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Buck Storm

Das Licht

Best.-Nr. 271838

ISBN 978-3-86353-838-5

Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg

Best.-Nr. 180225

ISBN 978-3-85810-607-0

Verlag Mitternachtsruf, www.mnr.ch

Titel des amerikanischen Originals: The Light

© Copyright 2020 by Buck Storm. All rights reserved.

Es wurden folgende Bibelübersetzungen verwendet: Elberfelder Bibel 2006 © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen. NeÜ bibel.heute

© 2010 Karl-Heinz Vanheiden und Christliche Verlagsgesellschaft Hervorhebungen in kursiv oder fett durch den Autor.

1. Auflage

© 2023 Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg www.cv-dillenburg.de

Übersetzung: Svenja Tröps Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg Umschlagmotiv: © Shutterstock.com/JLekavicius Öllampe im Innenteil: © Shutterstock.com/ Nata_Alhontess

Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany

Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gerne kontaktieren: info@cv-dillenburg.de

Vorwort des deutschen Herausgebers

Liebe Leser,

vor Ihnen liegt ein weiterer historischer Roman, der zur Zeit des Neuen Testamentes spielt.

Wie bei jedem historischen Roman geht es hier um Fiktives (was der Autor um der Erzählung willen erfunden hat) und um Historisches – alles spielt im großen historischen Rahmen der Zeit des Neuen Testamentes. Hintergrund dafür sind Aussagen des Neuen Testamentes und anderer historischer Quellen aus der Zeitgeschichte von damals.

Wenn Sie „Die Liste“ vom selben Autor bereits gelesen haben, wird Ihnen auffallen, dass sich der Autor in „Das Licht“ noch größere dichterische Freiheit genommen hat. Besonders Randfiguren des Neuen Testamentes werden ausgeschmückt und bekommen ein gewisses Eigenleben. Auch wird man vielleicht manche historische Ungenauigkeit feststellen. Aber das Buch erhebt keinen Anspruch auf Exaktheit. Es ist ein Roman, kein Sachbuch.

Eine Stärke von „Das Licht“ liegt in der Atmosphäre, die es schafft: So könnte es tatsächlich gewesen sein. Könnte! Paulus wird in der Apostelgeschichte mit folgender Aussage zitiert: „Das alles hat sich ja nicht in irgendeinem Winkel abgespielt“ (26,26; NeÜ). Und genau diesen Aspekt malt uns der Autor von „Das Licht“ vor Augen: die Welt zur Zeit des Neuen Testamentes. Und dabei macht er uns das Ausmaß des Werkes unseres Herrn Jesus neu deutlich, indem er uns hilft – wie in „Die Liste“ –, gedanklich in die Welt von damals einzutauchen.

Für manchen Leser wird er dabei die „geheiligte Vorstellungskraft“ etwas sehr ausreizen. Aber das ist bei Romanen oft der Fall. Das Buch soll ja nicht die Bibel ergänzen oder gar ersetzen. Der Autor will uns lediglich die Zeit von damals lebendig werden lassen und zeigen, dass Gott jeden Menschen erreichen kann, egal, wie scheinbar wertlos oder fromm, wie verzweifelt oder hasserfüllt er sein mag.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre, die Sie neu zu den Originaltexten selbst führen kann: der Heiligen Schrift, der Bibel, die allein maßgeblich für uns ist.

Der Verlag, im Frühjahr 2023

Jerusalem, im Jahr 33 n. Chr.

Schwärze.

Er blinzelte mit den Augen, öffnete sie weit und starrte wie in ein Tintenfass. Nichts.

Dickes, schweres schwarzes Nichts.

Er hob eine Hand vor das Gesicht und bemühte sich vergeblich, sie zu sehen. Er berührte mit den Fingern seine Augen. Wie konnte ein Ort so gänzlich ohne Licht sein?

Er lag auf dem Rücken auf einer harten Oberfläche, so viel konnte er feststellen. Er streckte die Hände von sich. Stein, kalt und rau.

Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen?

Sorgfältig durchforstete er seinen Verstand, sein Gedächtnis, aber er konnte kein Ereignis finden, das zu diesem Albtraum führte.

Seine eigene Stimme schreckte ihn auf. „Hallo?“

Keine Antwort. Er versuchte es erneut, dieses Mal lauter.

Denk nach! Konzentriere dich! Was ist passiert?

Aber je mehr er sich bemühte, desto mehr Verwirrung entstand in seinem Kopf.

Seine Gedanken waren wie Fische in einem schnell fließenden Strom, die er mit bloßen Händen zu ergreifen versuchte. Jedes Mal, wenn er einem nahe kam, schlug der einen Haken und schoss zurück in die trüben Tiefen seines Unterbewusstseins.

Mit einem Ruck wurde ihm klar, dass er vielleicht tot war. Aber wie? Und seit wann? Er konnte sich nicht ans Sterben erinnern. Aber konnte man sich überhaupt daran erinnern? An den letzten Atemzug? Woher sollte er das wissen? Erschrocken über diese

Vorstellung versuchte er, sich aufzusetzen, aber ein brutales Pochen in seinem Kopf verursachte ihm Übelkeit und Schwindel, sodass er wieder auf den Rücken fiel.

Er versuchte, sich zu beruhigen, indem er seine Atemzüge zählte, aber er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen und musste immer wieder von vorne anfangen. Wie lange er das tat, wusste er nicht. War das wichtig? Was bedeutet Zeit schon, wenn man tot ist?

Schließlich schaffte er es, hundert Atemzüge hintereinander zu zählen, dann versuchte er erneut zu rufen. „Was ist das für ein Ort? Was ist hier los? Wo bin ich?“ Keine Antwort außer dem harten Widerhall seiner eigenen Stimme, der ihm entgegenschlug.

Er versuchte, noch einmal bis hundert zu zählen, verlor aber irgendwann nach sechzig das Bewusstsein. Einige Zeit später wachte er auf, schweißgebadet und bis auf die Knochen durchgefroren. Panik stieg in ihm auf.

Er schrie, bis ihm die Stimme versagte, und selbst dann brabbelte er im Flüsterton weiter vor sich hin. Noch nie im Leben war er so durstig gewesen. Er versuchte zu schlucken, konnte es aber nicht. Er zitterte und kauerte in einer Fötusstellung. Wenn er tot war, war dies sicherlich der Hades. Nichts als Schwärze. Keine Sonne, kein Mond, keine Sterne ... Und kein Geräusch außer dem wilden Pochen seines Herzens.

