#RESPEKTVOLL LEBEN
Eine Sommercamp-Geschichte
Die Handlungsgeschichte und die damit verbundenen Personen/Charaktere dieses Buches sind frei erfunden.
Medizinische Entwicklungen gehen weiter und können sich daher in kurzer Zeit ändern! Auch wenn alle medizinischen Angaben zur Drucklegung sorgfältig recherchiert sind, entbindet dies niemanden davon, sich bei offenen Fragen oder medizinischen Problemen vor Ort eine ärztliche Meinung oder einen persönlichen Rat einzuholen. Ein Buch kann diese nicht ersetzen.
Dr. med. Ute Buth
#RESPEKTVOLL LEBEN
Eine Sommercamp-Geschichte mit Pubertätsguide
Best.-Nr. 271861
ISBN 978-3-86353-861-3
Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg
Es wurden folgende Bibelübersetzungen verwendet:
Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.
Hoffnung für alle TM
Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc. Used with permission. All rights reserved worldwide.
1. Auflage
© 2023 Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg www.cv-dillenburg.de
Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg Umschlagmotiv: Johanna Fleischer
Illustrationen: Johanna Fleischer, Hans-Jörg Nisch, Siska Hudaja
Druck: ARKA, Cieszyn
Printed in Poland
FERIENSTART, RIESENSORGEN & EIN
GEWAGTER PLAN
Phil und Leni sitzen nachdenklich im Schatten unter dem großen Apfelbaum.
Hier hinten im Garten sind sie meist ganz ungestört und genießen ihren Rückzugsort. Doch heute sitzen die Geschwister gedankenverloren da und grübeln vor sich hin. Freude über den Ferienstart sieht anders aus. Plötzlich setzt sich Phil mit einem Ruck auf. Er dreht sich zu Leni und flüstert:
„Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen – ihr Entschluss scheint festzustehen ... Also, ich mache da nicht mit! Es muss einen anderen Weg geben“, ergänzt er energisch und seufzt.
Leni nickt traurig: „Ja, gar keine Frage. Ich finde auch, sie hätten uns mindestens fragen müssen! In die Schweiz will ich auf gar keinen Fall!“
Den strahlend blauen Juli-Himmel würdigt sie mit keinem Blick. Dabei ist es eigentlich das perfekte Ferienwetter. Schon am Vormittag klettern die Temperaturen auf dem Thermometer in astronomische Höhen. Grillen zirpen im Gras. Der Duft von blühenden Blumen liegt in der Luft. Und der Garten ist hier voller Blumen. Dafür sorgt liebevoll Frau Lieser. Ihr gehört das hübsche Haus mit dem weitläufigen, gepflegten Garten.
Schon seit Herbst letzten Jahres bewohnen Leni und Phil mit ihren Eltern die winzige Dachgeschosswohnung im Haus der älteren Dame. Und dabei ist „winzig“ nicht übertrieben. Neben Küche, Bad und einem kleinen Flur gibt es darin tatsächlich nur zwei Zimmer. Und leider keinen Balkon. Wann immer die zwei können und das Wetter es zulässt, sind sie deshalb draußen –weit hinten im Garten – unter ihrem Apfelbaum anzutreffen.
Das ist auch kein Wunder, denn Phil und Leni müssen sich das Zimmer teilen. Dabei geht es ihnen noch besser als ihren Eltern. Die haben gar keinen eigenen Raum und schlafen im Wohnzimmer.
Wie gut, dass Frau Lieser Kinder liebt und viel Verständnis für die zwei hat. Manchmal serviert sie ihnen sogar schmunzelnd Limonade unter ihrem Apfelbaum.
