

Die Saa D a Saga erinnerungen an
den Jemen
Truus Wierda-Graaff
Die Saada-Saga Erinnerungen an den Jemen
Best.-Nr. 271863
ISBN 978-3-86353-863-7
Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg
Titel des niederländischen Originals: De Saadah Sage © 2020 by Truus Wierda-Graaff
1. Auflage
© 2022 Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg www.cv-dillenburg.de
Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg Umschlagmotiv: © Stefanie Wierda Bilder im Innenteil: privat
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gerne kontaktieren: info@cv-dillenburg.de
Die Ausführungen zur politischen Situation im Jemen geben die persönliche Sicht der Autorin wieder.
30. Verkehrsunfälle
31. Eine seltene Alternative
32. Die 1980er-Jahre im Überblick
Teil II: Zunehmendes Chaos
33. Der erste Golfkrieg
34. Neuanfang
35. Zwei Männer mit Leberzirrhose
36. Diesel in den Adern
37. Autodiebstahl
38. Arzt in Not
39. Die Zunge
40. Mohammed, Les Misérables und Mutter Teresa
41. Samirs Katze
42.
61. Der erste Huthi-Konflikt
62. Die Geige
63. Leere Tintenfässer
64. Der Schlangenbändiger
65. Eine Ohrfeige
66. Grenzen der Vaterliebe
67. Plakatinvasion
68. Abschied
69. Die Rückkehr
70. Besuche in Saada
71. Die Krise
72. Undurchdringliches Schweigen
73. Erneuter Krieg
74. In anderen Aufgaben
75. Eine Reise durch die Trauer
76. Sinnsuche
77. Durchbruch
78. Perspektive
79. Frühling und Winter
80. Späte Nachrichten
81. Ein Wiedersehen
82. Zuletzt bleibt Dankbarkeit

einführung
Während unserer Zeit im Jemen schrieb ich regelmäßig Rundbriefe, in denen ich oft auch Erlebnisse aus unserem Alltag schilderte. Freunde und Verwandte ermutigten mich, diese Geschichten einmal zusammenzustellen und zu veröffentlichen. „Ja, vielleicht später“, war meine Standardantwort.
Vor einigen Jahren wurden wir dann auch von unseren Kindern darum gebeten, etwas über unsere Zeit im Jemen aufzuschreiben, damit sich unsere Enkelkinder eine Vorstellung davon machen könnten, wie unser Leben damals war. Dies schien mir ein lohnendes Projekt zu sein, dem ich mich gerne zuwandte. Darum widme ich dieses Buch in erster Linie unseren geliebten Kindern und Enkelkindern.
Dieses Buch ist vor allem ein persönlicher Bericht darüber, wie mein Mann Huib und ich den Jemen erlebt haben. Aber wir haben dort nicht alleine gearbeitet, sondern zusammen mit Teamkollegen und mit dem jemenitischen Personal des Krankenhauses, an dem wir beschäftigt waren. Die medizinische Arbeit war ein echtes Gemeinschaftsprojekt, und daher ist dieses Buch auch ein Bericht über die gemeinsame Geschichte unseres Teams, allerdings aus unserer ganz persönlichen Sicht. Ich widme dieses Buch auch allen unseren geschätzten Mitarbeitern.
In den folgenden Geschichten kommen viele Jemeniten vor. Meistens habe ich ihre richtigen Namen verwendet, um das Andenken an diese wunderbaren Menschen, die unser Leben so interessant und bunt gemacht haben, zu ehren. Bei einigen Personen habe ich zum Schutz ihrer Identität den Namen geändert.
Während des Schreibens merkte ich, dass es gut wäre, einige historische und kulturelle Hintergrundinformationen einfließen zu lassen, damit die Ereignisse besser einzuordnen sind. Das
Ergebnis ist eine Mischung aus erlebten Geschichten, Berichten über unser Leben im Jemen und Darstellungen einer bestimmten geschichtlichen Phase des Landes. Ich hoffe, dass diese Mischung einen anregenden Eindruck von diesem Teil der Erde vermitteln kann.
Sollte unsere Liebe zum Jemen auf Sie als Leser ansteckend wirken, dann habe ich mein bescheidenes Ziel erreicht.
Teil i Fröhliches Chaos (1972-1990)
1. Die Frage
Im Juni 2011 nahmen wir an einem Gottesdienst in der historischen Michaelis-Kirche in Bautzen teil. Zusammen mit vielen anderen beteten wir um die unversehrte Rückkehr von vier vermissten Teammitgliedern, die 2009 im Jemen entführt worden waren und spurlos verschwanden.