Bis er etwas hörte.

Vielleicht hatte er geschlafen, er war sich nicht sicher, aber dann nahm er Geräusche wahr. Schritte, schwer und unregelmäßig, in einiger Entfernung, aber sie kamen näher. Er drückte sich mit Händen und Füßen gegen den Stein und entfernte sich von dem Geräusch, wobei er sich sofort hundert Arten von Teufeln vorstellte. „Wer ist da?“, röchelte er.

Die Schritte hielten an. Ein dumpfer Schlag, ein Scharren, etwas Schweres bewegte sich, und hundert Sonnen schlugen einen Schmiedehammer auf seinen schmerzenden Kopf. Er hob beide Hände, um die Augen vor dem blendenden Licht zu schützen. „Was ist? Was willst du?“

„Gut, du bist wach.“ Die Stimme eines Mannes.

Vorsichtig ließ er die Hände sinken, blinzelte in den Ansturm des Lichts und gestattete seinen Augen, sich daran zu gewöhnen. Keine hundert Sonnen, nur eine einzige Fackel, die ihr flackerndes Licht warf auf die Steinwände einer ... ja, einer was? Einer Höhle?

Einer Zelle?

Der Sprecher trat näher in den Raum, und die Flamme verriet seine Gestalt. Er war hager, gebeugt und hatte breite Augenbrauen. Er trug den schweren Mantel und den Turban eines Pharisäers und hatte sein Gewand zum Schutz vor der Kälte eng um sich geschlungen. Seine Finger waren lang und von harter Arbeit gezeichnet. Er hielt die Fackel etwas höher und blickte mit großen, schwarz glänzenden Augen nach unten. „Hm, du hast schon besser ausgesehen, da bin ich mir sicher. Man sagte mir, du seist ein reicher Mann.“

„Was ist das für ein Ort?“

„Für dich? Der tiefste Teil des Hades, fürchte ich.“

„Ich dachte, ich wäre tot.“

„So könnte man es durchaus sehen, aber das wird sich noch herausstellen. So wie die Dinge liegen, würde ich genau darauf meine Schekel setzen.“

„Wettest du oft?“

„Nein.“

„Was will man von mir? Warum bin ich hier?“

„Ah, das ist eine gute Frage, nicht wahr, Josef von Arimathäa?“

Josef von Arimathäa. Ja. Seine Gedanken ordneten sich. Erinnerungen kehrten in Windeseile zurück. Aber immer noch begriff er nicht, wie er hergekommen war. „Ariella. Wo ist meine Gemahlin?“

Der Mann zuckte mit den Schultern. „Irgendwo wird sie sein. Glaub mir, im Moment ist sie nicht deine größte Sorge.“

Josef zwang sich in eine aufrechte Position. Sein Magen krampfte sich zusammen, aber er ignorierte es. „Was ist hier los?“

„Tja. Das ist eine gute Frage, nicht wahr? Steh auf! Es ist Zeit zu gehen.“

„Wohin soll ich gehen? Wo bin ich hier? Was ist das für ein Ort?“

„Steh auf!“

„Nein. Nicht, bevor ich ...“

Der Tritt kam aus dem Nichts und fühlte sich an wie aus Stahl. Josef prallte zurück, Sterne tanzten ihm vor den Augen.

Der Mann trat vor und ging vor ihm in die Hocke. „Ich glaube, ich muss dir die Regeln erklären, Josef von Arimathäa. Und da es eigentlich nur eine Regel gibt, ist sie leicht zu merken. Bist du bereit?“

Josef war kurz davor, wieder das Bewusstsein zu verlieren, und sein Kinn fiel ihm auf die Brust. Eine scharfe Ohrfeige ließ Blitze durch sein Blickfeld huschen. „Komm zurück, jetzt ist keine Zeit für ein Nickerchen!“ Der Mann packte Josefs Gesicht mit seiner freien Hand. „Jemand daheim? Kannst du mich hören? Gut! Also, Regel Nummer eins: An diesem Ort bestimme ich die Regeln. Du gehorchst, weil du keine andere Wahl hast. Und jetzt noch einmal: Steh auf!“

Einen Tag zuvor

Josef von Arimathäa stand auf der Dachterrasse seines prächtigen Hauses. Da es sich mitten auf dem Berg Zion befand, durfte er eine Aussicht genießen, die auf der Erde ihresgleichen suchte –vor ihm breitete sich Jerusalem in seiner ganzen Pracht aus. Auf der anderen Seite, jenseits des tiefen Tals der Käsemacher, wachte der Tempel Gottes unerschütterlich auf der Spitze des Berges Morija und funkelte wie ein riesiger Diamant im hellen Morgenlicht. Hundert Ellen hoch, weitere hundert breit, gefertigt aus hellem Jerusalem-Stein, überzogen mit reinem Gold, für ihn das größte Weltwunder. Wie oft hatte er diesen morgendlichen Anblick bereits genossen? Er beugte sich vor und stützte die Unterarme auf die Brüstung der Dachterrasse. Rechts vom Tempelberg, vorbei am Hippodrom und der David-Stadt, waren Schafe auf dem Ölberg zu sehen. Aus dieser Entfernung sahen sie aus wie weiße Ameisen. Vier Stockwerke unter ihm waren die breiten Straßenzüge von Jerusalems wohlhabender Oberstadt zu dieser frühen Stunde fast menschenleer. In der klaren Frühlingsluft begleitete das Geräusch plätschernder Brunnen das Pfeifen eines Brotverkäufers und die knarrenden Räder des Wagens, den er schob. Eine Frau trat durch eine Tür eines der Innenhöfe hinaus, rief den Händler zu sich und winkte mit einer Münze in der Hand.

Heller Kalkstein, breite Alleen, ein Meer von Grünpflanzen, das über Mauern wucherte – das war die Oberstadt in ihrer ganzen Pracht, das Jerusalem der Wohlhabenden. Der Reichen und Mächtigen. Am westlichen Rand des Viertels ragten die vier Türme des Palastes von König Herodes hoch über ein weitläufiges Gelände,

ein Bauwerk von einer Pracht und einem Luxus, der außerhalb Roms unerreicht war. Gleich südlich und östlich von Josefs Sitzplatz warfen große Gebäude tiefen Schatten auf Häuser und Geschäfte. Etwas weiter weg wirbelte Staub vom Hippodrom auf, als die Trainer die Pferde der Streitwagen im frühmorgendlichen Galopp antrieben.