Phil hat einen Moment geschwiegen. Er starrt düster vor sich hin. Schließlich stimmt er Leni zu: „Definitiv muss es und wird es einen anderen Plan geben! Auch wenn sie Geldsorgen haben. Und wenn wir selbst dafür sorgen müssen.“ Phil ist ziemlich frustriert und lässt erst mal Dampf ab. „Okay, klar, nachdem Paps seine Arbeit verloren hat, müssen wir uns die große Neubauwohnung mit Garten abschminken und können keine so großen Sprünge machen.“
Leni schüttelt unwillig den Kopf. „Aber mal ehrlich: Das verstehen wir doch alles. Und wir stehen das bisher doch ganz gut gemeinsam durch. Als ganze Familie. Ja, wir sind alle mal genervt, weil wir in dieser winzigen Wohnung nur das halbe Jahr überbrücken wollten, bis unsere neue Wohnung fertig sein sollte. Aber wir kriegen uns doch auch alle wieder ein.“
Phil murmelt gedankenverloren: „Und deshalb bekomme ich eines nicht in meinen Kopf rein: dass sie uns einfach vor vollendete Tatsachen setzen! Wie sie bloß darauf kommen, uns in die Schweiz zu verfrachten! Und dann noch getarnt als Urlaub. Puh, und jetzt muss das auch noch unsere lang ersehnten Sommerferien lahmlegen ...“
Er schluckt den Kloß im Hals herunter und fährt fort: „Dabei könnten wir doch auch noch länger hier bei Frau Lieser wohnen bleiben. Immerhin haben wir uns alle inzwischen an die kleine Wohnung gewöhnt.“ Er stupst Leni an. „Und wir zwei haben es uns in unserem gemeinsamen Zimmer doch auch ganz gut eingerichtet.“
Leni stimmt ihm zu: „Ja, viel Platz ist da nicht, und mein Traumzimmer sieht auch anders aus, aber mit dem Etagenbett hat es sich gut eingespielt. Ich kapiere einfach nicht, wieso sie unbedingt jetzt meinen, etwas unternehmen zu müssen. Ob sie uns das nicht zutrauen? Es liegt doch an uns, ob wir das hinkriegen.“ Sie schüttelt verständnislos den Kopf und wischt sich empört über die Augen. Als Vorsichtsmaßnahme. Nicht, dass die sich als undicht erweisen und auslaufen wollen. „Pah! Am liebsten würde ich mich einfach in Luft auflösen oder unsichtbar werden, bevor sie losfahren wollen. Wenn sie uns nicht finden, müsste diese blöde Reise ausfallen!“ Phil nickt traurig und seufzt. „Ja, wenn das so einfach wäre.“
Im Blumenbeet nebenan verschwindet gerade eine dicke, summende Hummel komplett in einem Blütenkelch. Leni hat sie auf ihrem Flug
schon eine Weile mit den Augen verfolgt. Sie versucht ein schiefes Grinsen und sagt nachdenklich: „Schau mal, Phil! Die Hummel hat eine coole Technik, sich unsichtbar zu machen. Hummel müsste man sein.“
Phil hebt irritiert den Kopf. „Hä? Was müsste man sein? Ich höre immer nur Hummel ... Ich kann dir nicht folgen. Was meinst du?“
Leni zeigt auf die duftenden gelben Blumen im benachbarten Blumenbeet: „Siehst du die gelben Blüten von den Löwenmäulchen dort? Ganz außen, rechts oben. Dadrin ist gerade eine richtig dicke Hummel abgetaucht. Für sie ist das die perfekte Tarnung. Bis sie wieder rausfliegt, ist sie unsichtbar.“
Phil fixiert den Blütenkelch ungläubig mit den Augen und beugt sich dann zum Beet hinüber. „Eine dicke Hummel? Dadrin? Bist du sicher? Wo denn, bitteschön?“ Er rückt noch näher an die Blume heran und wackelt vorsichtig daran. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Blüten sehen doch alle gleich aus. Hoppla ...“
Fast wie aufs Stichwort schießt die besagte Hummel mit Schwung aus dem Blütenkelch heraus. Nur knapp verpasst sie Phils Kopf. Das dröhnende Brummen an seinem rechten Ohr hallt noch einen Moment nach. Als er ihr überrascht nachschaut, sieht er gerade noch, wie sie weiter hinten im Beet zielstrebig das nächste Löwenmäulchen ansteuert. Energisch hebt sie den oberen Teil der Blüte an. Blitzschnell ist sie wieder hinab in die Tiefen des Blütenkelchs getaucht und komplett von der Bildfläche verschwunden.
Phil grinst breit. „Unglaublich. Ich hätte nie gedacht, dass sie da drin ist. Das ist ja eine echt coole Blumentarnkappe. Von außen sieht man überhaupt nicht, ob ein Insekt drin ist oder nicht. Gar keine schlechte Idee ...“
Er überlegt noch einen Moment weiter. Dann grinst er plötzlich breit zu Leni hinüber. „Zurück zu unserer Problemlage oder besser Herausforderung. Du wärst also gern unsichtbar?“ Leni zuckt mit den Schultern und schaut ihn fragend an. „Klar, wenn das helfen würde, dass wir nicht in die Schweiz müssen?“ Phil nickt. „Mm. Gar keine schlechte Idee. Das könnte funktionieren.“ Leni schaut ihn ungeduldig an. „Nun spuck's schon aus! Was meinst du?“ Phil lächelt. „Okay, wie wäre es denn, wenn wir ab heute ein paar Tage Urlaub bei Max und seiner Schwester Moya machen?“, fragt er leise.