Nach dem Gottesdienst kam eine Reporterin auf uns zu. Da jemand ihr erzählt hatte, dass wir die medizinische Arbeit in Saada begonnen hatten, fragte sie uns: „Wenn Sie gewusst hätten, wie Ihre Arbeit im Jemen enden würde, hätten Sie dann jemals damit begonnen?“
Was für eine unmögliche Frage! Ich weiß nicht mehr genau, welche Antwort wir in dem Moment gaben. Aber später, nach vielem Nachdenken und Diskutieren, fiel mir das bekannte Zitat des dänischen Philosophen und Theologen Søren Kierkegaard ein, übrigens das einzige, das ich von ihm kenne: „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es vorwärts.“
Die Frage der Reporterin verrät vielleicht etwas über das zwanghafte Bedürfnis unserer westlichen Welt, die Kontrolle über alle Umstände des Lebens zu behalten. Kontrolle aber ist eine Illusion. Die meisten von uns müssen sich im Leben mit Situationen auseinandersetzen, über die sie wenig oder gar keine Kontrolle haben. Ich halte es sogar für eine Gnade Gottes, dass wir die Zukunft nicht kennen. Wer würde sonst wagen zu leben?
Hätten wir die Arbeit je begonnen? Um diese Frage ehrlich beantworten zu können, ist es nötig, an den Anfang zurückzugehen.
2. Bis ans ende der Welt
Am 28. Juli 1972 bestiegen Huib und ich mit unserem 16 Monate alten Sohn Vincent in Heathrow das Flugzeug, nachdem wir in England unser Visum für den Jemen erhalten hatten. Wir reisten gemeinsam mit vier anderen Freiwilligen von Worldwide Services. Huib und ich waren beide Ärzte. Nach Abschluss seines Studiums hatte Huib zwei Jahre lang in verschiedenen Abteilungen eines Krankenhauses gearbeitet. Ich hatte erst vor Kurzem, im Oktober 1971, mein Studium beendet. Gemeinsam nahmen wir in Amsterdam an einem Kurs für Tropenmedizin teil. Seit Beginn unserer Beziehung hatten wir beide den Traum, uns um Menschen zu kümmern, die keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hatten. Auf der Suche nach einem Entsendungsträger waren wir auf Worldwide Services gestoßen, eine kleine christliche Organisation, die eng mit anderen größeren zusammenarbeitete.
Bei der ersten Zwischenlandung in Paris streikte gerade das Reinigungspersonal des Flughafens. Vincent konnte noch nicht laufen, und es war völlig unmöglich, ihn stundenlang auf dem Schoß festzuhalten. So ließen wir ihn auf allen vieren auf Erkundungstour gehen. Sein weißes Jäckchen war bald nicht mehr weiß, denn er krabbelte begeistert auf dem schmutzigen Boden der Abflughalle herum. Irgendwie schien dies symbolisch zu sein für die saubere und ordentliche Welt, die wir gerade hinter uns ließen.
Wir flogen weiter nach Asmara in Eritrea (damals im Kaiserreich Abessinien), wo wir wieder einige Stunden warten mussten und die Nacht verbrachten. Am nächsten Morgen bestiegen wir gemeinsam mit einigen Jemeniten eine DC3 der jemenitischen Fluggesellschaft Yemeni Airlines. Es war ein altes Flugzeug und hatte weder Sicherheitsgurte noch Klapptische. Vincent saß bald
auf dem Schoß eines Jemeniten, während wir unser Frühstück in einer Art Schuhkarton serviert bekamen. Diese erste Begegnung mit Menschen aus dem Jemen lehrte uns zwei Dinge: Jemeniten sind sehr kinderlieb, und sie sind sehr praktisch veranlagt – die Kartons erwiesen sich bei den folgenden Flugturbulenzen als äußerst nützlich.
Wir ließen das Rote Meer hinter uns und flogen über die hohen, zerklüfteten Berge des Jemen. Sana’a, die Hauptstadt, liegt auf einer Hochebene von über 2400 Metern. Aus der Luft wirkte die Landschaft um Sana’a wie eine braun-grüne Patchworkdecke mit zahlreichen kleinen Feldern in verschiedenen Formen und Farben. Auf einer Art Aschenbahn am Rande der Stadt landeten wir. Als wir ausstiegen, kreisten hoch über uns Raubvögel am strahlend blauen Himmel. Magere streunende Hunde beobachteten uns aus einiger Entfernung. Ein Zollbeamter, der in einem Zelt neben der Landebahn saß, stempelte unsere Pässe ab, und so wurden wir in ein fremdes und faszinierendes Land am Ende der Welt eingelassen. Wir befanden uns in guter Gesellschaft: Der Jemen ist als das Land der Königin von Saba bekannt, die vom Ende der Welt kam, um die Weisheit Salomos zu hören.
