sind berechenbar. Man kann sie vergleichsweise leicht bedienen. Ein Knopfdruck oder das Umlegen eines Hebels reichen meist aus. Aber Menschen sind keine Maschinen. Menschen sind Menschen. Die Bewegungen