Leni starrt ihren großen Bruder fragend an und wendet irritiert ein: „Aber, das geht doch gar nicht. Die sind doch weg ... zum Sommercamp!“
Phil unterbricht sie rasch: „Pst, leise!“ Er schaut sich vorsichtig um. Dann raunt er: „Eben deshalb! Denk doch mal an die Hummel! Aber das sollten wir hier draußen lieber nicht so laut besprechen. Man weiß ja nie ...“ Er rückt zu ihr hinüber und erklärt ihr flüsternd seinen Plan. „Und ja, ich weiß, was du meinst. Mach dir keine Gedanken darüber! Das passt doch prima zu unserer Tarnung. Überleg mal! Zu einem Besuch bei unseren Freunden können wir problemlos und ohne weitere Erklärung unsere Schlafsäcke und ein paar Wechselsachen mitnehmen. Alles, was man eben für ein paar Tage Urlaub bei Freunden braucht.“
Leni überlegt ein wenig und schaut Phil dann nachdenklich an. „Du meinst, dass unsere Eltern denken, dass wir bei ihnen zu Hause sind. Aber wo sollen wir denn schlafen?“ Phil lächelt und erklärt flüsternd: „Wir fahren erst mal einfach in ihre Nähe, zum Badesee, wo das Camp stattfindet. Da suchen wir uns dann einen Unterschlupf. Gut, dass Sommer ist. Da können wir im Schlafsack problemlos draußen schlafen. Und irgendwie verbringen wir dann ja unseren Urlaub auch bei ihnen – in ihrer Nähe.“
Zögernd hellen sich Lenis Gesichtszüge auf. Sie antwortet: „Nur, dass sie uns da nicht entdecken dürfen ... Aber ja, als Erklärung für unsere Eltern könnte der Besuch vielleicht taugen. Ein Wochenende haben wir erst letzten Monat bei ihnen verbracht und sie auch sonst ein paarmal getroffen ... Du meinst also echt, das könnte klappen?“
Phil nickt zuversichtlich. „Warum nicht? Unsere Eltern kennen ihre Eltern ja schon ein wenig. Und Paps und Ma sind doch gerade ziemlich mit sich selbst beschäftigt. Auf einen Versuch sollten wir es ankommen lassen. Eine andere Idee habe ich nun mal fürs Erste bedauerlicherweise nicht. Aber so könnten wir die Fahrt in die Schweiz zumindest verhindern. Vielleicht lassen sie dann ja mit sich reden, wenn ihr Plan A nicht funktionieren kann ... Danach können wir immer noch weitersehen. Oder ist dir noch etwas eingefallen?“
Leni schüttelt frustriert den Kopf. „Leider nicht. Ich wünschte nur, wir hätten das vor ein paar Tagen nicht mitbekommen. Wie können sie uns das antun? Ich will nicht weg aus Deutschland. Ich will in meiner Klasse bleiben. Keine zehn Pferde kriegen mich in der Schweiz in eine Schule.“ Leni seufzt traurig.
Phil nickt bedrückt. „Ja, das geht mir auch immer wieder durch den Kopf. Aber sonst hätten wir es auch nur später erfahren. Und dann wäre der
Schreck umso stärker gewesen. Ändern würde es nichts. Jetzt haben wir immerhin einen Vorsprung vor diesem sogenannten Urlaub.“
Leni nickt traurig und empört zugleich. „Ja, ich wünschte auch, dass das nur ein blöder Traum war, der sich einfach in Luft auflöst. Aber das ist ja leider nicht so. Wir haben es mit eigenen Ohren gehört. Was in aller Welt sollen wir bei völlig fremden Verwandten in der Schweiz? Ich meine, die können ja nichts dafür. Aber ich kann sie jetzt schon nicht leiden. Ich will nicht in der Schweiz sein.“ Sie seufzt. „Okay, also versuchen wir es. Das werden dann ganz andere Sommerferien als sonst. Ich hoffe so sehr, dass wir später eine andere Lösung finden, auch wenn ich noch keine Idee habe, wie die aussehen soll“, meint sie zweifelnd. „Aber sag mal, wie wollen wir es ihnen denn mitteilen? Ma kommt doch abends meist erst heim, wenn wir schon schlafen. Und morgens, wenn wir ausgeschlafen haben, ist sie schon längst wieder weg. Bis zum Wochenende können wir nicht mehr warten. Und ich fürchte, ich kann das nicht gut rüberbringen. Fragst du bei Paps nach?“
Phil schaut grübelnd nach oben zu den kleinen Dachfenstern. Dann nickt er entschlossen. „Ja, das kriege ich schon hin. Wahrscheinlich wird er sogar ganz froh sein, ein paar Tage Ruhe zu haben.“
Kurz vor zwölf Uhr erscheint ihr Vater am Dachfenster und ruft sie zum Mittagessen. Rasch laufen sie nach oben. Phil überlegt angestrengt, wann er eine gute Gelegenheit für ihre Frage nutzen kann. Doch kaum haben sie den ersten Happen gegessen, klingelt das Handy seines Vaters. Ein Blick auf das Display, und er springt erschrocken auf. Das Gespräch nimmt er direkt drüben im winzigen Wohnungsflur an. Von dort hören sie seine gedämpfte Stimme.