Wir absolvierten einen dreimonatigen Arabisch-Intensivkurs, der im Rückblick viel zu kurz war, aber die Behörden bestanden darauf, dass wir so schnell wie möglich in Saada mit der Arbeit begannen. Die Sprache würden wir „ganz natürlich“ lernen, versicherte man uns.
Zu der Zeit gab es nicht viele Ausländer im Jemen, und die Menschen in Sana’a waren recht freundlich. Vor allem aber wollten sie wissen, warum wir gekommen waren. Wenn wir antworteten, dass unser Ziel die Stadt Saada in der gleichnamigen Provinz im hohen Norden sei, lächelten sie verständnisvoll oder vielleicht
sogar mitleidig. Einer erwiderte: „In Saada riecht man Geschichte.“ Genial ausgedrückt! Später entdeckten wir, dass es in Saada noch viel mehr zu riechen gab als Geschichte.
Bis 1962 war Imam Ahmed der Regent des Landes gewesen. Genau wie sein Vater Imam Yahya hatte dieser gewissenlose Fürst den Jemen mit eiserner Faust regiert und das Land völlig von der Außenwelt abgeschottet, sodass es sich in vielen Bereichen noch im Mittelalter zu befinden schien. Nur der Fürst und ein paar seiner Freunde besaßen ein Auto. Bildung und medizinische Versorgung waren Privilegien einer kleinen Elite. Elektrischer Strom, fließendes Wasser und andere „moderne“ Annehmlichkeiten fehlten weitgehend.
Als Imam Ahmed 1962 starb, übernahmen junge, im Irak ausgebildete jemenitische Offiziere die Macht, bevor Ahmeds Sohn seine Rolle als neues Staatsoberhaupt festigen konnte. Gerüchten zufolge musste er als Frau verkleidet aus Sana’a fliehen. Die Revolution am 26. September löste einen achtjährigen, blutigen Bürgerkrieg aus. Ägypten unterstützte die Republikaner, das konservative Saudi-Arabien dagegen die Royalisten. Deren Hausmacht befand sich hauptsächlich im Norden des Landes mit Saada als Hochburg.
Bei Kriegsende (1970) machte die neue Regierung den besiegten Royalisten von Saada große Versprechungen. Uns war nicht bewusst, dass wir zu deren Erfüllung beitragen sollten. Damals gab es in der gesamten Provinz Saada nicht ein einziges Krankenhaus. Und nun sollten wir ein kleines Krankenhaus aufbauen und betreiben als deutliches Signal dafür, dass der Regierung das Wohlergehen der ehemaligen Royalisten wichtig war. Dieses medizinische Freiwilligenteam aus dem Ausland schien vielen ein Geschenk des Himmels zu sein – und vielleicht waren wir das auch tatsächlich. Im Licht dieser Umstände lässt sich der Druck, dass wir so schnell
wie möglich mit der Arbeit beginnen sollten, nachvollziehen. Wir wurden also ins kalte Wasser geworfen.
3. ein Lehmhaus
Saada ist eine von einer Mauer umgebene mittelalterliche Stadt, die bei unserer Ankunft 6000 Einwohner zählte und deren Häuser aus Lehm bestanden. Lehmhäuser im Jemen sind nicht etwa einfache Hütten. Jemeniten bauen wunderschöne Häuser, die oft mehrere Stockwerke haben. Die Fenster dieser beeindruckenden Häuser sind mit weißen Putzrändern umgeben und im oberen Teil kunstvoll mit farbigem Glas gestaltet, fast wie bei uns Buntglasfenster in Kirchen.
Saada ist die Provinzhauptstadt und liegt, von Bergen umgeben, 1800 Meter hoch auf einer Ebene. Sonntags findet ein großer Markt statt, zu dem viele Menschen aus der ganzen Umgebung kommen. In den 1970er-Jahren lebten etwa 45 000 Menschen im Umkreis der Stadt.
Wir mieteten den zweiten Stock eines alten Lehmhauses. Im ersten Stock wohnte ein Dutzend arabische Lehrer aus Ägypten, Sudan und Palästina. Sie waren nicht zu überhören und meist ganz umgänglich, obwohl sie sich auch manchmal stritten. Außer ihnen waren wir die einzigen Ausländer in Saada.