Ein wunderschöner, ganz gewöhnlicher Tag in Jerusalem. Bald würden sich die Straßen füllen. Man würde Geschäfte machen. Die Menschen würden betriebsam hin und her eilen. Keiner von ihnen würde den Sturm von Traurigkeit und Verunsicherung bemerken, der in Josefs Herz tobte.

Ein Windstoß zerrte an seinem Gewand, und seine Fäuste ballten sich. Er sehnte sich nach einem Ausritt. Nach dem Geschwindigkeitsrausch. Sollte doch der Wind seinen Körper und sein Denken auspeitschen und den Schmerz der letzten Tage aus seiner Seele waschen. Aber tief in seinem Herzen wusste er, dass Reiten nicht helfen würde. Nichts würde helfen. Jeschua, der Sohn Gottes, der Retter Israels, wäre immer noch tot, gestorben durch die Hand der Römer. Grausam ausgepeitscht und an ein Kreuz genagelt, eine schlimm anzusehende Gestalt aus Blut und blanken Knochen, die dem Himmel, der Sonne und den Fliegen preisgegeben war, während der Sanhedrin ihn verspottete und verhöhnte. Der Sanhedrin. Die Elite Israels. Genau das Leitungsorgan, zu dem er, Josef, gehörte. Oder zumindest war er ein Teil davon gewesen, bis Jeschua in seine Welt eingedrungen war. Jeschua hatte alles verändert. Jeschua bot einem Mann keine Grauzonen. Jeschua mit seinen Worten wie Peitschen und Augen, die das ganze Universum gesehen hatten. Jeschua mit seinen Wundern und seinem Lachen und seinen sonnengebräunten Händen. Jeschua mit seiner Liebe. Jeschua, abgelehnt und getötet von genau denen, um deren Rettung willen er gekommen war.

Oh, Gott, was haben wir getan?

Josef ließ seinen Blick über das Kidrontal und hinüber zur Wüste schweifen und erinnerte sich an den nächtlichen Ritt, mit dem alles begonnen hatte. Der Schafhirte und sein Lied ... Es war jetzt mehr als drei Jahre her, aber er erinnerte sich noch an jedes Detail. Das Lagerfeuer, das leise Getrappel der Schafe auf den

dunklen Hügeln, der starke Nachgeschmack des Bauerngesöffs auf seiner Zunge ... Und die Geschichte des alten Mannes von einem Säugling.

Vor dreißig Jahren, hatte der alte Hirte gesagt – vor dreißig Jahren hatte er die Engel gesehen. Vor dreißig Jahren hatte er das Kind gesehen, den Verheißenen Israels. Die Geburt des gewaltigen Messias, der sein Volk von seinem Leid erlösen würde. Damals hatte Josef noch gespottet. „Und wie heißt dieser Messias?“ Mit mildem Sarkasmus hatte er den alten Mann herausfordern wollen. Aber der Hirte hatte nur über die Flammen des Lagerfeuers hinweg gelächelt; seine dunklen Augen funkelten. „Ich denke, du wirst ihn noch früh genug hören. Ich denke, du wirst seinen Namen so oft hören, dass du keine andere Wahl haben wirst: Du wirst ihn entweder verfluchen oder vor ihm auf die Knie fallen ...“ Als Josef später in jener Nacht den Heimweg angetreten hatte, begann der Hirte zu singen; er rief seine Schafe von den Hügeln, sammelte sie, tröstete sie. Josef hatte es damals nicht verstanden, aber diese sanfte, betörende Melodie hatte ihm Tränen in die Augen getrieben, denn die zarten Finger der Schönheit dieser uralten Melodie berührten etwas im Innersten seiner Seele, das zerbrochen war.

Und das Lied ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, auch lange nachdem er weitergeritten war.

Tage und Wochen und selbst Jahre später hallte das Lied in seinen Träumen nach und beanspruchte seine Wachphasen. Es flüsterte während der morgendlichen Ratssitzungen. Es flackerte im Lampenlicht, wenn Josef um Mitternacht über Schriftrollen brütete. Es bestimmte den Takt seiner Füße, wenn er durch die Straßen Jerusalems ging. Aber auf diesen nächtlichen Ausritten, wenn die Stimmen der Menschen und die Monotonie des Lebens ihn nicht länger ablenkten und störten, dann erklang das Lied in voller Lautstärke. Wild, erhebend und freudig erfüllte es die Wüste, hämmerte in den Schluchten und ließ die Sterne erzittern.

Das Lied hatte geflüstert und gestöhnt in jener schrecklichen Nacht im Garten, als sie Jeschua verhaftet hatten.

„Ich bin“, hatte Jeschua gesagt. „Ich bin.“

Das Lied ... unvergesslich, anziehend, beharrlich.

Immer das Lied.

Ich bin es ...

Wie der alte Hirte es prophezeit hatte, beugte Josef in jener Nacht im Garten die Knie. Er würde nie wieder spotten. Nie wieder.

„Du bist heute Morgen mit deinen Gedanken ganz schön weit weg.“ Ariella erschien an seiner Seite.

„Und du kannst dich ganz schön leise anschleichen für eine schwangere und watschelnde Gemahlin.“

Ihr Lächeln erreichte ihre Augen und erhellte seine Stimmung. Die Morgensonne schimmerte in dem dunklen Haar, das ihr Gesicht umrahmte. Ihre glatte und strahlende Haut errötete. „Ich watschele ganz bestimmt nicht, mein lieber Gemahl. Man sieht ja noch gar nichts. Und das wird wohl auch noch etwas dauern. Und eins will ich dir ganz klar sagen: Selbst wenn ich einen Elefanten in mir tragen würde, würde ich niemals watscheln.“

Josef lachte. „Nein, das würdest du nicht, ganz sicher.“ Er zog sie in seine Arme und hielt sie fest, genoss die Wärme ihres Körpers, ihren Atem an seiner Brust. „Sieh dir den Himmel an! Die Sonne geht auf, aber es ist eine neue und andere Welt, auf die sie heute herabblickt.“

Ihre zarten Schultern hoben sich. „Wir haben eine Entscheidung getroffen. Und es ist die richtige Entscheidung. Was auch immer geschieht, darauf können wir uns verlassen. Du hast die Ehre Gottes und die Wahrheit gewahrt. Und ich bin stolz darauf, deine Frau zu sein.“

„Sie werden versuchen, uns alles zu nehmen.“

„Versuchen?“

„Ich bin nicht völlig hilflos. Und ich werde nicht den Schwanz einziehen und davonlaufen. Was auch immer sie vorhaben. Was auch immer sie versuchen, ich werde für uns kämpfen. Sie werden sich für das, was sie uns stehlen wollen, ins Zeug legen müssen.“

„Josef, nichts ist wichtiger als unsere Familie. Alles andere dürfen sie haben.“

„Da stimme ich dir voll und ganz zu. Unsere Familie zusammenzuhalten ist das Wichtigste. Aber ich werde nicht einfach alles aufgeben. Dafür habe ich mir das alles zu hart erarbeitet.“

Der Brotverkäufer in der Straße unter ihm nahm seine Arbeit auf; seine Rufe klangen melodisch und hallten von den Wänden wider.