„Reimers hier ... Oh, guten Tag, Herr Schuster. ... Nein, kein Problem, was möchten Sie denn? ... Oh ... Ja, klar ..., das verstehe ich natürlich ... Doch, doch, das kann ich einrichten ... Ich mache mich direkt auf den Weg. Bis gleich. Ich denke, ich kann in einer guten Dreiviertelstunde da sein. Vielen Dank, dass Sie es trotzdem ermöglichen.“
Er legt auf. Als sei bei einem Wettkampf der Startschuss gefallen, sprintet er los. Er flitzt zum Kleiderschrank, zieht rasch seine Jeans und das Shirt aus. In Windeseile schlüpft er in Hemd und Anzug. Mit der Krawatte in der Hand eilt er ins Bad. Dann geht’s hinüber zur Garderobe, rein in die Schuhe ... Plötzlich erblickt er seinen Sohn, der im Türrahmen steht.
„Oh nein, Phil. Ich habe euch ja noch gar nicht Bescheid gesagt. Das tut mir leid. Es ist gerade leider sehr hektisch geworden. Am Telefon eben war die Schreinerei. Nun habe ich nach so vielen Absagen endlich einmal ein Vorstellungsgespräch, wenn auch in meinem alten Beruf. Aber egal. Und dann ziehen sie es zwei Stunden vor ...“ Er verdreht seufzend die Augen. „Wegen einer Familienangelegenheit von jemandem aus der Personalabteilung. Was ich natürlich verstehe, es aber nicht weniger stressig für mich macht ...“ Er spricht schnell und wirkt gehetzt. „Wolltest du denn etwas von mir? Gibt es etwas Dringendes?“
Phil schluckt und nickt. Dann beeilt er sich: „Ja, schon. Ich mache es auch ganz kurz, damit du schnell loskannst. Also, wo jetzt Sommerferien sind und unser eigentlicher Urlaub ja leider ausgefallen ist, hängen Leni und ich hier ziemlich gelangweilt rum. Und da haben wir beide überlegt, dass wir gern ein paar Tage bei Moya und Max verbringen würden.“
Herr Reimers sieht prüfend zu Leni hinüber. Die nickt zustimmend. Ihr Vater runzelt die Stirn. „Tja, ich würde euch auch gern mehr bieten, aber es geht ja leider im Moment nicht. Das tut mir sehr leid. Und bis wir für die paar Tage zu Onkel Bruno und Tante Matilde in die Schweiz fahren, sind es ja auch noch fast anderthalb Wochen.“
Phil und Leni schauen sich wortlos an und nicken bedrückt.
Ihr Vater seufzt. „Verstehe. Vielleicht ist das ja sogar eine gute Idee, bevor ihr hier noch vor Langeweile umkommt ... Also, wenn es für euch beide und für die anderen auch schön ist, von mir aus gern. Wir mögen Max und Moya und ihre Eltern. Ich denke, da seid ihr gut aufgehoben.“
Er überlegt. „Ich hoffe, für Mama ist es auch okay, aber vielleicht ist es ganz gut, wenn sie nach den vielen Überstunden am Wochenende etwas Ruhe hat.“ Herr Reimers zieht seine Krawatte gerade.