Ein Kenner der arabischen Sprache in Sana’a hatte uns geholfen, arabische Namen für uns auszusuchen. Ich sollte Hadiya, „Geschenk“, heißen und Huib Hadi, „Führer“. Wir stellten jedoch bald fest, dass die Hauptmoschee in Saada Hadi-Moschee hieß und nach dem Begründer des Zaidi-Islam im Jemen benannt war. Der Name Hadi passte also nicht recht zu Huib. Die Lehrer
im Stock unter uns nannten ihn Walid1, was so viel wie „Neugeborener“ bedeutet. Walid war auch der Name eines berühmten muslimischen Kriegers aus der Zeit der Kreuzzüge. Irgendwie blieb der Name Walid an Huib hängen.
Die oberste Etage des Hauses war unbewohnt und wurde später von unserem Team als Wohnung für die Krankenschwestern gemietet. Unsere Etage hatte lange leer gestanden, bevor wir einzogen. So teilten wir sie zunächst mit einer Familie von Skorpionen und einem ganzen Volk von Kakerlaken. In unserem ersten Jahr in diesem Haus entdeckte ich etwa 30 Skorpione. Die Kakerlaken waren natürlich harmlos und zeigten sich vor allem im Dunkeln, wenn man nachts mit einer Taschenlampe auf die Toilette ging. Es gab noch keinen Strom. Bei Sonnenuntergang wurden die Öllampen angezündet. Wir hatten schon eine ÖlHochdrucklampe im Wohnzimmer, die helles Licht und viel Wärme verbreitete, aber die anderen Räume hatten nur einfache Öllampen.
Zusätzlich zu den gut erkennbaren Skorpionen und Kakerlaken gab es Legionen von nahezu unsichtbaren Lebewesen, die Sandfliegen. Das waren kleine, durchsichtige Fliegen, die tagsüber in den Ritzen der Wände schliefen und abends massenhaft in Erscheinung traten. Ihre Stiche waren ziemlich schmerzhaft –und übertrugen, wie wir im Tropenkurs gelernt hatten, auch unschöne Krankheiten. Zum Glück hatten wir uns Sandfliegennetze mitgebracht, und seit wir diese gut getarnten Feinde erkannt hatten, schliefen wir nie mehr ohne Fliegennetze.
Unser Haus lag direkt hinter dem Markt, dem Souk, wo ich meine Haushaltseinkäufe erledigen konnte. Da es keinen Strom gab, hatten wir auch keinen Kühlschrank. Die meisten Menschen
1 Die Betonung liegt auf der zweiten Silbe.
in Saada waren zwar schon einmal Männern aus dem Westen begegnet, aber keinen Frauen oder Kindern. So wurden Vincent und ich schnell zu lokalen Berühmtheiten. Eine Menschenmenge zog mit uns durch den Souk und beobachtete uns genau. Kinder versuchten, an Vincents weißblonden Haaren zu ziehen oder ihm in die rosigen Wangen zu kneifen. Schnell lernte er Arabisch und rief: „Utrokni!“ (Lasst mich in Ruhe!).
Einmal stand uns sogar ein Soldat bei. Mit seinem Gürtel schlug er auf die kleinen Peiniger ein. Ich muss gestehen, dass mir sein Eingreifen nicht unlieb war.
In diesem Lehmhaus wurde 1973 unsere Tochter Marieke geboren. Obwohl wir entzückt von unserer kleinen Tochter waren, wurde die Zeit nach der Geburt für mich doch sehr einsam. Eines Tages kamen zwei jemenitische Frauen zu Besuch. Eine von ihnen hatte ich nie zuvor gesehen. Und ich sah sie danach auch nie wieder. Beim Abschied fragte sie mich, ob ich wohl eine Flasche Shampoo für sie hätte.
Die andere Frau war Fatima, die mir eine gute Freundin werden sollte. Später erzählte sie mir, sie habe mich besucht, weil es ihr so leidtat, dass ich ganz allein und ohne Beistand meiner Mutter entbunden hatte. Meine Mutter war 1970 gestorben, meine Schwiegermutter 1972. Selbst wenn wir in den Niederlanden gewesen wären, hätte keine von beiden dabei sein können. Aber ich hätte doch gerne meine Schwester oder eine gute Freundin da gehabt. Fatima hatte durchaus recht mit ihrer Vermutung, dass ich einsam sei. Sie brachte eine Flasche Fruchtsirup und eine Dose Ananas mit. Ihr Mann betrieb an der Straße, die zum Krankenhaus führte, eine Schweißerei. Im Laufe der Zeit wurden Fatima und ihre ganze Familie gute Freunde unseres Teams. Fathia, ihre Tochter, war später die Arabischlehrerin
unserer Kinder und sollte die erste Frau Saadas werden, die eine Universität besuchte.