Josef spähte hinunter. „Tubia ist heute Morgen groß in Form.“

„Er ist gestern Abend Großvater geworden. Ein kleiner Junge. Er hat es Jaffa erzählt, als sie das Brot fürs Frühstück gekauft hat.“

„Ah, schön für ihn. Apropos Jaffa und Frühstück, wir sollten wohl runtergehen.“

Ariella löste sich mit einem Seufzer aus Josefs Umarmung. „Sie ist in letzter Zeit übertrieben fürsorglich. Sie schimpft mit mir wie mit einem kleinen Mädchen, wenn ich mich auch nur bewege.“

„Sie ist eben mehr als nur eine Haushälterin. Eher wie die Mutter, die du nie hattest. Und ich bin froh darüber. Ich mache mir Sorgen um dich.“

Ariella lächelte. „Das brauchst du nicht. Die Frau macht sich genug Sorgen für uns alle.“

„Entschuldigt, Herr?“ Abner, Josefs oberster Knecht und Jaffas Ehemann, stand am Treppenabsatz.

Josef nickte. „Ja, ich weiß. Frühstück. Bitte sage Jaffa, dass wir unverzüglich kommen!“

„Das ist es nicht, Herr. Es ist gerade eine Nachricht eingetroffen. Der Sanhedrin erwartet Euch.“

Josef runzelte die Stirn. „Der Rat? Zu dieser Stunde?“

„Es scheint so, Herr.“

„Gut, Abner. Ich danke dir. Ich komme in einer Minute runter. Bitte halte einen Umhang bereit.“

Der Diener neigte den Kopf und verschwand die Treppe hinunter.

Josef blickte zum Tempel hinüber. „Es ist also so weit. Ich hatte gehofft, wir hätten etwas mehr Zeit.“

„Sie werden gegen dich vorgehen? So schnell?“

„Das ist es wohl. Jeschua ist noch nicht in seinem Grab erkaltet, und dein Vater ist bereits dabei, eine Rechnung zu begleichen.“

Ariellas Gesichtszüge spannten sich an. „Mein Vater ist eine Landplage. Ich wünschte, er würde aus unserem Leben verschwinden und nie mehr wiederkommen.“

„Dem kann ich mich nur aus vollem Herzen anschließen. Du verdienst mehr. Er ist dir überhaupt kein Vater gewesen. Männer wie er kennen nur ihre Machtgier. Aber er ist immer noch Vizepräsident des Rates. Kaiphas hat ein offenes Ohr für ihn, und ich werde ihm nicht aus dem Weg gehen können, zumindest im Moment nicht, ob es dir gefällt oder nicht.“

„Geh du nur, ich werde beten“, sagte Ariella. „Du hast das Richtige getan. Gottes Wille in dieser Sache wird geschehen.“

Er umarmte sie erneut. „Es werden harten Zeiten für uns anbrechen. Es tut mir leid.“

„Solange wir zusammen sind, ist mir alles andere egal.“

Sie stiegen die vier Stockwerke vom Dach hinunter. Das Haus mit seinen dicken steinernen Mauern war kühl, fast kalt. Josef hatte keine Zeit, seine private Mikwe zu besuchen und ein rituelles Bad zu nehmen. Aber selbst, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er noch sieben Tage lang als unrein gegolten, da er Jeschuas Leichnam berührt hatte. Daran konnte man nichts ändern. Erstaunlicherweise machte dieser Gedanke ihm wenig aus. Er hatte Jeschuas blutigen Körper vom römischen Kreuz genommen, ihn in seinen Armen getragen und mit Nikodemus’ Hilfe in sein persönliches Grab gelegt. Und er würde es wieder tun. Ohne zu zögern und ohne es zu hinterfragen.

In der Eingangshalle umarmte Ariella ihn. „Vergiss nicht, was wirklich wichtig ist! Materielle Dinge sind mir egal. Aber ich will, dass du bei mir bist und in Sicherheit.“

Er drückte sie sanft von sich, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr fest in die Augen. „Ich habe deinem Vater schon einmal die Stirn geboten und werde es auch dieses Mal tun. Und das gilt auch für Kaiphas. Wir stehen auf der Seite Gottes. Selbst wenn die Dinge hoffnungslos erscheinen, ist seine Position immer noch die mächtigste. Bitte entschuldige meine Abwesenheit beim Frühstück gegenüber Jaffa!“ Er zog sie wieder an sich und küsste sie auf die Stirn, bevor er sie losließ. Abner erschien mit dem Mantel und hielt ihn, während Josef in die Ärmel schlüpfte.

„Was denkst du, wie lange wirst du weg sein?“, fragte Ariella.

Josef zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich denke, sie werden kurzen Prozess machen. Aber beim Sanhedrin kann man das nie so genau wissen. Sie lieben den Klang ihrer eigenen Stimmen. Bitte mach dir aber wegen mir keine Sorgen!“

„Wir werden auf Gott vertrauen, Herr. Alles wird gut werden“, sagte Abner.

Josef legte dem Mann die Hand auf die Schulter, eine ungewöhnliche Geste von Vertrautheit. Aber was war noch gewöhnlich seit Jeschua? „Das werden wir. Aber viele unserer Väter haben auch vertraut, und trotzdem war nicht immer alles einfach. Ich fürchte, das wird auch bei uns so sein.“

„Was auch immer geschieht, meine Familie wird fest an Eurer Seite stehen“, sagte Abner.