Leni atmet vorsichtig auf. ‚Das läuft ja besser als gedacht‘, freut sie sich insgeheim. Doch mit einem Mal dreht sich ihr Vater auf dem Absatz um und schaut sie ernst an. „Ihre Eltern sind ja wohl auch einverstanden", sagt er gedankenverloren. Leni stockt der Atem. ‚War das jetzt eine Feststellung oder doch eine Frage? Oh nein! Hoffentlich will er das nicht genauer wissen.‘ Sorgenfalten erscheinen auf seiner Stirn. Beunruhigt erkundigt er sich: „Aber wird es ihnen mit vier Kindern nicht zu viel?“
Phil reagiert schnell und beruhigt ihn. „Ganz bestimmt nicht. Wir nehmen sogar unsere Schlafsäcke mit. Dann braucht es keine Bettsachen. Ihre Eltern lassen wir total in Ruhe. Die kriegen gar nicht mit, dass wir da sind. Und du hättest auch ein paar Tage Ruhe für die Bewerbungen. Du hast ja im Moment genug Stress.“
Herr Reimers seufzt. „Ja, allerdings. Es tut mir total leid, dass ihr das alles mitbekommt. Aber das lässt sich gerade leider nicht ändern, besonders hier in der kleinen Wohnung nicht. Und dass ich mich jetzt auch noch für meinen alten Beruf bewerben soll, bringt noch mal mehr Unruhe rein. Ich meine, nicht, dass ich nicht gern baue und tüftle, aber ich würde so gern einfach wieder da anknüpfen, wo ich zuletzt war. Doch das Leben ist kein Wunschkonzert.“
Er zuckt unglücklich mit den Schultern. „Wie auch immer. Ich muss jetzt dringend los. Versteht mich bitte nicht falsch! Ich werde Steinerts später auf jeden Fall noch anrufen, ob es ihnen auch wirklich recht ist. Grüßt sie bitte schon mal von mir!“, trägt ihnen ihr Vater auf. Leni wird es vor Schreck innerlich ganz schummerig. ‚Oh, nein! Wenn er anruft, fliegen wir doch gleich auf‘, schießt es ihr durch den Kopf. Hilfesuchend schaut sie zu Phil hinüber. Hoffentlich fällt ihm irgendetwas ein, um das abzuwenden.
Doch noch ehe sie Blickkontakt mit ihm aufnehmen kann, setzt Phil zur
Antwort an. Leni hält den Atem an, als er sagt: „Klar, mach das! Ruf sie gern an, wenn du meinst! Neulich waren sie jedenfalls echt froh, als wir das Wochenende zusammen verbracht haben. Sie haben sogar Pizza für uns bestellt, weil sie dann Ruhe zum Arbeiten hatten.“ Phil antwortet, als wäre es die natürlichste Sache von der ganzen Welt. Leni ist entsetzt. ‚Ja, versteht er denn nicht, was er da gerade macht?‘
Phil jedoch lächelt und führt das Gespräch weiter, als wenn nichts gewesen wäre. „Du weißt doch, Max und Moyas Eltern sind beruflich oft im Stress. Denen ist es wahrscheinlich auch lieber, wenn wir uns miteinander beschäftigen.“ Herr Reimers nickt nachdenklich. „Ja, vielleicht hilft ihnen das. Aber das ganze Drumherum ...“ Inzwischen ist Leni total schlecht. ‚Bestimmt sieht man mir an, dass meine Knie ganz weich sind‘, denkt sie verzweifelt.
Phil aber nickt verständnisvoll und antwortet seinem Vater: „Daran haben wir auch schon gedacht. Wir nehmen extra auch etwas Verpflegung mit, damit wir ihnen nicht zur Last fallen. Und wenn wir nicht da sind, kann
Ma sich auch besser ausruhen, wo sie jetzt so viel arbeitet. Ihr müsst nicht für uns kochen. Sagst du ihr Bescheid? Wir wollen sie jetzt nicht auf der Arbeit stören.“ Leni hält die Luft an. ‚Hoffentlich endet dieser Thriller bald. Oder hat Paps am Ende doch schon Verdacht geschöpft?‘
Doch Herr Reimer nickt nur gedankenverloren. „Ja, das mache ich. Ihr könnt Mama ja heute oder morgen noch anrufen.“ Plötzlich fällt sein Blick auf sein Smartphone. „Oh, nein, ich bin jetzt wirklich spät dran. Ich muss dringend los.
Sonst verpasse ich noch die Bahn. Es tut mir leid, dass das Vorstellungsgespräch jetzt alles auf den Kopf stellt.“ Er seufzt. „Hoffentlich lohnt sich der Stress wenigstens. Leider hat Mama ja auch das Auto, sonst hätte ich euch gern auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch bei Steinerts abgesetzt.“
Phil winkt ab. „Kein Problem. Wir nehmen eh die Räder. Dann können wir Ausflüge machen. Du weißt doch, was für eine Sportskanone Max ist. Fahr du mal jetzt zügig los – und alles Gute für dein Vorstellungsgespräch!“
Herr Reimers nickt flüchtig und ist schon zur Tür hinaus. Dann steckt er noch mal den Kopf herein: „Danke. Nehmt bitte eure Handys mit, damit wir euch erreichen können!“ Die Tür fällt ins Schloss. Und schon ist ihr Vater verschwunden.