Mit zwei kleinen Kindern wurde das Wäschewaschen eine immer mühsamere Angelegenheit. In unserem Haus gab es zwar fließendes Wasser, aber es war schon gute Zeitplanung nötig, um es auch wirklich zur Verfügung zu haben. Wir wohnten gegenüber dem Postamt, und wenn der Postbeamte am Morgen Telegramme verschicken musste, schaltete er dazu den Generator ein. Das war das Signal für uns, sofort Wasser aus dem unteren Wassertank in den Tank aufs Dach zu pumpen. Der untere Tank war allerdings oft leer, weil die Stadt insgesamt nicht gut mit Wasser versorgt war. Dann musste Huib Wasser vom Krankenhaus mitbringen, wo es gewöhnlich genug davon gab, und es in Kanistern 600 Meter bis zu uns schleppen. Auf diese Weise lernten wir, sehr sparsam mit dem begrenzten Wasservorrat umzugehen.
Weil wir weder eine Waschmaschine noch einheimische Angestellte hatten, schrubbte ich die gesamte Wäsche von Hand. Dieser westliche Reinigungsfimmel blieb nicht unbemerkt. Wir bewohnten eines der höchsten Häuser der Gegend, und meine Wäsche hing gut sichtbar auf dem Flachdach auf der Wäscheleine. Prompt erzählte mir eines Tages eine Frau, die ein Stück weiter in Richtung Innenstadt wohnte, ich hätte 26 Socken auf der Leine gehabt!
Das Dach eignete sich nicht nur zum Wäschetrocknen, sondern auch als Auslauf für unsere Kinder. Wir hatten einen großen, festen Laufstall mit einem Sandkasten gezimmert, in dem die Kinder sicher waren. Sonst hätte die reale Gefahr bestanden, dass sie vom Dach gefallen wären. Immer wieder behandelten wir im Krankenhaus schwer verletzte Kinder, die von einem Dach oder aus einem Fenster gestürzt waren.
In diesem Lehmhaus lebten wir die ersten vier Jahre. Wir hatten sehr nette jemenitische Nachbarn, und es gab viele Kinder in der Umgebung. Mit manchen sind wir bis heute in Verbindung.
1977 zogen wir in ein Haus, das direkt neben dem Krankenhaus gebaut worden war. Schon bald nach unserem Auszug zeigte unser altes Haus Risse, sodass unsere Teamkollegen, die noch dort wohnten, wegen der Einsturzgefahr ebenfalls umziehen mussten. Es wurde gemunkelt, dass die Dschinns, die bösen Geister der Westler, dem Haus zugesetzt hätten. Wir vermuten, dass unser höherer Wasserverbrauch und das marode Abwassersystem einen mindestens ebenso großen Anteil daran hatten. Das Fundament wurde langsam, aber sicher unter dem Haus weggespült. Nach ein paar Jahren stürzte es teilweise ein und wurde dann ganz abgerissen.
4. Das Krankenhaus
1956 ließ Imam Ahmed ein kleines Krankenhaus in Saada errichten. Es bestand aus sechs Zimmern, die sich um einen Innenhof gruppierten. Dahinter befanden sich drei kleine Krankenzimmer, eine Küche und ein paar Hocktoiletten. In diesem aus Stein gebauten Haus gab es weder Wasser noch Strom. Das Rote Kreuz hatte es in den 1960er-Jahren während des Bürgerkriegs vorübergehend genutzt, aber in Friedenszeiten hatte es kaum als Krankenhaus fungiert. Nach der Revolution 1962 trug das Krankenhaus den stolzen Namen Saadah Republican Hospital, oder, wie es oft genannt wurde, Jumhuri Hospital. Jumhuri ist das arabische Wort für republikanisch.
Hin und wieder tauchte ein jemenitischer Arzt auf, der das Krankenhaus einige Monate leitete und dann wieder verschwand.
Es waren ein paar uralte Eisenbetten vorhanden, und die chirurgische Ausrüstung bestand aus einer Arterienklemme, einer Verbandsschere und einer Amputationssäge.