Die Hingabe des Mannes rührte ihn. Josef lächelte. „Ich weiß das zu schätzen, mein Freund. Aber ich werde auch nicht auf deinen Worten beharren. Es wird schlimmer werden, bevor es besser wird, und du musst an deine eigene Familie denken. Trotzdem, wir wollen tun, was wir können. Und es ist ein Segen für mich, dich an meiner Seite zu wissen.“

Der Diener hob die Hand und klopfte auf die von Josef. „Gott ist Gott. Er wird für uns sorgen.“

„Und wir sind nicht Gott, oder? Ja. Also gut. Wir werden vertrauen.“ Mit einem letzten Kuss für Ariella verließ Josef den Raum und eilte die Treppe hinunter. Am Fuß der breiten Außentreppe hielt er am Brunnen an und bespritzte sich das Gesicht mit Wasser. Eine neue Welle der Beklemmung durchlief ihn. Gegenüber Ariella hatte er sich tapfer gegeben, aber das Leben in Luxus und Leichtigkeit, das sie in Jerusalem geführt hatten, war vorbei, dessen war er sich sicher. Auf die eine oder andere Weise würde der Sanhedrin ihnen alles wegnehmen. Sie würden aus jedem, der mit Jeschua in Verbindung stand, einen Ausgestoßenen machen. Die einzige Möglichkeit, die ihm einfiel, um seinen Lebensunterhalt und sein Haus zu retten, wäre, Jeschua zu verleugnen. Aber er könnte genauso gut den Sonnenaufgang leugnen. Oder Ebbe und Flut. Oder seinen eigenen Atem. Denn Jeschua hatte Josef sogar in seinem Tod das wahre Leben gezeigt.

„Nein, das wirst du nicht.“ Die vertraute schroffe Stimme zog Josefs Aufmerksamkeit auf sich. Davi, Josefs langjähriger Freund und rechte Hand, trat aus der Stalltür.

„Was werde ich nicht?“, fragte Josef.

„Du wirst dieser Meute von Schakalen nicht ohne mich entgegentreten. Nicht bei alldem, was gerade passiert.“

„Und woher wusstest du, dass ich auf dem Weg zum Rat bin?“

Davi grinste. „Weil ich bin, der ich bin. Was weiß ich nicht? Wie lange kennen wir uns nun schon? Ich bin überrascht, dass du überhaupt fragst.“

Davi war ein gedrungener Mann. Einer, der in der einen Sekunde hart wie Stein sein konnte und in der nächsten jedem in seinem Umkreis ein Lächeln entlockte. Sein faltiges Gesicht war von Wind, Sonne und den Strapazen des Lebens verwittert. Eine tiefe Narbe verlief von seinem linken Mundwinkel bis zum Ohrläppchen und stammte aus einer Zeit, in der er als Söldner für die Karawanen der Handelsrouten gearbeitet hatte. Er war Josefs engster Freund, seit sie sich als Jungen in den Dorfstraßen von Arimathäa, nördlich von Jerusalem, kennengelernt hatten. In jenen frühen Tagen hatten sie – beide Waisenkinder – ihre eigene zweiköpfige Familie gegründet – Brüder im Geiste, wenn auch nicht dem Blut nach. Als Davi erwachsen wurde, war er umhergezogen und hatte Arbeit als Söldner gefunden – ein Beruf, der perfekt zu seiner knallharten und ungeschliffenen Lebenseinstellung passte, ganz zu schweigen von seinem hitzigen Temperament. Das Leben hatte auch Josef abgehärtet, aber er hatte einen anderen Weg gewählt. Sein Aufstieg zu Wohlstand hatte an Straßenecken begonnen, wo er Hausfrauen und Landknechten süßen Wein verkaufte, den er aus weggeworfenen Trauben gepresst und hatte gären lassen. Durch Scharfsinn und Mut hatte er es weit gebracht. Josefs Weinberge, die sich mittlerweile über viele Kilometer erstreckten, lieferten den größten Teil des Weins in Israel. Es war Jahre her, dass Davi wieder in Josefs Leben aufgetaucht war. Sein alter Freund hatte um nichts gebeten, und er hatte sich nicht nur als loyal, sondern auch als unschätzbar wertvoll erwiesen, häufiger als Josef sagen konnte.

Josef schüttelte das Wasser von den Händen und trocknete sie an seinem Gewand ab. „Man fordert meine Anwesenheit. Ich habe eine klare Entscheidung getroffen, und ich fürchte, wir alle werden dafür bezahlen müssen.“

Davi lachte brummend. „Na und? Seit unserem Umzug nach Jerusalem sage ich dir, dass sie nichts weiter sind als ein Haufen schreiender Esel. Wenn du die los bist, ersparst du dir eine Menge Kopfschmerzen.“

„Der Platz im Sanhedrin hat unsere hiesige Position gefestigt, Davi. Aber jetzt werden sie versuchen, uns alles zu nehmen. Sie werden keinen Widerstand dulden, weder von mir noch von sonst jemandem.“ Josef hielt inne. „Überleg nur, was sie mit Jeschua gemacht haben! Mein Schwiegervater würde nichts lieber tun, als uns alle auf die Straße zu setzen. Mich betteln sehen. Oder noch schlimmer.“

„Ich habe dich schon oft in Not gesehen, Josef, aber noch nie bettelnd. Wir werden das überstehen.“

„Dein Wort in Gottes Ohr.“

„Hey, wir werden kämpfen, ja? Was auch immer der alte Bock Beryl in seine Klauen bekommt, er wird dafür bluten müssen, glaub mir!“

„Ob wir kämpfen oder nicht, gegen ihre Macht kommen wir am Ende nicht an. Darauf müssen wir uns vorbereiten.“

Davi grinste. „Aber wir werden gekämpft haben. Und aussichtslose Kämpfe gehen manchmal überraschend aus. Selbst wenn sie uns alles nehmen, na und? Wir waren schon öfter arm. Du wusstest, wie riskant eine Entscheidung für Jeschua ist. Was auch immer passiert, du wirst immer noch Ariella und das Kind haben. Ganz zu schweigen von meiner hübschen Visage.“

Josef konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Du und schweigen, das sind zwei Dinge, die nicht zusammenpassen. Jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Aber sag mir, wie willst du einen Schekel verdienen, wenn ich meine Angestellten nicht mehr bezahlen kann?“

„Ohne Geld zurechtkommen, wie ich es immer getan habe. Wie wir es immer getan haben. Ich bin vielleicht nicht immer der beste Jude in Israel, aber ich habe Glauben. Wo ist deiner?“

Josef atmete tief ein und aus. „Du hast recht. Ich gebe zu, ich bereite mich nur geistig auf die bevorstehende Schlacht vor.“