Leni wartet noch einen Moment. Entsetzt starrt sie ihren großen Bruder an. „Mensch, Phil, mir ist fast das Herz stehen geblieben. Wie konntest du ihm bloß sagen, dass er bei Steinerts anrufen soll? Dann ist doch gleich alles aus.“ Leni ist kreideweiß und schüttelt den Kopf. „Ich glaube kaum, dass er es in seinem Stress vergisst oder plötzlich doch nicht mehr wichtig findet. Paps macht sich doch immer so viele Gedanken, wie es für die anderen ist. Darauf hätten wir auch kommen können, dass er darauf besteht, da anzurufen!“ Sie ist ganz aufgeregt und fertig zugleich. Ein ganzer Wortschwall entlädt sich über Phil: „Überleg doch mal, jetzt ist nicht nur unser einziger Plan gerade komplett den Bach runter gegangen. Nein, nach dem Telefonat mit Steinerts wird er auch noch ganz genau von uns wissen wollen, wie in aller Welt wir ihm so einen Blödsinn auftischen konnten!“
Mitten in ihren Satz hinein mischt sich eine durchdringende Melodie. Phil und Leni zucken zusammen. Sie sind wie erstarrt. Ihre Augen wandern zum Telefon. Auch Phil bricht jetzt der Schweiß aus. Tonlos sagt er: „Was, wenn das Papa ist, und er es sich anders überlegt hat?“ Sie halten die Luft an
und bewegen sich keinen Zentimeter. Als könnte der Anrufer an Bewegungen erkennen, ob jemand zu Hause ist. Es zieht sich ewig, bis der Anrufbeantworter seinen Spruch aufgesagt hat. Wird er eine Nachricht aufnehmen? Angespannt horchen sie nach dem Piep-Ton. Tatsächlich. Sie zucken zusammen. Es ist Ma. „Hallo, ihr Lieben, gerade musste ich an euch denken. Ich vermisse euch und wollte einfach mal hören, wie es euch geht. Leider erreiche ich euch jetzt nicht.“ Stumm starren sich Leni und Phil an. ‚Auch das noch ...‘
Die Stimme ihrer Mutter ist wackelig, als sie fortfährt. „Leider muss ich heute länger arbeiten und am frühen Abend noch bei einem Kunden vorbeifahren. Das tut mir echt leid. Esst bitte schon mal ohne mich. Ich habe euch lieb.“
Nachdem der Anrufbeantworter sich ausgeschaltet hat, schluckt Leni und sagt vorsichtig: „Puh, ich dachte schon, das war es. Gar nicht so einfach, Ma zu hören und nicht dranzugehen. Was sie wohl denkt, wenn sie hört, dass wir weggefahren sind, obwohl ...“ Leni stutzt. Schlagartig fällt ihr der angekündigte Anruf ihres Vaters bei Steinerts wieder ein. Entmutigt sagt sie: „Egal, das hat ja jetzt alles eh keinen Sinn mehr ...“
Phil lächelt und knufft sie vorsichtig mit der Faust. „Hey, entspann dich, Schwesterherz! Unser Plan ist immer noch brandaktuell. Paps kann da ruhig anrufen. Er wird vorerst niemanden erreichen!“ Irritiert schaut Leni auf. „Wie jetzt? Wie willst du das denn bitteschön verhindern?“ Phil grinst verlegen und meint. „Ich? Gar nicht.“ Bevor Leni ärgerlich wird, ergänzt er rasch: „Als ich ihm sagte: ‚Die kriegen gar nicht mit, dass wir da sind‘“ – er grinst verlegen –, „da war ich einfach nur ehrlich! Weißt du, Max hat neulich in der Schule erzählt, dass seine Eltern echt froh sind, dass sie beide ins Camp fahren. Denn sein Vater muss heute für einige Tage dienstlich nach Frankreich fahren, in die Nähe von Paris. Und da nutzen seine Eltern die Gelegenheit. Seine Mutter fährt mit auf die Dienstreise. Sie haben sich wohl damals in Paris verlobt und wollen das noch mal feiern. Wie auch immer. Gut für uns. Zwar sind sie, bevor das Camp endet, wohl wieder zurück, aber bis dahin sind wir schon ein paar Tage weg.“ Leni schüttelt sich. „Oh no, was für ein Stress! Das hättest du mir auch schon vorhin sagen können“, knurrt sie. „Puh, mir hat sich vielleicht der Magen umgedreht. Gib mir einen Moment, um mich wieder einzukriegen!“ Sie seufzt. „Gut, dass Paps nicht noch mehr nachgefragt hat. Mit Ma wäre das nicht so einfach gewesen.“