Rob, unser Krankenhaustechniker, und Will, unser Teamleiter, ein sehr begabter Zimmermann, kümmerten sich um das Gebäude und sorgten für Wasser und Strom. Huib begann in einem der Räume mit einer einfachen Sprechstunde. Zunächst kamen hauptsächlich Männer, aber langsam wuchs das Vertrauen, sodass auch Frauen und Kinder den Weg zu uns fanden. In den frühen 1970er-Jahren gab es in der Provinz Saada nur sehr wenige Autos. An der Stirnseite des Krankenhauses waren einige sehr nützliche schmiedeeiserne Ringe angebracht. Hier konnte man seinen Esel festbinden. Die Menschen legten teilweise erhebliche Strecken zu Fuß zurück, um das Krankenhaus zu erreichen. Nie werden wir den Vater vergessen, der seinen schwer kranken erwachsenen Sohn drei Tage lang durch die Berge zu uns getragen hatte. Aber die Tuberkulose war schon zu weit vorangeschritten. Der junge Mann starb kurz nach seiner Ankunft.
Wir hatten zwar einige grundlegende medizinische Instrumente und Medikamente mitgebracht, aber das reichte natürlich nicht, um ein Krankenhaus zu betreiben. Ursprünglich sollte Worldwide Services nur Dienstleistungen erbringen. Doch obwohl es sich beim Jumhuri Hospital um ein staatliches Krankenhaus handelte, wurde schnell klar, dass wir von der Regierung nicht viel erwarten konnten. Rückblickend vermuten wir, dass vielleicht der etwas anspruchsvolle Name unserer Organisation, Worldwide Services, die Regierung annehmen ließ, wir seien eine Zweigstelle der WHO oder einer anderen großen Nummer im Gesundheitswesen, die uns bald großzügig finanzieren würde.
Glücklicherweise hatten wir kurz zuvor eine große Spende einer Gemeinde in England erhalten, mit der wir die erste Medikamentenbestellung bezahlen konnten.
Ein größeres Problem stellte unsere schlechte Ausstattung dar. Wir trafen uns als kleines Team von Worldwide Services und baten Gott in kindlichem Vertrauen, uns das Nötige zu geben, damit das Krankenhaus betriebsbereit würde. Ende 1972 besuchte uns ein Bekannter aus den USA, der viel Erfahrung auf dem Gebiet von Entwicklungshilfe und Mission hatte. Bestimmt sah er mit Kennerblick schnell und viel besser als wir, vor welchen Schwierigkeiten wir standen.
Als er wieder in den USA war, gelang es ihm, ein Feldlazarett ausfindig zu machen. Diese völlig unbenutzten, komplett ausgestatteten Einrichtungen, die für eine zivile Katastrophe vorgesehen waren (die zum Glück nie eintrat), waren inzwischen 15 Jahre alt und wurden für 3000 Dollar pro Stück verkauft. Erstaunlicherweise war das ungefähr der Betrag, den wir zu der Zeit auf unserem Konto von Worldwide Services hatten. Unser Freund fand sogar eine Organisation, die die riesige Menge an Geräten und Ausrüstung kostenlos beförderte. Mit einem Schlag wurden wir zu einem der am besten ausgestatteten Krankenhäuser im damaligen Jemen. Für uns war das ein Wunder.
Doch wir brauchten noch weitere Wunder, damit das Krankenhaus betriebsbereit werden konnte. Obwohl wir noch keine regulären medizinischen Dienste anboten, gab es, zumindest auf dem Papier, eine Gruppe einheimischer Mitarbeiter, die von der Regierung bezahlt wurden. Die besten waren vier Krankenpfleger, die im Bürgerkrieg eine kurze Ausbildung beim Roten Kreuz durchlaufen hatten. Sie begriffen schnell, hatten praktische Begabung und waren hoch motiviert, so viel wie möglich zu lernen. Jahrelang arbeiteten wir mit diesen vier Männern zusammen.
Außerdem gab es eine ganze Reihe von Leuten in nicht näher definierten Positionen, die häufig noch eine Privatklinik im Souk betrieben und keinerlei Interesse an einem erfolgreichen Krankenhaus hatten. Die meisten hatten nur geringe medizinische Kenntnisse und empfanden uns eher als Konkurrenten für ihre privaten medizinischen Nebentätigkeiten. Zum Glück löste sich diese Gruppe nach und nach auf. Einige gingen in den Ruhestand, andere bekamen eine Stelle mit einer klaren Aufgabenbeschreibung, und wieder andere verließen Saada.
Zu unserem Team von Worldwide Services gehörten zwei Hebammen, die außerdem Krankenschwestern waren, und eine Krankenschwester mit Laborkenntnissen. Nach der Geburt von Marieke richtete ich an zwei Vormittagen der Woche eine Frauensprechstunde ein. Huib als einziger hauptberuflicher Arzt war sieben Tage in der Woche eingespannt.