„Ein alter Soldat hat mir mal einen weisen Rat gegeben: Zieh dein Schwert erst, wenn du einen Feind siehst! Schlachten wird es immer geben, aber sieh nicht auf den Horizont! Genieße stattdessen die Sonne auf dem Gesicht und den Wind im Haar! Und schlafe nachts gut! Es ist vielleicht die letzte Möglichkeit in nächster Zeit.“

Josef seufzte. „Mein kriegerisch-philosophischer Freund. Na gut, wir verlassen uns auf den Glauben und auf Gott. Aber du kannst nicht mitkommen.“

„Josef, fang bloß nicht da...“

„Hör mir zu, der Sanhedrin geht gegen uns vor. Also auch Beryl. Davi, ich brauche dich hier. Ohne dich sind Ariella und die anderen ungeschützt. Das kannst du nicht leugnen.“

Davi sah zum Haus hinauf, dann wieder zurück. Er kratzte sich an der Wange und runzelte die Stirn. „Ich verstehe. Du hast natürlich recht. Beryl ist eine Schlange. Aber ich lasse dich wirklich nur ungern allein gehen.“

„Ich wünschte, du könntest an zwei Orten gleichzeitig sein, glaube mir. Aber ich gehe nicht allein, mein Freund. Ich gehe mit Gott. Und mit dem Wissen, dass wir gerecht handeln.“

„Trotzdem, sei vorsichtig! Gott hat dir diese Augen und Ohren gegeben. Er wird es dir nicht verübeln, wenn du sie offen hältst.“

„Ich danke dir, mein Freund. Es ist beruhigend zu wissen, dass du hier sein wirst.“

Draußen auf der Straße begrüßte ihn ein milder, sonnendurchfluteter Morgen, der in direktem Widerspruch zu Josefs Geist und Herz stand. Auf dem Weg zur Brücke wanderten seine Gedanken zu dem Grab im Garten, kalt und dunkel. Und zu der leblosen, in Leinen gewickelten Gestalt. Davi hatte recht. Wo war sein Glaube? Aber war der Glaube überhaupt noch etwas wert, nachdem Jeschua tot war? Wie sollte das Leben nun für diejenigen weitergehen, die neben und zu Jeschua gestanden hatten? Was sollte aus ihnen werden? Sie hatten verloren.

Wie sollte Gott ein Volk ehren, das seinen eigenen Sohn gekreuzigt hatte? Ein Volk, das seine heilige Gabe bespuckt und

geschlagen und sie ihm blutig und zerbrochen ins Gesicht zurückgeworfen hatte? Sicherlich würde er sich nun ein für alle Mal von Israel abwenden. Welche Wahl hatte man ihm gelassen?

Und wenn Gott sein Gesicht abwendet, welche Hoffnung bleibt dann noch für einen Menschen?

Die hoch aufragende Brücke warf einen langen Schatten, als er sich näherte. Dieses Viadukt, das der Elite der Stadt einen ungehinderten Weg zum Tempelberg bot, begann am prachtvollen Palast des Herodes am westlichen Rand Jerusalems, überquerte die Oberstadt des Berges Zion, überspannte das Tal der Käsemacher und mündete mehr als zwanzig Stockwerke über dem Talboden in die Tempelanlage. Es war ein Weg, den Josef bereits tausendmal gegangen war. Normalerweise genoss er ihn. Doch an diesem Morgen fühlte sich jeder Schritt an, als würde er durchs Wasser waten.

Die Sonne stand bereits zwei Finger hoch über dem Ölberg, als er die Brücke verließ und in die kühle Veranda der Säulenhalle Salomos eintrat. Es war noch früh, und zwischen den Festtagen lag das Plateau des Ölbergs – des größten künstlich erbauten Plateaus außerhalb Roms – ruhig und friedlich da. Nur ein paar Dutzend Menschen, die meisten von ihnen Männer, schlenderten über den hellen Steinboden.

Tauben gurrten und flatterten mit hörbarem Flügelschlag dicht unter der Decke hoch oben. Das Echo der Gebete eines einsamen Rabbis hallte von den Kalksteinen wider. In der Mitte des Geländes ragte der Tempel in schwindelerregender Höhe in den wolkenlosen Himmel.

Jachiel, Hauptmann der Tempelwache und Aufseher der levitischen Wache, stand starr neben einer kunstvoll geschnitzten Säule, für die man fünf Männer gebraucht hätte, um sie zu umfassen. Er runzelte die Stirn, als Josef sich näherte. „Ihr habt Euch ganz schön Zeit gelassen. Sie warten in der königlichen Säulenhalle.“

„Wieso dort?“, fragte Josef.

„Ihr seid unrein.“

„Ich bin mit dem levitischen Gesetz vertraut.“

Jachiel zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, Ihr hättet es vielleicht vergessen. So wie Ihr dem Nazarener hinterhergekrochen seid, wer weiß, was in Eurem Kopf vorgeht? Ich soll Euch eskortieren. Folgt mir!“

Die herablassende Art des Mannes ärgerte ihn. „Ich bin immer noch ein Mitglied des Sanhedrins. Ich werde mich nicht wie ein Kind behandeln lassen. Weder von Euch noch von sonst jemandem.“

Ein Muskel in Jachiels Kiefer spannte sich an. „Sanhedrin hin oder her, ich gehorche nur dem Hohen Priester. Ich habe meine Befehle und werde sie befolgen.“

Josef zwang sich zur Ruhe. Er wollte es endlich hinter sich bringen. Es gab wichtigere Schlachten als Jachiels Arroganz. Und die Worte des Mannes waren wahr – auf diesem Berg unterstand der Hauptmann der Tempelwache nur Kaiphas. „Gut. Bringen wir es einfach hinter uns.“

Jachiel nickte, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort vorweg. Josef folgte ihm. Während die Säulenhalle Salomos, die sich entlang der Nord-, Ost- und Westseite der Tempelplattform erstreckte, aufgrund ihrer Pracht Ehrfurcht einflößte, war die königliche Säulenhalle, die sich über die gesamte Länge des verbleibenden südlichen Endes erstreckte, ein wahres Meisterwerk der Baukunst. Das massive Monument diente nicht nur als einer der Haupteingänge zum Tempelberg, sondern auch als zentraler Versammlungsort für das Volk von Jerusalem. Mit mehr als hundertsechzig Säulen, die ihre gewaltige Konstruktion stützten, war die mehrstöckige Halle, gemessen an der Grundfläche, das größte Bauwerk auf dem Tempelberg. Obwohl die unter seiner Herrschaft lebenden Bürger selten ein gutes Wort über Herodes den Großen verloren, waren sie zugegebenermaßen stolz auf seine monumentalen Bauwerke und, abgesehen vom Tempel, besonders auf die Säulenhalle. In ihrem Gewölbe predigten Rabbis vor ihren Jüngern, hielten Schriftgelehrte Vorlesungen, und man führte hitzige Debatten über Auslegungsfragen der jüdischen Lehre. In ihren tiefen und schattigen Nischen wurden politische Vereinbarungen getroffen, Klatsch und Tratsch ausgetauscht und Informationen ge- und verkauft.