Phil nickt. „Ja, aber während der Woche ist sie ja fast nur noch zum Schlafen hier, auch wegen der langen Fahrzeit. Überleg mal, gut zweieinhalb Stunden für Hin- und Rückfahrt jeden Tag, ohne Stau ... Und dass Paps seinen Job verloren hat und nun schon so lange vergeblich nach einer neuen Arbeit sucht, nimmt sie auch ordentlich mit.“
Leni schüttelt unwillig den Kopf. „Hör bloß auf! Da muss ich dir später noch was zu erzählen. Aber überleg mal, wir reden hier so lange, das ist nicht schlau! Das können wir auch nachher noch. Lass uns lieber aufbrechen, bevor Paps noch zurückkommt und es sich anders überlegt hat!“
Phil nickt. „Ja, du hast total recht. Moment. So, hier ist die Taschenlampe. Die muss auf jeden Fall mit! Komm, lass uns noch schnell das Geld aus unseren Spardosen holen!“
Beide laufen in ihr gemeinsames Zimmer. Leni zuckt frustriert mit den Schultern. „Oh no! Das wird wohl nicht viel ergeben. Wir haben ja letzten Monat alles aufs Sparbuch eingezahlt.“ Schnell greifen beide nach ihren Spardosen. Leni schüttelt das wenige Geld aus der Dose. „Fehlanzeige. Knapp drei Euro. Nicht wirklich ergiebig.“
Phil seufzt. „Bei mir ist auch ziemlich Ebbe in der Kasse. Dann lass uns wenigstens noch ein paar Pfandflaschen mitnehmen und unterwegs abgeben.
Zu blöd, dass es bei uns mit dem Job zum Zeitungenaustragen neulich nicht geklappt hat. Vielleicht hätte das ja uns allen geholfen, und wir müssten jetzt nicht so Hals über Kopf wegfahren. Auf jeden Fall sollten wir unterwegs noch mal überlegen, ob uns noch andere Auswege einfallen.“ Er drückt Leni seine vier Euro dreißig in die Hand. „Packst du die mit ein?“
Leni nickt. „Klar, mache ich. Und weiter nach Lösungen suchen müssen wir unbedingt. Auch wenn ich im Moment so gar keine Idee habe. Was Ma und Paps sich da überlegt haben, das geht jedenfalls gar nicht!“ Sie gibt sich einen Ruck. „Also gut, los jetzt! Wir ziehen das durch, auch wenn es mir schwerfällt. Ich packe noch schnell etwas zu Essen zusammen. Dann komme ich runter. Trägst du schon die Räder raus?“
Phil nickt. „Ja, mache ich. Und ich hole noch rasch etwas aus dem Keller, was wir brauchen können.“
Geschwind sucht Leni die große grüne Kühltasche, die sie sonst immer zum Picknick mitnehmen. ‚Ah, da
ist sie schon. Gut, dass Ma alles so ordentlich verstaut hat‘, denkt sie erleichtert. Das Kleingeld in ihrer Hand stört Leni beim Packen. Gedankenverloren schiebt sie die Münzen in eine kleine Reißverschlusstasche außen an der Kühltasche. Endlich hat sie beide Hände frei. Rasch packt sie Gemüse, Obst, Kekse und Müsliriegel sowie Margarine und Aufschnitt in die geräumige Tasche. In der Tiefkühltruhe findet sie sogar ein großes Toastbrot. Leni nickt zufrieden. ‚Das wird schon mal für gut eine Woche reichen. Wenigstens ums Essen müssen wir uns keine Sorgen machen. Nun noch das Plastikbesteck.‘ Auch das landet vorn beim Geld, zusammen mit etwas Küchenrolle. Sorgfältig verschließt Leni den kleinen Reißverschluss wieder. ‚Damit nichts rausfällt. Geld und Besteck sind wichtig!‘
Dann fasst sie eilig den großen Reißverschluss der Kühltasche. Doch die inzwischen über den Rand volle Tasche zickt. Prompt bleibt der Reißverschluss stecken. Egal, wie sehr sie daran ruckelt und zieht, nichts geht mehr. Schließlich sieht Leni es ein. So wird das nichts. ‚Okay, ich habe dich zu sehr vollgestopft. Lass mal sehen ...‘
Prüfend inspiziert sie die Lage. ‚Klarer Fall. Damit es eine Chance gibt, dass die Tasche zugeht, muss irgendetwas wieder heraus.‘ Eilig greift sie ein paar Sachen und stopft sie in ihre Jackentasche. Jetzt ein erneuter Versuch.