Wie wir mit so geringen Arabischkenntnissen in der Ambulanz arbeiten konnten, ist mir bis heute ein Rätsel. In vieler Hinsicht war es wie in der Tiermedizin. Wir versuchten, die Beschwerden des Patienten zu verstehen, und führten dann eine grundlegende körperliche Untersuchung durch: Temperatur und Blutdruck messen, Herz und Lunge abhören, Leber und Milz auf Vergrößerungen abtasten. Ich hatte eine Assistentin namens Amatilla, ein 15-jähriges jemenitisches Mädchen, das bereits Heirat und Scheidung hinter sich hatte. Sie sprach kein Wort Englisch, war aber sehr intelligent und verstand bald mein begrenztes Arabisch. Wenn die Patienten ihre Beschwerden schilderten, übersetzte sie sie entsprechend meinem dürftigen Wortschatz. Versuchte ich dann, den Patienten etwas zu sagen, erweiterte Amatilla mein mangelhaftes Arabisch, sodass die Patienten es verstanden. Da sie von meinem Arabisch in richtiges Arabisch übersetzte, lernte ich
viel von ihr. Sie blieb mir immer eine gute Freundin, auch als sie später erneut heiratete und zehn Kinder bekam.
Huib stand ein Pfleger zur Seite, Abd al-Rahman, der etwas Englisch konnte. Viele Jahre lang war er Huibs sehr loyaler persönlicher Assistent und begleitete ihn auch bei Hausbesuchen. Abd al-Rahman nahm für uns eine Kassette mit grundlegendem medizinischem Vokabular auf, die wir bis zum Umfallen hörten. Ich kann seine Stimme immer noch hören:
al-Asnaan – Zähne; al-Lauwzatein – Mandeln; al-Fahalaat – Hoden.
Neben der Ambulanz gab es natürlich auch Notfälle. In den Anfangsjahren überwiesen wir nur sehr wenige Patienten, weil das nächstgelegene Krankenhaus in Sana’a war und viele Menschen sich die zehnstündige Fahrt nicht leisten konnten. Zunehmend kamen Unfallverletzte, Opfer von Schießereien und Messerstechereien und auch Frauen mit schwierigen Geburten zu uns.
Nach seinem Abschluss hatte Huib sich in Chirurgie, Geburtshilfe und Innerer Medizin weitergebildet, sodass er grundlegende Unterleibsoperationen und Kaiserschnitte durchführen konnte. Ich war dann seine Anästhesistin, wofür ich allerdings keine Ausbildung hatte. In den ersten Jahren verwendeten wir Äther mit einer Maske, später hatten wir ein EMO-Gerät, und noch später kamen Ketamin und Spinalanästhesie dazu.
Natürlich überstiegen manche Fälle unsere vorhandenen Geräte, Möglichkeiten und Kompetenzen. Diese Fälle strengten uns körperlich und emotional an und belasteten zudem unsere Beziehung. Zum Glück überlebten nicht nur die meisten Patienten, sondern auch unsere Ehe.
Einer unserer ersten Notfälle war ein Soldat mit einer Schusswunde im Bauchbereich. Er hatte viel Blut verloren, und Huib kämpfte vergeblich um sein Leben. Kurze Zeit später erschien ein Bruder des Verstorbenen im Krankenhaus. Nachdem sich sein Trauerausbruch etwas gelegt hatte, bat er Huib, seinem bedauernswerten Bruder die mit Gold überzogenen oberen Zähne zu ziehen. Wir waren noch neu in Saada und hatten kaum eine Ahnung von den kulturellen Aspekten, die mit Tod und Sterben verbunden waren. Vielleicht durfte man nicht mit künstlichen Körperteilen vor dem Richterstuhl Allahs erscheinen? Und schließlich war es nicht so schwer, ein paar Zähne zu ziehen. Also kam Huib seiner Bitte nach, nur um später zu erfahren, dass der Soldat gar keine Brüder gehabt hatte.
Mit der Möglichkeit der Kreuzprobe zur Blutgruppenbestimmung konnten wir mehr Menschen das Leben retten, die einen hohen Blutverlust erlitten hatten. Wir konnten vielen Menschen helfen, aber leider nicht allen.
Die Arbeitsbelastung in diesen ersten Jahren war unglaublich. Bis 1978 waren Huib und ich die einzigen Ärzte im Team. Es kamen jedoch einige sehr fähige und engagierte Krankenschwestern und Hebammen dazu.