Und heute Morgen sah es so aus, als würde der Sanhedrin in der königlichen Säulenhalle alles niederreißen, wofür Josef ein Leben lang geschwitzt und geschuftet hatte.

Sie hatten sich am östlichen Ende versammelt, eine enge Gemeinschaft von Sadduzäern, Pharisäern, Priestern und Schriftgelehrten. Wie es die Tradition vorschrieb, bildete die einundsiebzigköpfige Versammlung einen großen Halbkreis, in dessen Mitte der Nasi, der Vorsitzende, und der Av Beth Din, der stellvertretende Vorsitzende standen – Kaiphas, der Hohe Priester, und Beryl, Josefs Schwiegervater. Die Gruppe verstummte, als Josef sich ihr näherte. Strenges Stirnrunzeln empfing ihn. Er suchte die Gesichter kurz nach Nikodemus ab, fand seinen Freund aber nicht. Zweifellos bereits bestraft und verbannt. Wut stieg in ihm auf, und er ließ es zu, denn er wusste, dass er sie in den nächsten Minuten brauchen würde. Nikodemus war ein gerechter Mann. Ein Wahrheitssuchender, egal, was es kostete. Er hatte sein Bestes getan, um den Rat vor dessen eigener Torheit zu warnen, und eine unumstößliche Prophezeiung nach der anderen vorgelegt, die bewies, dass Jeschua tatsächlich der von Gott verheißene Messias war. Aber vergeblich. Die hier versammelten Männer waren stolze Narren, die der Wahrheit, die direkt vor ihren Augen sichtbar war, beharrlich den Rücken zukehrten.

„Josef von Arimathäa.“ Die Stimme des Kaiphas riss Josef wieder in die Gegenwart.

Josef straffte die Schultern. „Ich bin hier, wie Ihr gut sehen könnt. Sagt, was Ihr zu sagen habt! Tut, was Ihr zu tun habt.“

Kaiphas hob eine ringgeschmückte Hand und zeigte mit dem Finger auf Josef. „Das Erste, was ich zu sagen habe, ist, dass Ihr dem Rat mit Respekt begegnen werdet. Wir sprechen, nicht Ihr, außer Ihr werdet dazu aufgefordert. Habt Ihr verstanden?“

„Ich bin überrascht, dass er überhaupt hier ist“, sagte Beryl. „Ich hätte gedacht, er würde sich in irgendeinem Rattenloch verstecken, wie der Rest der Leute des Nazareners.“

„Ich denke, du kennst mich gut genug, um wissen zu können, dass ich kommen würde, Beryl“, sagte Josef.

„Ich sagte, Ihr sprecht nur, wenn Ihr dazu aufgefordert werdet.“

Kaiphas warf einen Blick auf Beryl und hob eine Augenbraue. „Obwohl er recht hat. Ihr hättet das eigentlich wissen können.“

Beryls Gesicht blieb neutral. „Josef von Arimathäa hat sich den Entscheidungen des Sanhedrins unverhohlen widersetzt. Er hat das

Gerichtsverfahren behindert, um das Leben des Nazareners zu retten. Er hat üble und böswillige Gerüchte verbreitet. Er hat ...“

„Welche Gerüchte habe ich verbreitet?“, fragte Josef. „Im Gegensatz zu dir sind alle Worte, die aus meinem Mund kamen, Worte der Wahrheit.“ Josef blickte auf die versammelten Männer. „Eine Tugend, von der ich früher glaubte, dass sie diesem Gremium etwas bedeutet.“

„Genug!“, rief Kaiphas. „Seid still, alle beide! Wie oft muss ich mich noch wiederholen?“

„Warum lassen wir nicht Josef zu Wort kommen?“, fragte jemand. „Nicht alle von uns waren damit einverstanden, den Nazarener zu töten.“

„Das ist richtig“, sagte ein anderer.

Kaiphas stieß einen übertriebenen Seufzer aus. „Er wird seine Gelegenheit bekommen. Man sollte meinen, dass der Tod des Nazareners alle weiteren Diskussionen in dieser Angelegenheit überflüssig gemacht hätte. Doch wie es scheint, ist er wieder da und stolziert in eine weitere unserer Ratssitzungen. Ich kann mich nicht erinnern, ihn gewählt zu haben, aber selbst als Geist taucht der Mann immer wieder auf.“

„Und er wird für alle Zeiten hierbleiben“, sagte Josef. „Sein Tod ist Euer Vermächtnis, Kaiphas. Deines auch, Beryl. Generationen werden sich an Eure Tat als das erinnern, was sie war – ein Schlag ins Angesicht Gottes.“

Bei diesen Worten brach ein Tumult in der Versammlung aus. Lautes Geschrei schallte durch die Säulenhalle, sodass die Menschen, die im Vorhof der Heiden und noch weiter weg standen, die Köpfe nach ihnen umdrehten. Beryl stand auf und ging auf Josef zu, das strahlende Licht des Sieges in seinen Augen. Er erhob seine Stimme über die anhaltenden Rufe der Ratsmitglieder und beugte sich nahe an Josefs Gesicht heran. „Du lästerst, Schwiegersohn. Du weißt: Wenn du gegen den Hohen Priester sprichst, sprichst du gegen Gott. Wir sind seine Stimme unter den Menschen. Wir sind sein Werkzeug des Gerichts.“

Josef schüttelte den Kopf. „Beryl, es ist erschütternd, dass du das tatsächlich glaubst.“

Beryl drehte sich langsam im Kreis, hob die Hände und forderte zur Ordnung auf. Es dauerte mehr als eine Minute, bis der Tumult so weit abgeklungen war, dass er sich Gehör verschaffen konnte. „Wir werden hier keine Zeit mehr verschwenden. Ich bin sicher, ihr habt alle etwas anderes zu tun.“ Er wandte sich wieder an Josef. „Was hast du zu sagen?“