Na also! Endlich geht der Reißverschluss knapp zu. Dann nichts wie los! ‚Oh nein, ich habe die Pfandflaschen vergessen.‘ Hektisch schaut sie sich um. ‚Da, drei, nein, vier Stück. Mehr sind es nicht? Egal. Wir müssen los.‘ Sie greift einen Stoffbeutel und schiebt die leichten Plastikflaschen hinein.
Beim Rausgehen nimmt Leni noch ihren guten Fotoapparat und zwei Wasserflaschen mit. Phil wartet schon unten bei den Rädern. Er hat eine kleine Rolle fleckigen Stoff und eine Rolle Plastiksäcke hinter seinem Schlafsack auf dem Gepäckträger verstaut. Leni schaut ihn irritiert an.
„Was soll das denn? Willst du irgendwo renovieren?“
Phil grinst. „Nein, das sind alte Stoffreste auf einer Rolle, die unten mit einer Folie beschichtet sind. Man nennt es Malervlies. Damit schützt man den Boden beim Renovieren. Paps hatte das beim Streichen unseres Zimmers benutzt, erinnerst du dich?“ Leni nickt langsam.
„Das nehmen wir als Unterlage, damit es nicht so kalt und feucht wird.“
Skeptisch schaut er auf die Kühltasche. „Puh, ist die groß. Die wirst du
allein auf den Gepäckträger nehmen müssen. Die kriegen wir nicht zusammen mit deinem Schlafsack befestigt. Und was machen wir mit der Stofftasche?“
Er hebt die schwere Kühltasche auf Lenis Rad. Leni klemmt sie gerade noch mit dem Gepäckbügel fest. Dann bastelt er irgendwie die Stofftasche noch dran und bindet sie sicherheitshalber am Griff der Kühltasche fest. Es ist ziemlich knapp. Phil runzelt die Stirn und schaut zweifelnd zu Leni hinüber. „Das müsste hoffentlich halten. Vorausgesetzt, dass du kein Rennen fährst.“
Sie grinst. „Keine Sorge, ich fahre eh vorsichtig.“
Phil quetscht Lenis Schlafsack noch mit auf seinen Gepäckträger. Die Wasserflaschen und der Fotoapparat passen eben noch in ihre Rucksäcke. Endlich sind sie startklar und rollen vom Hof.
Hinein ins Ungewisse.
WIEDERSEHENSFREUDE,
SCHRECKMOMENTE & COMPUTERSORGEN
Am Nachmittag rund zehn Kilometer weiter südlich an einem Waldparkplatz. Die Sonne brennt jetzt richtig vom Himmel.
„Endlich Ferien! Sommercamp, wir kommen!“, jubelt Emma und winkt ihrem wegfahrenden Vater noch kurz hinterher. Eben hat er die Kurve erreicht, hinter der sie ihn nicht mehr sehen kann. Emma lässt langsam die Hand sinken und will sich gerade zu ihren Freundinnen umdrehen. Doch da: Wie aus dem Nichts blitzen plötzlich die roten Bremslichter seines Wagens auf. Laut quietschen die Bremsen. Der Schall der Hupe dröhnt durch den Wald. Laut genug, als wolle er sämtliche Waldbewohner auf einmal aufschrecken. Erschrocken fahren alle herum. Gerade noch sieht man zwei Jugendliche auf voll beladenen Rädern. Beide schlingern und schwanken bedrohlich. Einer von beiden hat merklich Mühe, nicht vom Rad zu fallen. Doch er fängt sich wieder und rast rasch davon. Sekunden darauf sind sie in Richtung Waldweg verschwunden. Emma setzt sich schon in Bewegung, um hinüberzulaufen. Doch einen Augenblick später, als er sich vergewissert hat, dass es keine Verletzten gab und die beiden Verursacher weg sind, fährt ihr Vater weiter.
Emma ist vor Schreck ganz weiß im Gesicht geworden. „Beinahe wären die meinem Dad direkt vors Auto gefahren. Wie konnten die bloß so plötzlich aus dem Wald auftauchen?“, flüstert sie geschockt. Mit tonloser Stimme murmelt sie: „Gott sei Dank ist alles gut gegangen.“ Dann bricht es auf einmal aus ihr hinaus. „Puh, das war vielleicht knapp. Haben die etwa keine Augen im Kopf? Wie gefährlich war das denn! Nicht auszudenken, was da alles hätte passieren können. Gut, dass mein Dad so schnell reagiert hat.“ Sie kriegt sich kaum noch ein. Ihre Freundinnen nicken betroffen und versuchen, sie zu beruhigen.
Doch Emma ist immer noch außer sich und schnappt nach Luft. Jule sagt einfühlsam: „Ja, wie gut, dass da nichts passiert ist. Das hätte echt böse