In dieser Anfangszeit machte Huib viele Hausbesuche. Sie standen an, wenn Patienten zu krank oder zu alt waren, um zu uns zu kommen. Huib war dann per Motorradtaxi unterwegs, oft in Begleitung von Abd al-Rahman, und lernte viele Menschen in der Umgebung kennen. Bei diesen Besuchen führte Huib Zangengeburten durch, öffnete Abszesse, behandelte Infektionen und versorgte psychisch Kranke, die in ihren Wohnungen angekettet waren.
In Saada gibt es viele Volksstämme, und jeder Stamm hat seinen eigenen Scheich. Bei seinen Hausbesuchen verarztete Huib
viele Verwandte solcher Scheichs. Wir waren nicht gerade begeistert, wenn wieder einmal jemand an unsere Tür klopfte und uns bat, einen Scheich zu behandeln. In späteren Jahren jedoch erwiesen sich diese Beziehungen zu einer Reihe von einflussreichen Männern als sehr förderlich.
5. Kamelmilch
Aus der allerersten Entbindung, die Huib im Jemen durchführte, entwickelte sich eine ganz besondere Freundschaft. Während der ersten zwei Monate in Saada – bevor ich mit Vincent in den Norden nachkam – wohnten Huib und Rob in einem der Räume des Krankenhauses.
Eines Nachts erschien ein unbekannter junger Mann mit einem freundlichen, offenen Gesicht auf der Station. Er stellte sich als Abdullah Rarim vor und fragte, ob der neue Arzt aus den Niederlanden bitte mit ihm in sein Dorf kommen könne, seine Schwester liege in den Wehen und habe starke Schmerzen. Zu dieser Zeit gab es in Saada noch keinen Strom. In der Stadt und drum herum war es stockdunkel.
Abdullah war mit einem alten Wassertankwagen gekommen und hatte ihn vor dem Krankenhaus geparkt. Mit dem Wagen wurde Brunnenwasser aus Abdullahs Dorf Roraz ausgeliefert. Huib kletterte in den Lastwagen und setzte sich neben Abdullah. Obwohl das Dorf nur vier Kilometer entfernt lag, dauerte die Fahrt fast eine halbe Stunde, weil der alte Wasserwagen nur langsam über den holprigen Weg vorwärtskam.
Abdullahs Schwester hatte tatsächlich sehr starke Schmerzen. Der Muttermund war fast vollständig geweitet, und sie gebar, kurz
nachdem Huib sie untersucht hatte, ohne weitere Maßnahmen. Nun baten sie Huib, dem Mädchen einen Namen zu geben. Huib sagte wohlmeinend, dass es ein schönes Baby sei, und so wurde das Kind Jamila, „die Schöne“, genannt. Abdullah schlug Huib vor, für den Rest der Nacht bei ihnen zu bleiben. Im Morgengrauen fuhr er ihn dann zurück nach Saada.
Seitdem wurden wir regelmäßig ins Haus der Familie Rarim eingeladen. Hier tranken wir zum allerersten Mal Kamelmilch, warm und schaumig, ganz frisch vom Kamel. Abdullah hatte einen Bauernhof mit einer natürlichen Trinkwasserquelle, die zugleich eine Einnahmequelle für ihn darstellte. Er war ein echter Unternehmer, reiste viel und importierte Autos, die er in Saudi-Arabien kaufte und mit anderen Waren nach Saada brachte. Außerdem war er Bauunternehmer; unter anderem leitete er den Bau einer neuen Jungenschule in Saada. Er war wirklich ein Mann mit vielen Fähigkeiten und großem Elan.
Eines Tages brachte er sogar für Vincent, der noch keine drei Jahre alt war, ein Dreirad mit. Er hatte es in Saudi-Arabien erstanden. Viele Jahre später erfuhren wir von seinem ältesten Sohn Ali, der etwa ein Jahr älter war als Vincent, dass sein Vater dieses Dreirad eigentlich für ihn gekauft hatte, sich nach reiflicher Überlegung aber entschieden hatte, es Vincent zu geben. Es verwundert wenig, dass Ali das überhaupt nicht gut fand. Abdullahs Vater war schon vor Jahren gestorben, aber seine Mutter lebte noch. In unseren Augen war sie eine ältere Frau, doch wenn man das Alter ihres Sohnes und ihrer beiden Töchter bedenkt, war sie wahrscheinlich jünger, als wir dachten. Einmal saßen wir mit Abdullah im Garten unter einem großen Baum mit wunderschönen Feigen. Abdullah fragte uns, ob wir nicht ein paar Feigen probieren wollten. Genau in diesem Moment