Josef zog eine Augenbraue hoch. „Was ich zu sagen habe? Ich glaube, das habe ich bereits gesagt. Jeschua, den ihr getötet habt, war der Sohn Gottes, der Verheißene, der von den Propheten angekündigte Messias. Die Heilige Schrift könnte nicht eindeutiger sein. Nikodemus hat versucht, es euch zu erklären, aber in eurem Stolz wolltet ihr nicht zuhören. Ihr habt die Hoffnung Israels genommen – die einzige Hoffnung Israels – und sie an ein Kreuz genagelt.“

Rufe wurden laut, verstummten aber, als Josef nach vorne ging und Beryl zwang, einen Schritt zurückzutreten. „Ich habe deine eigenen Worte vor Pilatus gehört, Av Beth Din. Und sie hallen noch immer in meiner Erinnerung nach, wie sie zweifellos in alle Ewigkeit nachhallen werden.“ Er wandte sich an die Gruppe. „Und wie viele von euch sind dem Beispiel dieses Mannes gefolgt? Auf eure eigene Verantwortung! Hört ihr seine Worte immer noch so wie ich? Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! Ist es nicht das, was er gesagt hat? Was ihr alle gesagt habt? Was ihr gefordert habt? Nun, jetzt ist sein Blut über euch gekommen! Zu eurer Schande und zur Schande von ganz Israel!“

Niemand wusste etwas auf Josefs Worte zu entgegnen. Sie wogen schwer an diesem warmen Frühlingsmorgen. Ein Windhauch strich durch die Säulen und über den Boden. Er zerrte an den Gewändern der Männer und brachte den Geruch von Schafsmist aus dem Tal unter ihnen mit sich.

Alle Augen richteten sich auf Beryl. Seine Gesichtszüge blieben ruhig, aber seine Fäuste waren geballt, und die Knöchel traten blutleer hervor. Als er schließlich sprach, klangen seine Worte förmlich und einstudiert. „Heute ist in der Tat ein trauriger Tag, Josef von Arimathäa. Wenn man bedenkt, dass so viele hier dich einst außerordentlich schätzten, dich für weise hielten und deinen Erfolg

bewunderten. Aber wer hoch hinaufwill, wird umso tiefer fallen, lautet ein altes Sprichwort, nicht wahr? Du hast deine Gedanken geäußert. Du hast nichts zu deiner Verteidigung vorzubringen. Was bleibt einem da noch übrig?“

Josef nickte. „Ich habe alles gesagt. Nun, da dieser Rat nicht länger meine Zeit oder meine Loyalität beanspruchen kann, werde ich mich verabschieden und zu meiner Familie zurückkehren.“

„Wage es nicht, mir den Rücken zuzukehren!“, rief Beryl. „Ich dulde keine Respektlosigkeit. Natürlich schließen wir dich aus dem Sanhedrin aus, das ist selbstverständlich, aber du wirst uns jetzt Rede und Antwort stehen!“

Josef schüttelte den Kopf: „Was faselst du da, Beryl? Ich habe Jeschua verteidigt. Habe für ihn gesprochen und ihm beigestanden. Ich werde also aus dem Amt entlassen, verbannt – schön und gut! Ich will mich nicht verteidigen und mich auch nicht entschuldigen. Ich will mit dem Ganzen hier sowieso nichts mehr zu tun haben.“

„Antworte!“, brüllte Beryl.

„Was antworten? Du hast mich doch gar nichts gefragt! Hast du den Verstand verloren?“

„Muss ich es wirklich noch aussprechen? Was glaubst du eigentlich, warum du hier bist?“

„Um aus dem Rat entlassen zu werden, natürlich! Davon abgesehen habe ich keine Ahnung, wovon du redest. Entweder du stellst deine Frage, oder du lässt mich mein Leben weiterleben.“

Beryl stieß ein ungläubiges Lachen aus. „Und immer noch lügst du! Wo ist er, Josef? Glaubst du wirklich, dass du den Großen Sanhedrin von Jerusalem mit einem Trick täuschen kannst? Ganz Israel zum Narren halten kannst? Und ganz Rom, wenn du schon dabei bist?“

„Bist du völlig verrückt, Schwiegervater? Wovon in aller Welt redest du? Wo ist wer?“

Beryl trat vor. „Wo ist der Leichnam, Josef? Was hast du mit dem Nazarener gemacht?“

Berylstolzierte grübelnd auf und ab.

Das Privatgemach des Kaiphas auf dem Tempelberg war komfortabel eingerichtet. Aus Persien importierte Teppiche verliehen dem polierten Steinboden Wärme und Behaglichkeit. Wandteppiche, die bei den besten Webern in Judäa in Auftrag gegeben worden waren, bedeckten die Wände und zeigten ruhmreiche Ereignisse aus der Geschichte Israels. Kerzen brannten und warfen schimmernde Finger aus Licht. Weihrauch erfüllte den Raum mit dem süßen Duft von Jasmin.

Kaiphas lag an einem niedrigen Tisch und verfolgte Beryls ständiges Hin und Her mit verkniffenem Blick, tauchte Brot in Wein und schlürfte die matschigen Brocken des Breis durch violett gefärbte Lippen. „Ich habe dich ausdrücklich gewarnt; ich hoffe, dass du dir dessen bewusst bist.“

„Mich wovor gewarnt?“ Beryls Antwort war schärfer, als er beabsichtigt hatte.

„Davor, gegen deinen Schwiegersohn zu intrigieren. Ich habe genau an dieser Stelle gesessen und dich gewarnt. Vor drei Jahren. Und seitdem noch viele Male. Josef ist ein Starrkopf. Einer, den man nicht bedrängen darf. Und jetzt hat er alles auf die Spitze getrieben.“

„Ich kann mich an keine Warnung erinnern.“

„Selbstverständlich kannst du das. Und trotz meiner klaren Anweisung hast du ihn nicht nur bedrängt, sondern mit aller Kraft gestoßen.“

„Wer kann sich an etwas erinnern, das drei Jahre her ist?“

„Du, Beryl. Dein selektives Gedächtnis ist ermüdend.“

„Gut, dann hast du mich eben gewarnt. Aber das ändert nichts mehr, meinst du nicht? Was geschehen ist, ist geschehen.“

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